Mit Versprechen ist das so eine Sache. Manche dieser Versprechen würde man am liebsten wieder rückgängig machen oder ganz vergessen. Das muss auch die Hausangestellte Salome der südafrikanischen Familie Swarts in Damon Galguts Das Versprechen feststellen. Denn ein eigentlich versprochenen Häuschen lässt hier lange auf sich warten. Sehr lange.
War Südafrika in den vergangenen Jahren vor allem für seine vielen talentierten Krimiautor*innen wie Deon Meyer, Malla Nunn oder Roger Smith bekannt, ist die übrige reichhaltige Romantradition des Landes dabei fast etwas in den Hintergrund getreten. Aber seit J. M. Coetzee gibt es eine ganze Riege von Schreibenden außerhalb des Krimigenres, die des Lesens lohnen. Jüngstes Beispiel ist dabei Damon Galgut, der 1963 in Pretoria geboren wurde.
Mit 17 Jahren veröffentlichte er seinen ersten Roman, dem Theaterstücke und zahlreiche weitere Bücher folgen sollte, die auch immer wieder für den Booker Prize nominiert waren. Im vergangenen Jahr gewann Galgut dann den wohl wichtigsten Literaturpreis der englischsprachigen Welt mit seinem Roman Das Versprechen.
Südafrika im Umbruch
Darin blickt Galgut auf die wohlhabende Familie Swarts, die im Besitz einer Farm und viel Land ist. Man schreibt das Jahr 1986, Südafrika befindet sich im Umbruch. Noch sitzt Nelson Mandela im Gefängnis, doch auch so kündigen sich große politische Umwälzungen an. Das Apartheidsystem neigt sich seinem Ende zu – und auch die Familie Swarts spürt den Umschwung des Zeitgeists am eigenen Leib.
Nachdem gleich zu Beginn des Buchs Rachel, das weibliche Familienoberhaupt der Swarts, gestorben ist, kommen sie alle zusammen. Amor, Anton und Astrid sowie ihr Vater Manie. Der letzte Wille von Rachel war es, ihrer Haushaltshilfe Salome das von ihr bewohnte Häuschen auf dem Farmgelände zu vermachen. Sie hatte es Salome so versprochen, ihr Mann sollte ihren Willen nun umsetzen. Doch die Umsetzung des letzen Willens lässt auf sich warten.
Jahre werden ins Land gehen, weitere Familienmitglieder der Swarts ums Leben kommen – doch Salome muss auf die ihr eigentlich zustehende Immobilie verzichten. Nur Amor, die jüngste Tochter der Swarts, will sich mit diesem Zustand nicht arrangieren. Immer wieder bohrt sie nach, versucht Salome Recht zu verschaffen. Doch die Familie ist mehr als nur behäbig und so vergeht Jahr um Jahr, ohne dass das Versprechen eingelöst wird.
Ein komplexer und herausfordernder Familienroman
Damon Galgut hat einen herausfordernden und in seiner Erzählstruktur höchst komplexen Familienroman geschrieben, der über Jahrzehnte hinweg den Lebensweg der Swarts-Kinder und die konträren Versuche der Verhinderung beziehungsweise der Einlösung des Versprechens behandelt.
Um seinen Roman zu erzählen, blickt Galgut auf sämtliche Mitglieder der Familie Swarts, lässt einen randständigen Obdachlosen mit Visionen zu Wort kommen, kommentiert, wechselt immer wieder blitzartig die Perspektive teils innerhalb eines Absatzes und gönnt weder sich noch den Lesenden viel Ruhe oder Entspannung. Wörtliche Rede steht unmarkiert im Text und ab und an kippt das Erzählen von Damon Galgut fast in eine Art Bewusstseinsstrom. Das liest sich in der Übersetzung von Thomas Mohr dann manchmal so:
Ich mach das, sagt er. Gib mir ihre Nummer. Einerseits eine leidlich elegante Art, sich aus dieser rührseligen Szene herauszuretten, andererseits verspürt er in sich ein echtes, ergo interessantes Bedürfnis, seiner jüngeren Schwester die Botschaft zu überbringen. Ins Tagebuch notieren, für später. Aber jetzt erst mal raus hier. Inzwischen ist das ganze Haus auf den Beinen. Die Zwillinge Neil und Jessica, sieben Jahre alt, haben sich vom Kummer ihrer Mutter anstecken lassen und weinen bittere Tränen, während Dean hilflos daneben steht und sie anfleht, sich zu beruhigen. Anton zieht sich ans Telefon im Arbeitszimmer zurück, wo es nicht so laut ist. Schweinekalt hier drin, tiefster Winter und die kühlste Tageszeit dazu, kurz vor Sonnenaufgang. Außerdem sehr früh. Noch früher in London, ganze zwei Stunden. Aber eine Nachricht, insbesondere eine schlechte, will nun einmal übermittelt werden, das liegt in ihrer Natur, sie bedarf der Weitergabe, wie ein Virus.
Damon Galgut – Das Versprechen, S. 114
Das ist bisweilen herausfordernd, vor allem weil es so etwas wie eine Leerzeile nach einem Absatz im ganzen Buch nicht gibt. Atemlos hetzt Galgut durch die Geschichte, verschränkt Perspektiven, taucht tief in die so unterschiedlichen Welten seiner Figuren, beobachtet deren Leben und Sterben – und das über einen großen Zeitraum von fast 30 Jahren hinweg.
Neben der Eigenschaft als Familienroman ist Das Versprechen aber auch das Dokument eines Wandels. Das Buch zeigt Südafrika inmitten eines großen Umbruchs, bei dem alten Eliten, wie sie von der weißen und selbstherrlichen Familie Swarts in Teilen verkörpert werden, nicht mehr gelten. All das starre Beharren auf Privilegien und die Überlegenheit der eigenen Existenz mitsamt seinen rassistischen Denken, es kollidiert zunehmend mit einem System im Wandel.
