Ein Schrumpfkopf erzählt

Jan Koneffke – Die Tantsa-Memoiren

Als Gregor Tstantsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Schrumpfkopf verwandelt.

So verballhornt könnte man eine Pointe des an Pointen nicht armen Romans von Jan Koneffke zusammenfassen. Denn im neuesten Roman des 1960 geborenen Autors und Übersetzers begegnen wir einem mehr als außergewöhnlichen Erzähler. Es handelt sich um einen sprechenden Schrumpfkopf, auch genannt Tsantsa, der uns hier seine Tsantsa-Memoiren präsentiert.

Dabei erfährt der sprechende Schrumpfkopf im venezuelanischen Cumaná um 1780 seine Erweckung durch einen sprechenden Ara. Dieser ist neben einem Affen und einem Jaguar eines der Haustiere, die sich Don Francisco in seinem herrschaftlichen Haus hält. Jener Don Francisco stammt eigentlich aus Spanien, ist nun in Venezuela allerdings im Dienst der spanischen Krone abgeordnet. In seinem Dienstzimmer baumelt auch der Schrumpfkopf, der sich untätig im Wind wiegt, ehe der Ara in sein Leben tritt. Dessen Spracharabesken stimulieren die kognitiven Fähigkeiten des Schrumpfkopfs. Und damit nicht genug. Neben der Gabe des Verstandes erwacht auch die Fähigkeit zum Sprechen des Tantsa – was dann postwendend gleich einmal für den Tod Don Franciscos sorgt.

In der Folge beginnt eine wahre Odysee, die uns der sprechende Schrumpfkopf weitestgehend chronologisch erzählt. Eine Odyssee, die bis ins Augsburg dieser Tage führt.

Von Südamerika bis nach Augsburg

Der Schrumpfkopf gelangt von Südamerika nach Europa, verlebt einige Zeit in Rom, gelangt nach Bamberg, Norddeutschland, reist im Gepäck von Scharlatanen, Bahningenieuren und erlebt Hinrichtungen, Kriege und den technischen Fortschritt. Ebenso wechselvoll wie seine Provenienz ist auch die seiner Besitzer*innen und deren Absichten mit dem Tsantsa. Mal wird er im Dienste der Wissenschaft gemartert, mal in London im Zuge der Weltausstellung im Crystal Palace als Kuriosum gezeigt. Immer wieder erlebt der Schrumpfkopf neue Abenteuer und erfährt so verschiedene Jahrhunderte aus einer ganz eigenen Perspektive.

Jan Koneffke - Die Tsantsa-Memoiren (Cover)

Koneffke lässt seinen Tansta dabei ein antiquiertes Deutsch sprechen, der Schrumpfkopf selbst gibt Auskunft, dass er ein um 1820 gebräuchliches Idiom gebraucht. Sprachlich werden uns so sehr elaboriert die Abenteuer geschildert, die in ihrer thematischen und zeitlichen Fülle ein höchst abwechslungsreiches Leseerlebnis ergeben.

Ein abwechslungsreiches Leseerlebnis, in das sich leider mit zunehmender Zeit tatsächlich dann aber auch einige kleine Längen einschleifen. Koneffke weicht dann allerdings auf einen Trick aus, indem er mithilfe der Psychoanalyse den Schrumpfkopf seine eigene Geschichte und Herkunft ergründen lässt. Diese liegt zu Beginn des Buchs nämlich noch im Dunkeln.

Erst allmählich lichtet sich das Dunkel um das Vorleben des Schrumpfkopfs, ehe er dann dieser Tage in Augsburg seinen Moment der Rückführung erlebt.

Zwar hätten ein paar Straffungen im Text speziell ab der Hälfte des 560 Seiten starken Romans gutgetan. Durch seine Fabulierfreude und den Erfindungsreichtum gleicht Koneffke dieses Manko in meinen Augen aber aus. Und mit der Erfindung seines besonderen Erzählers ist dem Autor ein wirklicher Coup gelungen. So viel Fabulierfreude liest man in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur selten.

Fazit

In der Gesamtheit ist Jan Koneffke ein bunter, ja geradezu barocker Bilderbogen mit einem ganz besonderen Erzähler gelungen. Ein sprachlich ansprechender Unterhaltungsroman, der durch seine opulente Fülle an Themen und zeitgeschichtlichen Momente besticht.