Die schwarze Bevölkerung drängt an die Macht, das System der Apartheid kollabiert – und auch innerhalb der Swarts findet von einer Generation zur nächsten ein Paradigmenwechsel statt. Astrid pflegt eine Affäre mit einem Schwarzen, Amor die Ausgestoßenen und Armen. In den Widersprüchen und den Lebenswegen der jüngeren Swarts zeigen sich die Verwerfungslinien eines ganzen Landes, die bis heute spürbar sind. Und natürlich ist auch das der Hausangestellten gegebene und nicht eingelöste Versprechen eines, das sich auch auf die südafrikanische Gesellschaft und die aufrichtige Beteiligung aller Bürger*innen in Sachen Chancengleichheit und Teilhabe übertragen lässt.
Fazit
Das macht aus Das Versprechen eine doppelt interessant, wenn bisweilen auch sehr herausfordernde Lektüre, für die Galgut völlig zurecht den Booker Prize zugesprochen bekam. Hier spiegeln sich die Entwicklungen einer ganzen Gesellschaft in einer einzigen Familie, werden Brüche und enttäuschte Versprechen erlebbar.
Erschienen ist Damon Galguts Roman neben der regulären Buchhandelsausgabe auch in der Reihe Büchergilde Welt-Empfänger und kann durch eine bibliophile Gestaltung überzeugen. Erhältlich ist es exklusiv für Mitglieder der Büchergilde hier.
Damon Galgut – Das Versprechen
Aus dem südafrikanischen Englisch von Thomas Mohr
Buchgestaltung von Cosima Schneider und Clara Scheffler
Wie sich die Fuggerstadt literarisch entdecken lässt.
Für ein bibliothekarisches Fortbildungsangebot durfte ich einen garantiert virenfreien da digitalen literarischen Spaziergang durch Augsburg konzipieren. Warum aber das Angebot nicht allen Interessierten zur Verfügung stellen? Deshalb hier ein paar Fundstellen zu Augsburg in der Literatur.
Willkommen zu meiner kleinen literarischen Stadtführung durch die Fugger-Puppenkisten-Brecht-Mozartstadt Augsburg, die höchstens ein kursorischer Einstieg in die vielfältige literarische Abbildung und Bespielung der Stadt bleiben muss. Man kann die verschiedenen Stationen des Spaziergangs gerne nachlaufen – oder sich einfach mit der Bereisung der Ort im Kopf begnügen. Alles ist möglich!
Mit Tanja Kinkel in der Annastraße
Wir beginnen unseren Spaziergang in der Annastraße vor einem großen Kaufhaus, das sich auf Outletartikel spezialisiert hat. Von seiner einstigen Bedeutung zeugt nur noch das Eingangsportal. Dieses wird nämlich von einem verschnörkelten Lilienwappen gekrönt, das sich im typischen Stil der Gotik präsentiert. Wohl kaum jemand der hier vorbeieilenden Passant*innen düfte dieser Tür einen zweiten Blick widmen – wobei es sich wirklich lohnt. Denn die Tür weist auf die früheren Besitzer des Hauses hin. Diese haben einen klingenden Namen, dem man an keinem Ort in Augsburg wirklich entkommt: die Familie Fugger.
Diese nutzte das Gebäude am früheren Kitzenmarkt als Verwaltungsgebäude, in dem sich die legendäre goldene Schreibstube befand, von der aus besonders Jakob Fugger den kontinuierlichen Ausbau seines Weltkonzerns betrieb. Den Aufstieg der Fugger und ihre Verbindung mit der Augsburger Stadtgesellschaft thematisiert Tanja Kinkel in einem der größten Historienbestseller in deutscher Spache. Die Rede ist von ihrem Millionenerfolg Die Puppenspieler.
Jakob Fugger, Statue auf dem gleichnamigen Platz in Augsburg
Mit diesem Buch gelang Tanja Kinkel zu Beginn der 90er Jahre einer der ganz großen deutschen historischen Bestsellern. Umberto Eco hatte mit Der Name der Rose den Boden bereitet, Noah Gordon zog mit seinem Medicus nach, ehe Tanja Kinkel im Jahr 1993 bewies, dass Millionenseller mit historischen Stoffen auch in Deutschland möglich sind.
Mit Die Puppenspieler legte sie einen Roman vor, der zur Zeit der oberitalienischen Renaissance spielt und der zu Augsburg nicht nur aufgrund seines Titels hervorragend passt. Der Roman kreist um den Waisenjungen Richard, der im Haus von Jakob Fugger aufgenommen wird und dessen Konzern und dessen Aufstiegsstreben aus unmittelbarer Nähe erleben darf. So durchstreift er im Buch auch die Augsburger Gassen und erlebt das Tun und Treiben in diesem Haus mit, an das heute abgesehen vom Eingangsportal und einer Tafel kaum mehr etwas erinnert. Wer Die Puppenspieler liest, betritt die Annastraße und das angrenzende Mettlochgässchen danach mit anderen Augen.
Schade nur, dass das Buch im Moment nur noch antiquarisch erhältlich ist und nicht mehr aufgelegt wird. Beziehbar hingegen ist nach wie vor die E-Book-Ausgabe von Kinkels Bestseller.
Sophie von La Roche am Elias Holl-Platz
Hinab zum Elias-Holl-Platz. Oder hinauf zum Rathausplatz.