  • Jan Koneffke – Die Tsantsa-Memoiren
  • ISBN 978-3-86971-177-5 (Galiani)
  • 560 Seiten. Preis: 24,00 €

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Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer

Sie gilt als DIE Dame der katalanischen Literatur: Mercè Rodoreda. 1908 geboren und 1983 verstorben, durchlebte sie ein Leben voller Höhen und Tiefen. Den Impuls zum Schreiben gab ihre unglückliche Ehe, in der sie die Literatur als Mittel der Weltflucht entdeckte.

Nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs floh Rodoreda ins Exil. Zunächst lebte sie in Spanien, ehe sie dann in die Schweiz übersiedelte. Erst in den siebziger Jahren kehrte sie dann in ihre katalanische Heimat zurück.

Von diesen wechselvollen Zeiten und dem turbulenten Leben merkt man ihrem im Schweizer Exil entstandenen und 1967 veröffentlichten Roman Der Garten über dem Meer allerdings überhaupt nichts an. Im Gegenteil. Ruhe, Melancholie und Zurückhaltung kennzeichnen diesen Roman, der neben Auf der Plaça del Diamant zu den wohl bekanntesten Werken Rodoredas zählt.

2014 gab Roger Willemsen dieses Buch im Rahmen der mare-Klassiker-Reihe heraus. Kirsten Brandt besorgte die erstmalige Übersetzung aus dem Katalanischen, Willemsen selbst verfasste das Nachwort. Noch nie war das Buch zuvor im Deutschen zu lesen. So konnte man über dreißig Jahre nach dem Tod Rodoredas eine wirkliche Neuentdeckung machen.

Eine Entdeckung, für die man Willemsen wirklich dankbar sein muss. Denn Der Garten über dem Meer ist ein literarisches Kleinod, eines das von der Vergänglichkeit des Sommers und zugleich von der Vergänglichkeit von Beziehungen erzählt

Von der Vergänglichkeit

Ausgangspunkt sind die Erinnerungen eines namenlosen Gärtners, der sich zurückerinnert an sechs Sommer, in denen er ein Herrenhaus betreute. In sechs Kapiteln erzählt er von seiner Rückschau auf jene Sommer, die von ganz unterschiedlichen Erlebnissen, Affären, Feiern, Unglück und Begegnungen geprägt waren.

Mercè Rodoreda - Der Garten über dem Meer (Cover)

Die Frau des Gärtners ist bereits verstorben, sodass er alleine in seiner kleinen Hütte auf dem Gelände des Herrenhauses lebt, als seine Schilderungen einsetzen. Er erzählt vom jungen Paar Francesc und Rosamaria, das mitsamt seiner Freundesclique die Sommer in ihrem Herrenhaus am Meer verbringen. Dort feiern sie rauschende Feste und Bälle, reiten aus, fahren Wasserski und genießen das dolce vita.

Doch was sich zunächst paradiesisch anhört, offenbart auch seine Schattenseiten, von denen der Gärtner erzählt. Eifersüchteleien, Affären, am Ende erbaut sich gar ein neuer Nachbar in bester Gatsby-Manier ein neues und noch prunkvolleres Haus neben dem des jungen Paares.

Lakonisch und mit einem genauen Gespür für die Risse im Gefüge der Clique betrachtet der Gärtner das Geschehen dort hoch oben über dem Meer. Durch seine soziale Außenseiterrolle kann er alles ungefiltert erzählen und legt so die Verwerfungen in der Clique und auch die dunklen Seiten der Sommertage offen. Während er sich um die Ordnung im Garten müht, driften die jungen Leute während der Sommer immer weiter auseinander.

Heiterkeit und Wehmut

Durch den Rückblick bekommt Rodoredas Erzählungen einen melancholischen, distanzierten, klaren und doch auch nostalgischen Ton. Das Wissen um die unmittelbar vergangenen Sommer schwingt im Buch mit und schlägt so den Bogen von sommerlicher Heiterkeit bis hin zum Wehmut. Das ist toll gemacht und zeigt eine Autorin, die zurecht für ihr Schreiben gerühmt und gepriesen wird. Hier ist eine Backlist-Perle zu entdecken. Eine große Empfehlung meinerseits!

Mit Der Garten über dem Meer bekommt man Sommererinnerungen ohne Falschheit. Ein Rückblick mit Wehmut und zugleich mit einem unbestechlichen Blick. Und Rodoreda gelingt ein präzises Bild einer spanischen Jeunesse dorée, das auch nach über 60 Jahren seit seinem Erscheinen nichts von seiner Klasse eingebüßt hat.


  • Mercè Rodoreda – Der Garten über dem Meer
  • Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
  • Mit einem Nachwort von Roger Willemsen
  • ISBN 978-3-8333-1054-6 (Berlin-Verlag)
  • 240 Seiten. Preis: 11,00 €
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Warum Bücher keine Lebensmittel sind

Es ist doch etwas albern, eine Blogbeitrag mit einer derart selbsterklärenden Überschrift zu beginnen. Und dennoch steht meine Aussage im Widerspruch zu der Empfindung vieler Menschen da draußen, wenn ich die Diskussionen der vergangenen Tage Revue passieren lasse. Noch immer scheint in Teilen des Bildungsbürgertums ein romantisierender Literaturbegriff vorzuherrschen, was den Umgang mit Büchern und ihren Stellenwert betrifft.

Eigentlich ist es ja ganz einfach: Nein, Bücher sind keine Lebensmittel. Spätestens, wenn man einmal versucht, von ihnen abzubeißen, sollte auch der letzte oder die letzte dieses Faktum zur Kenntnis genommen haben.

Aber dennoch erfreut sich die Aussage größter Beliebtheit. Schon während des ersten Shutdowns im März und der damit verbundenen Schließung von Buchhandlungen und Bibliotheken grassierte diese Aussage, um für offene Bibliotheken und Büchereien zu werben. Und nun, da der zweite Shutdown angebrochen ist, feiert die Ungleichung Bücher=Lebensmittel ihr Comeback.

Die Maslow’sche Bedürfnispyramide

Dabei ist die Sache doch recht einfach, wenn man einfach mal die berühmte Maslow’sche Bedürfnispyramide zur Hand nimmt. Diese klassifiziert verschiedene menschliche Bedürfnisse, aufsteigend nach ihrer Wichtigkeit.

Die Bedürfnispyramide nach Maslow (Quelle: Wikipedia)

Betrachtet man diese Pyramide, finden sich Bücher höchstens in der Kategorie der Individualbedürfnisse, eher noch in der Spitze bei der Selbstverwirklichung. Es mag in gewissen Teilen des Bildungsbürgertums immer noch en vogue sein zu bekennen, man könne ohne Bücher nicht leben. Und ja, Bücher bieten Wissen und Zerstreuung, lassen uns in andere Welten eintauchen, verändern bestenfalls unser Denken und unsere Wahrnehmung. Aber überlebenswichtig ist das alles nicht. Bücher sind keine Lebensmittel, ich kenne gar Menschen, die prima durchs Leben gekommen sind, ohne mehr als eine Handvoll Bücher gelesen zu haben. Persönlich kann ich mir einen derartigen Lebensstil auch nicht vorstellen: zum Überleben brauchen wir die Bücher aber nicht. Da sind es schon eher die physiologischen Bedürfnisse und die Fragen der Sicherheit, die im täglichen (Über)Leben eine Rolle spielen.

Oder man folgt dem Vorschlag der Kolleg*innen der Büchereien Wien:

Eine privilegierte Diskussion

Die Diskussion, die sich nun um geöffnete Buchhandlungen entspann, in der obiges Argument reflexhaft wiederholt wurde, zählt für mich auch zu einer überprivilegierten Diskussion, über die ich nur den Kopf schütteln kann. Hängt unser Wohl und Wehe in der wohl schwersten Pandemie seit vielen Jahrzehnten davon ab, dass wir weiterhin in geöffneten Buchhandlungen einkaufen können? Sind Buchhandlungen wirklich lebensnotwendig? Und müssen wir diese trotz besseren Wissens wirklich offenhalten und die Mitarbeitenden dem Risiko des Kundenkontakts aussetzen?