Apropos Verschwinden von großen Bestsellern aus weiblicher Feder:
Schreitet man die Annastraße ein paar Meter weiter, landet man gleich auf dem Rathausplatz. Es eröffnet sich der Blick auf den Perlachturm und das prächtige Rathaus mit seinem Goldenen Saal.
Passiert man das Rathaus an dessen rechter Seite, steigt man die Stufen zum nach dem Stadtbaumeister benannten Platz hinunter. Bevor man dies tut, sollte man die rechte Hauswand eines Blickes würdigen. Denn hier lässt sich ein Andenken an eine Augsburger Persönlichkeit entdecken, die schon wieder in Vergessenheit geraten ist. Eine leicht zu übersehende Gedenktafel an die Autorin Sophie von La Roche ziert die Hauswand dort, wo jene Frau lebte, die man heute als Erfinderin des „Frauenromans“ bezeichnen könnte.
1730 in Kaufbeuren geboren lebte Sophie von La Roche von 1743 bis 1750 mit ihrer Familie im Haus, das die Adresse Maximilianstraße Nummer 3 trägt.
„Sie war die wunderbarste Frau, und ich wüsste ihr keine andre zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein, hatte sie bis in ihre höheren Jahre eine gewisse Eleganz […] zu erhalten gewusst, die zwischen dem Benehmen einer Edeldame und einer würdigen bürgerlichen Frau gar anmutig schwebte.“
Johann Wolfgang von Goethe, Dichtung und Wahrheit
Sophie von La Roche, umgeben von Büchern
So urteilte Johann Wolfgang von Goethe mit einer gehörigen Portion Male Gaze über Sophe von La Roche, die ihm durchaus ebenbürtig war. Auch sie war der intellektuelle Mittelpunkt von Gesellschaften, stand mit anderen Künstler*innen in Austausch und schrieb mit Das Fräulein von Sternheim einen Briefroman, der das Pendant zu Goethes Werther bildet und der damals ein großer Bestsellererfolg war. Das änderte allerdings nichts an der Tatsache, dass das weibliche Schreiben auch hier wieder abgewertet wurde, indem das Buch nicht für sich alleine erschien, sondern von La Roches Freund Christoph Martin Wieland ein Geleitwort vorangestellt bekam, in dem er erläuterte, dass das Buch für ein Werk aus weiblicher Feder durchaus annehmbar sei.
Diese Abwertung des Schreibens von La Roche setzt sich leider bis heute fort, ist doch Goethes Briefroman Werther längst in den Kanon eingegangen, La Roches Fräulein von Sternheim hingegen kennt kaum jemand mehr.
Grund genug an das Wirken dieser Augsburger Autorin zu erinnern und für die vertiefende Lektüre Katharina Hermanns Dichterinnen und Denkerinnen noch einmal zu empfehlen.
Axel Gora und der Bau des Augsburger Rathauses
Wenn wir nun schon am Elias Holl-Platz stehen, ist es auch an der Zeit, an den Erbauer des Augsburger Rathauses und vieler weiterer stilprägender Bauten in Augsburg zu erinnern.
Dass das Rathaus diese imposante Form hat, die heute noch beeindruckt, vor allem wenn man die hochaufragende Fassade des Rathauses vom Holl-Platz aus betrachtet, ist gar keine Selbstverständlichkeit. Die städtischen Kunstsammlungen verfügen neben dem sogenannten Dreigiebel-Modell, das der heutigen Form des Rathauses weitgehend entspricht, über weitere Modelle, darunter das sogenannte Loggia-Modell, das – nach italienischem Vorbild entworfen – eher an die Bauten des Markusplatzes erinnert und das im Falle einer Realisierung einen Hauch Venedig nach Augsburg gebracht hätte.
Sind die Hintergründe dieser unterschiedlichen Rathausmodelle auch weitestgehend ungeklärt, so liefern sie doch weiten Raum für Spekulationen. Einen Raum, den der Augsburger Axel Gora mit seinem Roman Die Versuchung des Elias Holl betreten hat und der in diesem Roman eine mögliche These um die Modelle und den Wettkampf zweier Männer erzählt.
Der Augsburger Stadtbaumeister Elias Holl
Bei ihm ist es der Augsburger Rat um die mächtigen Männer der Fugger, Welser und Co., der im Jahr 1614 Holl mit dem Entwurf zu einem Neubau des Rathauses beauftragt. Neben Holl vergeben sie den Auftrag allerdings auch an seinen Konkurrenten Matthias Kager, seines Zeichens Stadtmaler und Erschaffer der berühmten Fresken am Augsburger Weberhaus.
Aus diesem Wettkampf strickt Gora einen süffig zu lesenden historischen Roman über das Augsburg in der Renaissancezeit, in dem nicht nur die Männer, sondern auch bald Elias Holls Gefühle in Widerstreit geraten.
Den Elias Holl-Platz, (dessen Namenspate auch bereits in Romanen gewürdigt wurde, beispielsweise diesem) verlassen wir nun in Richtung Metzgplatz, auf dem wir uns rechts halten. Vorbei an Kleinkunstbühnen, Geschäften und der Barfüßerkirche führt uns der Spaziergang zu einer weiteren bekannten Institution in der Stadt, die jüngst mit viel Pomp und etwas Verspätung ihren 500. Geburtstag feierte. Die Rede ist von der Fuggerei, die der derzeit wohl fleißigste Schreiber der Region zum Thema machte.