Zahlreiche Stimmen von Buchhändler*innen, die ich in den letzten Tagen vernahm, lassen mich wirklich daran zweifeln. Viel war da zu lesen von enervierenden Gesprächen mit Kund*innen, die Hygieneregeln oder Wartezeiten nicht beachten wollten. Warum sollte man die Mitarbeitenden diesem Stress und Infektionsrisikos aussetzen, wenn es auch anders geht?

Warum sollen Buchhandlungen sicherere Einkaufsmöglichkeiten als Discounter, Baumärkte oder Drogerien darstellen? Dem Virus ist es aktuellen Erkenntnissen nach ja ziemlich egal, wo es sich verbreitet. Wo sich Menschen befinden, ist das Risiko einer Infektion gegeben. Und wenn wir wirklich alle sozialen Kontakte drastischer einschränken müssen, als bisher geschehen, warum dann nicht auch in Buchhandlungen?

Buchhandlungen funktionieren auch geschlossen

Es ist ja nicht so, dass Buchhandlungen keine Bücher mehr vertreiben, nur weil sie geschlossen sind. Im Gegenteil. Der Shutdown im März und April hat es ja bewiesen: Buchhandlungen funktionieren auch unter Pandemiebedingungen hervorragend und stellen die Versorgung mit Lesestoff sicher.

Die meisten Buchläden bieten Onlineshops an, sie liefern aus oder bieten kontaktlose Abholmöglichkeiten. Man kann digital E-Books downloaden oder Hörbücher streamen. Bibliotheken bieten die Onleihe, Plattformen wie Genialokal oder Mojoreads helfen aus, wenn gerade keine Buchhandlung in der Umgebung digital eine Bestellplattform bietet. Ganz zu schweigen von Bücherkisten in der Nachbarschaft oder offene Bücherschränke in vielen Städten. Jede Menge Möglichkeiten also, um teilweise wenigen Minuten später, in den allermeisten Fällen spätestens am nächsten Tag, das gewünschte Buch zu besitzen. Braucht es da zwingend geöffnete Buchläden, in denen man das Personal dem Risiko von Kontakten aussetzt? Ich meine nein.

Ich gehe sogar soweit und biete eine Wette an: in den meisten Haushalten der lautesten Trommler für geöffnete Buchhandlungen dürften mindestens eine Handvoll ungeleser oder wiederlesenswerter Bücher stehen, sodass man auch mal zwei oder drei Tage ohne eine realiter geöffnete Buchhandlung überlebt (exklusiv von mir schon getest: Spoiler – es funktioniert!)

Entweder, wir nehmen die Pandemiebekämpfung jetzt ernst und behandeln alle gleich, oder wir lassen es. Dann suchen wir für alles Ausnahmen, relativieren die Risiken, erschaffen einen Flickenteppich der regionalen Regelungen und erneuter Ausnahmen. Wundern brauchen wir uns dann aber auch nicht, wenn die Wirkung des „harten Lockdowns“ dann verpufft und wir wieder da stehen, wo wir losgelaufen sind.

Warum sind Buchhandlungen wichtiger als Büchereien?

Und eine letzte Frage hätte ich da noch: warum werden Buchhandlungen in dieser Pandemie einmal mehr besser behandelt als Büchereien? Nur weil sie die lautere Lobby haben und weil man zu Weihnachten halt traditionell in die Buchhandlung stiefelt? Ich behaupte ketzerisch: bei einem Teil der zu Weihnachten rituell eingekauften Bücher ist es den Beschenkten eh wurscht und es zählt eher die Geste der Kulturbeflissenheit, denn eine wirkliche literarische Affinität beim Beschenkten.

Aber in der Diskussion der letzten Tage drehte sich alles um Buchhandlungen. Die Entscheidung Berlins, diese offenzuhalten, wurde in den sozialen Netzwerken und einschlägigen Gruppen begeistert beklatscht. Bücher SIND eben einfach Lebensmittel. Da war sie wieder, diese falsche Phrase. Kein Wort aber zu den Büchereien, die nach Länderregelung teilweise schon Ende November schließen mussten und unter erheblicher Eigeninitiative erst nach politischer Freigabe einen Abholservice auf die Beine stellen durften.

https://twitter.com/tomhillenbrand/status/1336019586576240646

Ich konnte es meinen Kund*innen hier in der Bücherei nur schwer vermitteln: warum dürfen große Rolltreppenbuchhandlungen aufhaben und ihre Bücher verkaufen, während wir geschlossen bleiben und (diesmal wenigstens nur tagelang statt wie im März Wochen) auf die Erlaubnis eines To-Go-Betriebs hoffen mussten? Nur weil wir Medien mehr oder minder gratis verleihen, statt sie zu verkaufen? Unverständnis nicht nur auf Kundenseite, sondern auch bei vielen Bibliotheksmitarbeiter*innen. Denn gerade aufgrund ihrer Kommerzfreiheit, ihre niedrigschwelligen Angebote, ihre Teilhabemöglichkeiten, ihrem breiten Informationsangebot sehe ich Bibliotheken in Sachen Wichtigkeit für die Gesellschaft noch vor Buchhandlungen.

Geistige Tankstellen – ein schiefes Bild

Ins Bild passt da auch das schiefe Bild der geistigen Tankstellen, das kontinuierlich zweckentfremdet wird und wurde. Einst versah Helmut Schmidt Bibliotheken mit dieser Bezeichnung. Doch in der Politik scheint eine derart große Begeisterung für diese Metapher zu herrschen, dass man nur noch im Bezug auf den Buchhandel von „geistigen Tankstellen“ liest. Zuletzt war es etwa Kulturstaatsministerin Monika Grütters, die von Büchern als „Seelennahrung“ und eben auch von „geistigen Tankstellen“ salbaderte. Der Ursprung des Zitats und seine eigentliche Bedeutung scheint zunehmend in Vergessenheit zu geraten.

Dass es zwischen Buchhandlungen und Büchereien einen Unterschied gibt, es scheint egal. Und warum muss man in Zeiten des Klimawandels und der zunehmenden Sensibilisierung für die Umwelt immer noch von Tankstellen sprechen? Was sagt das über unsere Gesellschaft aus? Im Land des Autos geht halt nichts ohne einen Autovergleich? Lesen ist Benzin für den Kopf? Literatur gibts in bleifrei, Super und ohne Oktan? Im Gegensatz zur Tanke haben die meisten öffentlichen Büchereien (und auch Buchhandlungen) sonntags zu, überteuerte Fertigpizza und Bier gibts da auch nicht. Dieses Bild funktioniert immer schlechter, je länger man darüber nachdenkt.

Zurück zu einem sinnvollen Diskurs

Wie wäre es, wenn wir diese ganze Debatte um die Buchhandlungen mal wieder ein paar Stufen zurückschalten? Und ein paar wirklich wichtige Dinge in den Blick nehmen? Ja, Bücher sind keine Lebensmittel. Und ja, sie sind wichtig und, bedeuten für viele Menschen Aus- und Einkommen. Wissens- und sinnstiftend sind sie auch für unzählige Menschen. Das weiß ich alles. Aber wäre es nicht Zeit, uns mal ein paar wichtige und ehrliche Fragen zu stellen?

Warum hängt das Wohl und Wehe unserer Gesellschaft vor Weihnachten davon ab, in einer Buchhandlung persönlich zu erscheinen, statt sich telefonisch beraten zu lassen oder per Mail zu bestellen?

Warum kann man Büchereien ohne große Aufschreie wochen- und monatelang zusperren, aber erst wenn Buchhandlungen schließen sollen, kommt der große Aufschrei?

Ist es nicht auch ein bisschen peinlich, wenn andere Branchen und wirklich wichtige Einrichtungen wie Tafeln und Co. die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung ohne Widerstand und Klagen mittragen – und nur von der Literaturbranche und ihrer Unterstützer*innen wehleidiges Jammern und Zetern zu vernehmen ist?

Warum sollen Buchhandlungen besser behandelt werden als Büchereien? Warum gibt es keine einheitlichen Regeln, die einfach eine kontaktlose Abholung ermöglichen, statt überall Ausnahmen und Schlupflöcher zu suchen?

Was ist uns die Pandemiebekämpfung und der Schutz unserer Mitmenschen wirklich wert? Sind Bücher lebensnotwendig?

Und wo ist jetzt hier die nächste Tanke?

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Michael Christie – Das Flüstern der Bäume

Ein Roman wie ein Schuss mitten durch einen mächtigen Baum: der Kanadier Michael Christie erzählt in Das Flüstern der Bäume von vier Generationen natur- und waldverbundener Menschen. Eine opulente Familiensaga mit aktuellen Themen, bestechend montiert.