Peter Dempf in der Fuggerei
Der Name des fleißen Schreibers ist Peter Dempf, der im Jahrestakt historische Romane, Kinderbücher, Krimis und mehr vorlegt. Eigentlich arbeitet er als Lehrer in der Augsburger Nachbarstadt Neusäss, findet aber dennoch die Zeit, jedes Jahr einen neuen Roman zu veröffentlichen. In diesen Büchern beschäftigt er sich mit der Augsburger Geschichte, erzählt von Sagen aus der Stadt oder thematisiert häufig auch mittelalterliche Geschichten rund um die Familie Fugger. Eines seiner letzten Bücher stammt aus dem Februar des vergangenen Jahres und trägt den Titel Das Haus der Fugger. Und es entführt eben dorthin: die Fuggerei, die einst Jakob Fugger stiftete, um sich die Chance aufs Himmelreich zu wahren.
In den Gassen der Fuggerei
Dort, wo das Wohnen bis heute nur nur 88 Cent im Jahr kostet (plus drei Gebete für Jakob Fugger), kommen im 16. Jahrhundert Eva und Joss mit ihrer Familie unter. Vor Ort geraten in ein Komplott, das sich hinter den ockergetünchten Mauern abspielt und das mit dem Gujak-Trank zusammenhängt, der dort eigentlich zur Heilung ausgeschenkt wird.
Hier zeigt sich, dass es vor allem die Geschichte Augsburgs ist, die Schriftststeller*innen Material liefert und inspiriert. Egal ob Tanja Kinkel, Wolfang Kammer oder Peter Dempf. Meist dominiert der Blick zurück – und auch bei den bekannten literarischen Größen der Stadt ist das nicht anders.
So vermaß der preisgekrönte Auto Georg Klein in Roman unserer Kindheit sein eigenes, stark fiktionalisiertes Aufwachsen im Augsburger Stadtteil Oberhausen, wofür er 2010 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt. Und auch Thomas von Steinäcker, der andere große literarische Name schweift mit seinem Blick durchaus gerne in die Vergangenheit.
Und auch beim nächsten Autor ist das nicht anders, wenngleich dieser kein Augsburger ist, sich aber mit einer der bekanntesten Marken der Stadt eingehend auseinandergesetzt hat. Hierfür verlassen wir die Gassen und Häuser der Fuggerei und schlagen uns über den Oberen Graben und den Verlauf der Stadtmauer etwa eineinhalb Kilometer in Richtung Süden der Stadt. Dort sehen wir auf ein Gebäude, dessen Name schon mannigfaltige Assoziationen wachrufen dürfte, die vom Urmel bis hin zu „Eine Insel mit zwei Bergen“ reichen.
Mit Thomas Hettche in die Puppenkiste
Populäre gehobene Literatur über Augsburg gab es schon länger nicht mehr zu lesen, geschweige denn auf der Bestsellerliste zu finden (es sei denn, man zählte Anne Jacobs‚ Tuchvilla-Saga zu diesem Kreis, was ich nicht tun würde). Thomas Hettche gelang vor zwei Jahren allerdings doch dieses Kunststück, künstlerischen Anspruch und ökomischen Erfolg zu vereinen.
Der in Treis geborene Schriftsteller wandte sich nach der Pfaueninsel in Berlin nun Oehmichens Puppentheater zu und erzählt in Herzfaden die Geschichte der Augsburger Puppenkiste.
Figuren in der Puppenkiste
Damit begnügt sich der der preisgekrönte Romancier allerdings nicht, sondern erzählt darüber hinaus auch „eine Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik“, wie es der Kritiker Christoph Schröder nannte. Im Kern geht es um die Lebensgeschichte von Hannelore, genannt Hatü Oehmichen, die zusammen mit ihrem Vater nach dem Krieg die legendäre Augsburger Puppenkiste gründete. Anfangs noch mehr als provisorisch gestaltet, wuchs sich das Unternehmen schnell zu einem Anziehungspunkt für Kinder und Erwachsene aus. Gastspiele und Fernsehproduktionen sollten folgen, darunter Produktionen um solch legendäre Figuren wie den kleinen Prinz oder Jim Knopf und Lukas den Lokomotivführer.
Um diese Geschichte herum baut Thomas Hettche die Erzählung eines Mädchens, das nach einer Vorführung auf den Speicher des Puppentheaters gerät und dort den Marionettenfiguren gegenübertritt, die dort oben auf dem Speicher zum Leben erwachen. Daneben erzählt er von Kriegswunden in der Stadtlandschaft und in den Köpfen der Menschen, vom Neubeginn und der unerschöpflichen Kraft der Fantasie.
Hettches Roman rief unisono Lob im Feuilleton und bei den Leser*innen hervor und schaffte es sogar in die Endauswahl des Deutschen Buchpreises 2021. Und auch wenn er schlussendlich nicht gewann – Augsburg hatte es endlich mal wieder auf die große Bühne der Literatur geschafft.
Stille und Kontemplation im Augsburger Dom
Was gäbe es noch alles zu sagen, über die Lyrikszene, über kulturelle Institutionen und Festivals, über Regionalkrimis oder andere historische Bücher. Doch jeder Spaziergang muss einmal zum Ende kommen, so auch dieser. Und womit könnte dieser Spaziergang besser enden als mit dem, der Lyrik und Prosa geschrieben hat, Stücke für Freunde und das Theater verfasst hat, der den literarischen Ruf der Stadt nachhaltig geprägt hat, der sich an ihr gerieben hat und die Stadt auch an ihm? Die Rede ist natürlich von Bertolt Brecht.
Bertolt Brecht besucht den Plärrer
Vieles ist über ihn geschrieben und geforscht worden (verwiesen sei an dieser Stelle nur auf die monumentale, aber sehr bereichernde und gut geschriebene Biographie von Stephen Parker). An manchen Orten im Stadtbild finden sich die roten Stelen mit Brechts Silhouette und ab und an finden im Brechthaus sogar Lesungen oder Veranstaltungen statt, wenngleich das Haus noch immer in einem Dornröschenschlaf daliegt.