Gesetzt den Fall, man schösse auf einen dicken Baum. Träfe man den Baum genau in der Mitte und hätte die Kugel genug Kraft, sie würde ungefähr folgende Reise erleben: zunächst wäre da die Rinde, die die Kugel durchschlägt. Es folgt das Kambium, das die Kugel passiert, ehe sie auf ihrer Reise durch den Baum das Splintholz erreicht. Immer weiter dringt sie auf ihrer Reise durch den Baum vor, durchmisst Jahresring um Jahresring, ehe sie schließlich in das Kernholz des Baumes vordringt. Dort passiert sie das Herz des Baums, ehe sie die Reise dann wieder in umgekehrter Reihung aus dem Baum hinaus antritt.

Genau auf die gleiche Weise montiert Michael Christie seinen Roman, der das erzählerische Konzept schon in einem Schaubild zu Beginn des Buchs präsentiert. Da ist der Querschnitt eines Baumes zu sehen, der von einem Zeitstrahl durchkreuzt wird. Der Zeitstrahl setzt 2038 an, um dann ins Innere des Baums vorzudringen, das 1908 seinen Endpunkt erreicht. Danach geht die Reise wieder wie gewohnt vorwärts weiter, um dann wiederum im Jahr 2038 seinen Abschluss zu finden.

Das erzählerische Konzept Michael Christies (Quelle: „Das Flüstern der Bäume“, Penguinverlag)

Erzählen in Schichten

Diese interessante Erzählweise, die so auch ein Stück weit an eine russische Matruschka-Puppe erinnert, entfaltet bei Michael Christie einen ganz eigenen Charme. Je weiter er in der Zeit zurückgeht, umso stärker wird sein Erzählen, das eigentlich mit einem Zusammenprall im Jahr 1908 beginnt. Dieser Zusammenprall bindet das Schicksal der Kinder Everett und Harris Greenwood aneinander, die beide der Unfall zu Waisen macht. In der Folge gelingt Harris eine Karriere als Holzmagnat, der mit der Abholzung von Bäumen und der Ausbeutung seiner Mitarbeiter ein Vermögen macht. Everett zieht in den Ersten Weltkrieg und wird in der Folge zu einem Herumtreiber. Erst mit dem Zufallsfund eines Babys findet Everett seine Bestimmung.

Drei Generationen Greenwoods werden folgen. Eine Aussteigerin, die sich vom Erbe ihrer Eltern lossagt. Ihr Sohn, der als Handwerker wieder mit Holz zu tun bekommt. Und als äußerte Schicht der Matruschka-Puppe Jacinda. Sie ist im Jahr 2038 nach Kanada geflüchtet, um zu Überleben. Das sogenannte Welken hat große Teile der Erde nahezu unbewohnbar gemacht. Sie arbeitet als Führerin nun auf einer Insel vor der Küste Kanadas, einem Resrevat, in dem die letzten großen Bäume Nordamerikas zu finden sind. Mit ihr fängt im Buch alles an, und mit ihr wird alles enden.

Eine hochinteressante Kompositionsform

Die Kompositionsform, die Michael Christie für seinen Roman gewählt hat, ist bestechend. Dabei zählt für mich die äußerte Erzählschicht um Jane zu den schwächeren Seiten dieses Buchs. Denn der der erhobene pädagogische Zeigefinger ist schon sehr deutlich, wenn Christie in düsteren Farben ausmalt, wohin der fehlende Umweltschutz und das Welken in der Zukunft geführt haben. Diese Volksschulhaftigkeit von Christies Agenda erinnert doch auch sehr an das Sendungsbewusstsein der Bestseller Maja Lundes.

Michael Christie - Das Flüstern der Bäume (Cover)

Doch je mehr weiter Christie mit seinem Erzählen in der Zeit zurückreist, umso dichter und runder wird seine Familiensaga. Besonders schön die Tatsache, dass sich Christie für seine Erzählung nicht nur für ein durchgehendes Erzählkonzept, sondern für literarische Varianz entschieden hat. So bekommt jede der vier Generationen Greenwoods einen eigenen Erzählstil zugesprochen. Währendd die Geschichte um Everett und Harris Greendwood von einem „Wir“ erzählt wird, ist es die Erzählung um den Schreiner Liam, die eigentlich fast nur über Rückblenden erzählt wird.

Die große Kunst an diesem Buch ist die Tatsache, dass sich die kleinen Mosaiksteinchen, die Christie im Lauf seiner vier Generationen verstreut, immer klarer zu einem Bild verfugen. Manche Andeutungen oder Besonderheiten der Figuren werden erst durch die Lebensgeschichten der anderen Figuren klar, womit Christie hier das Wurzel- und Lebensgeflecht der Bäume auf das der Menschen überführt. Das ist schrifstellerisch gut gelungen und bereitet durch die Montagetechnik das ein ums andere Mal erstaunliche Freude. Auch die Übersetzung von Stephan Kleiner überzeugt.

Fazit

Das Leben der Bäume ist ein mehr als empfehlenswerter Roman, dem man angesichts seiner im innewohnenden Qualität auch den kitschigen Titel verzeiht. Das Buch ist ein klug konstruierter Familienroman, der zugleich eine Hymne auf die Bäume darstellt. Formal toll durchkomponiert mit einer Botschaft versehen, deren Penetranz sich im Buch dann wohltuend abmildert, sodass am Ende eine klare Leseempfehlung von mir steht. Nicht nur zur Weihnachtszeit ein guter Geschenktipp.


  • Michael Christie – Das Flüstern der Bäume
  • Aus dem Englischen von Stephan Kleiner
  • ISBN 978-3-328-60079-4 (Penguin)
  • 560 Seiten. Preis: 22,00 €
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Charles Lewinsky – Der Halbbart

Von der Verführbarkeit der Massen, von Kriegstraumata und vom Leben in der Schweiz im 14. Jahrhundert erzählt Charles Lewinsky in seinem neuen Roman Der Halbbart. Ein gelungener historischer Roman mit einer ebenso gelungenen Erzählperspektive, nämlich der eines kleinen Kindes, das das Geschichtenerzählen liebt.


Man mag Martin Ebel nicht widersprechen, wenn er in seinem Zitat auf dem Buchrücken Charles Lewinsky den vielseitigsten Schweizer Schriftsteller nennt. Denn der 1946 geborene Autor macht sich tatsächlich die Mühe, für seine Bücher immer eine eigene Sprache zu entwickeln. So war es in seinem letzten Roman Der Stotterer beispielsweise eine stark von der Bibel beeinflusste Prosa, die in Form eines Brief- und Bekenntnisromans dargeboten wurde.

Und auch seine Plots kreisen meist um verschiedene Themen. So erzählte er in Melnitz eine jüdische Familiensaga (die im kommenden Jahr ebenfalls bei Diogenes noch einmal neu aufgelegt wird), beschrieb in Gerron die fiktive Biographie eines jüdischen Filmstars oder in Kastelau die Geschichte eines Filmdrehs zur Zeit des Dritten Reichs.

Zurück ins 13. Jahrhundert

Nun hat er sich in Der Halbbart einer völlig neuen Thematik zugewandt. Er erzählt einen historischen Roman, der weit zurückspringt in die Geschichte der Schweiz, genauer gesagt ins 14. Jahrhundert. Den Hintergrund des Romans bildet der sogenannte Marchenstreit. Beginnend um 1100 stritten hier die Mönche des Klosters Einsiedeln, bzw. deren Schutzherren und die Bevölkerung des Örtchens Schwyz um die Vorherrschaft . Der Konflikt zwischen den Parteien schwelte schon Jahrzehnte und hatte schon verschiedene Höhepunkte wie Exkommunikation, Drohbanne und Streitschlichtungen erreicht, ehe wir mit Sebi mitten hinein in den Konflikt geworfen werden.

Charles Lewinsky - Der Halbbart (Cover)

Dieser wächst zusammen mit seinen Brüdern Poli und Geni vaterlos in einem kleiner Schweizer Weiler heran. Von seiner Umgebung wird er aufgrund seiner schwächlichen Konstitution nur als Finöggel belächelt. Der Dorfbenjamin unterstützt den Totengräber und muss schon bald festellen, dass der Tod allgegenwärtig ist. Seine Mutter verstirbt und so wird er als Waise von seinen Brüdern ins Kloster geschickt. Sebi, eigentlich Eusebius, erlebt so die Klostergemeinschaft, der er nur wenig abgewinnen kann. Er verlässt die Brüder bald, um in sein Heimatdorf zurückzukehren.