Ob an der Kahnfart, im Bleichviertel oder an anderen Stellen in Lechhausen. Immer wieder lassen sich Spuren der Stadt in Brechts Wirken entdecken – und auch dem zweimal im Jahr stattfindenden Plärrer, einem Volksfest, das die Massen anzieht, hat sich Brecht gewidmet.
Wo sich am Fuße des Stadtbergs normalerweise eine große Ödnis in Form eines Pendlerparkplatzes darbietet, werden zweimal im Jahr große Festzelte und Buden aufgebaut, und zwar immer im Frühling und Winter. Autoscooter, Riesenrad oder Essensstände warten dann dort auf die Besucher und locken die Massen an. Dass das zu Brechts Zeiten nicht anders war, das zeigt sein Plärrerlied, mit dem er das Volksfest in ein Gedicht gebannt hat, das am Ende dieses Spaziergangs stehen soll.
Die vorgestellten Bücher:
Tanja Kinkel – Die Puppenspieler
ISBN 978-3-96655-618-7 (E Book)
719 Seiten. Preis: 6,99 €
Sophie von La Roche – Geschichte des Fräuleins von Sternheim
ISBN 978-3-15-007934-8 (Reclam)
400 Seiten. Preis: 9,80 €
Axel Gora – Die Versuchung des Elias Holl
ISBN 978-3-8392-1276-9 (Gmeiner)
422 Seiten. Preis: 14,00 €
Peter Dempf – Das Haus der Fugger
ISBN 978-3-404-18312-8 (Bastei Lübbe)
495 Seiten. Preis: 11,00 €
Georg Klein – Roman unserer Kindheit
ISBN 978-3-499-24487-2 (Rowohlt)
448 Seiten. Preis: 9,99 €
Thomas Hettche – Herzfaden
ISBN 978-3-462-05256-5 (Kiepenheuer – Witsch)
288 Seiten. Preis: 24,00 €
Stephen Parker – Brecht
ISBN 978-3-518-42812-2 (Suhrkamp)
1030 Seiten. Preis: 58,00 €
Zur Bestellung empfehle ich nachdrücklich den lokalen Buchhandel oder digitale Alternativen, bevor man es in seelenlosen Ketten oder gar Jeff Bezos selbst unterstützt. Überall dort bekommt man Bücher genauso schnell, das Geld bleibt vor Ort und sichert die literarische Versorgung.
Die Bilder, die im Text Anwendung gefunden haben, stammen von Pixabay.de und Unsplash.de. Das Bild des Augsburger Rathauses stammt von to.wi
Der deutsche Buchmarkt ist immer wieder für ein Comeback gut. Wiederentdeckungen großer Namen gab es in letzter Zeit häufig zu lesen. Auch der Schweizer Diogenes-Verlag kümmert sich um die Pflege und Entdeckung fast vergessener Autorinnen und Autorinnen. Das klappt mal besser, wie im Falle von Kent Haruf, mal mag es nicht so funktionieren, wie im Fall von Marianne Philipps (Die Beichte einer Nacht). Zu ersterer Kategorie kann man eigentlich schon jetzt Walter Tevis zählen.
Bereits 1984 gestorben war Tevis als Schriftsteller recht schnell vergessen, auch wenn seine Bücher vielfach die Grundlage legendärer Filme waren. So stammt etwa die Vorlage zu Die Farbe des Geldes aus der Feder des amerikanischen Autors.
Das öffentliche Interesse richtete sich nun wieder auf Walter Tevis, als Netflix die Miniserie Das Damengambit über die hochtalentierte Schachspielerin Beth Harmon veröffentlichte. In der Folge waren an manchen Orten nicht nur die Schachbretter ausverkauft, auch der Schöpfer von Beth Harmon erfuhr großes Interesse. Und so veröffentlichte Diogenes das ursprünglich 1983 erschienene Buch im vergangenen Jahr noch einmal – mit großem Erfolg.
Das Comeback von Walter Tevis
So großem Erfolg, dass nun ein weiteres Werk von Walter Tevis in Neuübersetzung durch pociao und Roberto de Hollanda im Diogenes-Verlag erscheint. Auch dieser Titel weckt gleich wieder Erinnerungen an einen Film, in dem David Bowie die Hauptrolle spielte. Der Mann, der vom Himmel fiel erzählt die Geschichte des Fremden Thomas Jerome Newton, der vom Planeten Anthea stammt. Er findet sich in Amerika wieder, wo er einen gigantischen Plan umsetzt.
Denn wie sein berühmter britischer Namensvetter hat sich auch Der Mann, der vom Himmel fiel mit Technik auseinandergesetzt. Er ist im Besitz des Wissen von außerirdischen Technologie, die unserer irdischen Technologie klar überlegen ist. Mithilfe dieses Wissen möchte er riesige Mengen an Geld generieren, um einen kühn Plan in die Tat umzusetzen. Er will ein Raumschiff bauen, um mit diesem zurück zu seinem Planeten zu gelangen, der kurz vor der Auslöschung steht. Hilfe erhofft sich Newton von Professor Bryce, dessen Interesse durch innovative Erfindungen wie die eines bestechend scharfen Films oder ungewöhnlicher Zündhütchen geweckt wurde, die ihn auf die Spur des Mannes brachten, der vom Himmel fiel.
Doch schon aus der Bibel weiß man, wie es meist mit Menschen geht, die auf die Erde kommen, um Heil zu bringen und die Erlösung aller zu propagieren. Auch der Weg des Antheaners droht an Machtfragen und Politik zu scheitern.
Eine etwas angestaubte Themenwahl
Hat Das Damengambit mit dem Thema Schach im Mittelpunkt des Bildungsromans ein zeitloses Thema, so merkt man Der Mann, der vom Himmel fiel sein Alter doch etwas stärker an, da sich Tevis recht stark auf die Technologie konzentriert, die für Newton der Weg zurück zu den Sternen sein soll.
Ist im Roman Professor Bryce über die Fähigkeiten eines Selbstentwicklungsfilms bass erstaunt, so entlockt uns das in Zeiten von Smartphones, Livestreams und Echtzeit-Übertragung eigentlich nur noch ein müdes Lächeln. Auch das revolutionäre Abspielen von Schallplatten, deren Inhalt nun auf Kugeln gepresst wird, um sie dann wiederzugeben, ist im Zeitalter von Spotify eher ein alter Hut.
Mögen Tevis‘ Ideen für die damalige Zeit der 60er Jahre revolutionär und gerade Science-Fiction-artig gewesen sein, so ist doch das meiste, was in diesem Roman verhandelt wird, schon längst überholt. Das lässt das Buch heute stark veraltet wirken, auch wenn die Themen der Politik und des Agierens von Geheimdiensten gerade in Bezug auf den Entstehungszeitraum inmitten des Kalten Kriegs interessante Aspekte verheißen. Auch die christliche Parabel mit einer starken Analogie zur Passionsgeschichte lässt Raum für Interpretationen:
Newton rief erneut dem Barkeeper etwas zu. „Wissen Sie, warum ich auf diese Welt gekommen bin, Mr. Elbert?“
Diesmal blickte der Barkeeper nicht mal mehr auf. „Nein, Dad“, gab er zurück. „Davon habe ich nichts gehört“.
„Tja, ich bin gekommen, um euch zu retten.“ Newtons Stimme war präzise, spöttisch, enthielt aber auch eine Spur von Hysterie. „Ich bin hier, um euch alle zu retten.“
Walter Tevis – Der Mann, der vom Himmel fiel, S. 258
Fazit
Auf lange Sicht gesehen funktioniert das Buch für mich leider nicht mehr wirklich. Ebenso veraltet wie die Dialoge, in denen man sich schon mal „Mich laust der Affe!“ zuwirft, wirkt die ganze Thematik der Rettung der Menschheit und das Vertrauen auf Technologie zur Rettung der Planeten.
Eine Thematik, die ja eigentlich aufgrund der Klimakrise und den damit einhergehenden Rettungsansätzen durchaus zeitgemäß wäre und – ein bisschen uneindeutiger und offener geschrieben durchaus auch als Meditation in diesen Tagen gelesen werden könnte. So wirklich öffnen sich diese Assoziationsräume nicht, vielleicht auch aufgrund der etwas holprigen Erzählweise und den Lücken, die immer wieder bleiben. Es wirkt an manchen Stellen, als sei Tevis selbst nicht wirklich klargewesen, was er nun erzählen oder welchen Punkt seiner Geschichte er insbesondere unter die Lupe nehmen möchte.
So kann man Der Mann, der vom Himmel fiel als Zeitdokument der Vorstellungswelt der 60er Jahre lesen, heute hat das Buch aber eher nur noch einen historischen Wert. Literarisch kann es zumindest mich nicht wirklich überzeugen.
Konträr dazu steht Gérard Otremba, der dem er Buch eine hohe Güte bescheinigt. Für ihn ist das Buch wunderbar und hochaktuell – seine Meinung lässt sich hier nachlesen.
Walter Tevis – Der Mann, der vom Himmel fiel
Aus dem Englischen von pociao und Roberto de Hollanda
Leila Mottley geht in ihrem Debüt Nachtschwärmerin dahin, wo es wehtut. Sie beobachtet den Kampf einer Teenagerin um ein geregeltes Leben für sich und ihren Bruder – und lässt sie an am Sozialsystem der USA, an Korruption, Ausgrenzung und Machtmissbrauch scheitern. Ein sozialkritischer Roman ohne viel Hoffnung.
Oakland, die drittgrößte Stadt in der San Francisco Bay Area. Hier lebt die siebzehnjährige Kiara und ihr älterer Bruder Marcus in einer heruntergekommenen Wohnanlage namens Royal Hi. Royal ist hier allerdings gar nichts. An allen Ecken und Enden herrscht Verwahrlosung, sowohl bei der Anlage selbst als auch bei deren Bewohnern, für die das Hi im Namen der Wohnanlage eher für „High“ steht. Der Pool der Anlage riecht nach Exkrementen, cracksüchtige Bewohner*innen hausen dort – und Kiara muss sich neben ihrem Bruder Marcus auch um das Kind einer dieser Cracksüchtigen kümmern, die sich irgendwo in Oakland herumtreibt, statt sich um ihr Kind zu kümmern.
In den Baracken von Oakland
Die Eltern von Kiara und Marcus sind beide abwesend – die Gründe dafür erklärt Lila Mottley später im Buch. Und so ist der ferne Onkel Ty das einzige greifbare Familienmitglied, der zum leuchtenden Idol für Marcus wird, hat dieser es doch als Rapstar aus der erbärmlichen Umgebung des Royal Hi hinaus in die besseren Viertel von Oakland geschafft. Doch Ty will mit den Kindern seiner Schwester nichts zu tun haben.
Schon zu Beginn spitzt sich die Lage dramatisch zu, als den beiden jungen Erwachsenen eine Mieterhöhung ins Haus steht, die sie nicht bezahlen können. Marcus verbringt seine Tage lieber im Musikstudio eines Freundes, um seinem Onkel nachzueifern und Rap-Tracks aufzunehmen, ohne etwas zur Haushaltskasse beizutragen. Und Kiara bekommt aufgrund ihres Alters und fehlenden Lebenslaufs beruflich kein Bein auf den Boden. So etwas wie ein sichernde Sozialsystem gibt es für sie gar nicht. Und so geht sie den einzigen Schritt, der ihr bleibt: den in die Prostitution.
Sie verkauft ihren Körper, um ihren Bruder und sich durchzubringen, denn auf ihre Familie kann sie nicht vertrauen. Doch dabei gerät sie in die Fänge der Polizeibehörde, nachdem sie sie von Officers ertappt wird, als sie sich prostituiert. Diese erpressen sie, damit sie ihnen und anderen Gesetzeshütern in Oakland fortan zur Verfügung steht und drängen sie damit in ein verhängnisvolles System aus Unterdrückung und Machtmissbrauch, aus dem Kiara aus eigener Kraft kaum herausfindet. Mal geben ihr die Polizeiangehörigen etwas Geld, mal behaupten sie, dass der widerwillige Sex mit ihnen sie vor einer Verhaftung schützen würde. Aus eigener Kraft schafft es Kiara kaum mehr heraus aus diesem System.
Ein bestürzendes Bild des amerikanischen Prekariats
Das Bild, das Leila Mottley vom amerikanischen Prekariat zeichnet, ist bestürzend. Fernab von sonnengesättigter kalifornischer Lässigkeit zeigt die gerade einmal 23 Jahre alte Autorin eine nachtschwarze Welt, in der es so etwas wie Hoffnung fast gar nicht gibt. Man haust in heruntergekommenen Appartements, Kinder werden vernachlässigt und das Aufstiegsversprechen des amerikanischen Traums gilt für das Personal in Nachtschwärmerin auch nicht, wenngleich Onkel Ty mit seinem Raperfolg die Ausnahme ist, die die Regel bestätigt.
Leila Mottley überrascht in ihrem Buch mit Gnadenlosigkeit und einem bestechend genaue Blick auf dieses System, bei dem mittellose Schwarze wie Kiara und ihr Bruder schnell durchs Raster fallen. Auch legt sie in den Finger der Wunde namens Korruption, die bei vielen Polizeibehörden in Amerika leider schwärt und immer wieder für Schlagzeilen sorgt. So schreibt sie im Nachwort zu Nachtschwärmerin:
2015 war ich ein junger Teenager in Oakland, als ein Artikel Aufsehen erregte, der beschrieb, wie Mitglieder des Oakland Police Department und mehrerer anderer Polizeibehörden in der Bay Area sich an der sexuellen Ausbeutung einer jungen Frau beteiligt und versucht hatten, es zu vertuschen.
Dieser Fall entwickelte sich über Monate und Jahre, und auch als das mediale Interesse abflaute, rätselte ich weiter über diese Geschehnisse, über diese Mädchen und über all die anderen Mädchen, die keine Schlagzeilen machten, obwohl sie ebenso die Grausamkeit dessen erfuhren, was die Polizei dem Körper, dem Geist und der Seele eines Menschen antun kann. Neben diesem einen Fall, der es in die Nachrichten schaffte, gab und gibt es Dutzende weitere Fälle von Sexarbeiter*innen und jungen Frauen, die Gewalt durch die Polizei erfahren und deren Geschichten unerzählt bleiben, die keinen Gerichtsprozess erleben und die diesen Situationen nicht entkommen. Aber wir kennen nur wenige von diesen Fällen.
Leila Mottley – Nachtschwärmerin, S. 410
Das Anliegen, auf diese Fälle hinzuweisen und den unmenschlichen Umgang mit den Opfern aufzuzeigen, löst Leila Mottley gelungen, indem sie Kiara alle Stationen ihrer Via Dolorosa abschreiten lässt, bis hin zum Prozess, in dem alles kulminiert.
Fazit
Die junge Autorin erinnert mit ihrem sozialkritischen Blick an andere Werke wie etwa Liz Moores Long bright river, in dem ebenfalls tief in die Abgründe der amerikanischen Gesellschaft geblickt wird. Erbaulich ist das natürlich nicht, eher erschütternd und ohne viel Hoffnung. Aber solche Literatur braucht es. Literatur, die dorthin blickt, wo man sich lieber abwendet und die die Realität an den Rändern der Gesellschaft in den Blick nimmt, auf dass diese Realität Veränderung erfahre!
Sorgt Yoga für Ausgeglichenheit, Unbeschwertheit und einen ruhigen Geist? Wenn man Emmanuel Carrères Schilderungen in Yoga nachverfolgt, dann könnte man an dieser Hypothese deutlich zweifeln. Denn in seinem ebenso radikalen wie erschütternden Bericht offenbart sich Carrère als Suchender, den Yoga nicht vor dem Fall in psychische Abgründe beschützen konnte.
Gerade einmal zwanzig Prozent unserer Gedanken sind es, die wir auf die unmittelbare Gegenwart richten. Die übrigen 80 Prozent sind Abschweifungen, die uns in die Vergangenheit und Zukunft blicken lassen, aber sicher einer Verhaftung im Hier und Jetzt entziehen. So zitiert Emmanuel Carrère den Buddhisten Chögyam Trungpa, dessen Worte Carrère während einer Meditation in den Sinn kommen und damit gleich eindrücklich den Beweis liefern, dass an der These etwas dran sein könnte.
Yoga und Terror
Denn obwohl Carrère im Yogaretreat Vipassana zu Ruhe und Harmonie finden will, ist es mit der Ruhe im Geist und der reinen Konzentration auf das Sein in der Gegenwart nicht weit her. Schon an seinem zweiten Tag im Yogaretreat wird Carrère durch eine schlechte Nachricht aus der selbstgewählten Isolation gerissen – und schon sind sie wieder da, die 80 Prozent der dauerkreisenden Gedanken, die er eigentlich abstreifen wollte. Und nicht nur der Aufenthalt dort im Retreat endet, auch das meditative Yogabuch, das er eigentlich verfassen wollte, bricht ab. Das ist trotz der Ankündigung zu Beginn des Buchs in seiner Heftigkeit ein Schock. Denn es kommt noch schlimmer.
Nach dem Terroranschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo, der sich während Carrères Aufenthalt in Paris ereignet hat, kommt auch ein Freund des Schriftstellers ums Leben. Eine manische Phase des Schriftstellers endet mit einem viermonatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik, Elektroschocktherapie inklusive. Und schließlich landet Carrère auf der griechischen Insel Leros, wo er mit dem Elend der europäischen Flüchtlingspolitik konfrontiert wird.
Ein Buch über Yoga und kein Buch über Yoga
Yoga ist ein Buch über Yoga und zugleich überhaupt kein Buch über Yoga. Wer würde schon einen intimen Bericht aus dem Inneren einer psychiatrischen Anstalt oder die Schilderung von Flüchtlingsschicksalen in einem Buch namens Yoga erwarten? Trauer, Tod und Sehnsucht sind starke Elemente in diesem Buch. Elemente, die man gemeinhin wenig mit Yoga assoziiert, steht es doch eigentlich zumindest im breiten Bewusstsein für Ausgeglichenheit und Harmonie.
Und doch ist die verbindende Klammer auch in den scheinbar völlig disparaten Momenten des Buchs, die nur durch Carréres radikale Subjektivität zusammengehalten werden, Yoga. Beziehungsweise die Philosophie dessen, etwa wenn er immer wieder vritti ausmacht, die Ströme des Bewusstseins, die sein Leben beeinflussen und auf ihn einwirken. Oder wenn er am Strand von Leros mit jungen Geflüchteten Tai-Chi praktiziert und nach Erfüllung und Sinn sucht. Stets findet er Rückhalt in der Theorie des Yoga, auch wenn hier Dinge wie Trainingsmatten oder Entspannungsgong kaum vorkommen. Zum Glück, wie ich finde.
Denn auch, wenn man mit Yoga nichts anfangen kann, einem auch der Gedanke von Spiritualität denkbar fern liegt, so gelingt es Carrère doch, seine Faszination, die ihm Yoga und dessen Theorie verheißt, glaubhaft zu vermitteln. Darüber hinaus ist das Buch auch das Dokument – oder besser die Meditation – eines Kreisens um die Frage nach Ruhe und Erfüllung im eigenen Leben.
Eindringliche Autofiktion
Carrère, der schon immer ein Suchender war, etwa nach den Wurzeln seines Glaubens in Das Reich Gottes, zeigt hier mit den Mitteln der Autofiktion, was diese in ihren besten Momenten ermöglicht. Einblicke in das Seelenleben und ein Gefühl von Ehrlichkeit, wenn er seine Niederlagen und sein stetes Ringen um Ausgeglichenheit schildert.
Außer George Langelaans Kurzgeschichte hatte ich seit Monaten nichts mehr gelesen, doch eines Tages öffnete ich im Café Puschkin noch einmal den Pappordner, auf den ich in Großbuchstaben Ausatmen geschrieben hatte, und begann, die etwa 200 000 Zeichen Notizen über Yoga, Tai-Chi, Meditation und all diese Marotten, die mich mein halbes Leben lang beschäftigt haben, nicht wirklich zu lesen, aber zu überfliegen – und mit welchem Ergebnis? Die Antwort könnte einen zur Verzweiflung bringen. Dreißig Jahre, um innere Ruhe und strategische Tiefe zu finden, dreißig Jahre, um sich das Leben als Ausweg aus dem Chaos und als geduldige Arbeit an einem Zustand der Gelassenheit und des Staunens vorzustellen, dreißig Jahre, um trotz aller Abstürze und Depressionen daran zu glauben, um am Ende, wenn das Alter kommt und obwohl man ein Haus und eine Familie und alles hatte, um weise und glücklich zu sein, findet man sich in Embryohaltung allein in einem Bett für kaum eine Person im verlassenen Haus einer einsamen, verlorenen Frau wieder, die ebenfalls auf die Südhalbkugel verschwunden ist, ohne eine Adresse zu hinterlassen. Als Lebensbilanz macht das nicht viel her. Und ist auch keine besonders gute Werbung für Yoga. Aber da liege ich falsch: Yoga hat damit nichts zu tun, das Problem bin ich. Yoga tendiert zur Einheit, aber ich bin zu gespalten.
Emmanuel Carrère – Yoga, S. 302
Fazit
Und auch wenn man anführen möchte, dass das Buch doch eine reichlich wilde und ungelenke Mischung sei, die Yoga-Betrachtungen von psychiatrischen Selbstbeobachtungen abgelöst werden, Fragen des Schreibens mit denen vom Zehn-Finger-Tippsystem, Lyrik oder Interpretationen von Chopins Polonaise héroique zusammengeworfen werden, so hat dieses Buch doch eine Klammer. Und diese Klammer ist Emmanuel Carrères eigene Präsenz, seine Gedanken, seine Faszination für die Welt des Yoga und seine autofiktionale Radikalität im Denken und Schreiben, die hier eine ungemein eindringlich Wirkung entfaltet. Yoga überrascht immer wieder und berührt durch die Offenheit und das stete Streben nach Ruhe und ja – Glück. Und insofern ist dieses Buch selbst auch ein wirklicher Glücksfall und das beste Werk im Schaffen des französischen Schriftstellers bislang und der Beweis, wie Autofiktion in ihren besten Momenten funktionieren kann.