Bei allen Turbulenzen, die sein Leben für ihn bereithält, findet Sebi im Halbbart eine Art väterlichen Freund. Dieser Halbbart ist ebenfalls ein Außenseiter im Dorf. Dem Scheiterhaufen entkam er einst nur knapp, seitdem zieren entstellende Brandnarben und eben nur ein halber Bart sein Gesicht. Der Halbbart stellt sich als sehr intelligenter Mann heraus, ein Forscher, ein an der Heilkraft der Natur interessierter Mensch. Auch wenn die Epoche der Aufklärung noch weit entfernt ist – im Halbbart lässt sie sich schon vorausahnen. Für Sebi bedeutet der Halbbart Orientierung im Leben und die Gewissheit, dass er seinen eigenen Weg gehen darf, fernab der Erwartungen anderer an ihn.

Von Kriegstraumata und der Verführbarkeit der Massen

Mit dem Ich-Erzähler Sebi hat Charles Lewinsky eine kluge Erzählentscheidung getroffen. Denn die Themen, von denen Lewinsky hier erzählen will, werden durch den kindlichen, aber nicht unklugen Blick Sebis verstärkt und entfalten eine ganz eine Wirkung.

So erzählt uns Sebi davon, wie sein Onkel Alisi nach seinem Kriegsdienst in Italien als Söldner zurück nach Hause kehrt. Ohne, dass es Sebi groß aussprechen muss, wird offenbar, wie die Kriegstraumata in den Landsknechten fortwirken, und welche Auswirkungen die nicht aufgearbeiteten Kriegserlebnisse der Krieger für die Dorfbevölkerung haben. Über die Geschichte des Halbbarts fließt auch das Thema der Verführbarkeit der Massen und die Wankelmütigkeit der Menschen in das Buch ein. Wenn der Halbbart Sebi seine Geschichte erzählt, wie er verbrannt werden sollte, am Pranger der Lächerlichkeit preisgegeben wurde oder im Lauf des Buchs vor Gericht landet, dann ist das gerade durch die naive Erzählweise Sebis besonders wirkmächtig.

Dieser Effekt, den schon Günter Grass für seinen Erzähler Oskar Mazerath in Die Blechtrommel zu nutzen wusste, er funktioniert auch hier wieder.

Sebis Blick auf die Welt ist ein origineller, der aber auch das soziale Leben im Dorf und die Psychologie der Menschen gnadenlos demaskiert. Wenn uns Sebi etwa erzählt, wie er Zeuge an einem Überfall der Dorfbewohner auf das Kloster Einsiedeln ist, dann hat das eine Wucht und zeigt das vermeintlich ferne, dunkle Mittelalter hier dann wieder plötzlich ganz nah. Nicht nur dieses Pogrom oder die Suggestion der Massen ist ein Thema, das trotz des zeitlichen Kontextes im Buch durch die Erzählkunst Lewinskys fast zeitlos wirkt.

Die Kunst der Sprache

Apropos Erzählkunst: man kann Charles Lewinsky für seine Bemühung um sprachliche Originalität nur Respekt zollen. Denn weg vom Stotterer im letzten Buch gibt es hier schon wieder eine originelle Erzählstimme zu bewundern. Der Sound in Der Halbbart ist von der kindlichen Erzählperspektive geprägt, die sehr stimmig ist. So stellt Sebi beispielsweise fest, dass seine Mitmenschen bei Rührung oder Trauer plötzlich „Augenwasser“ haben.

Auch ist die Sprache von Helvetismen durchsetzt, die eine Erinnerung an die damalige Sprache wecken. Man muss sich auf diese Erzählweise einlassen, die eng am mündlichen Erzählen orientiert ist. Spätestens nach ein paar Dutzend Seiten hat sich aber der erzählerische Reiz entfaltet und entwickelt auch großen Witz, etwa wenn Sebi mit ganz eigenen Sprichwörtern die Realität ins Auge fasst:

Außerdem, das hat sich dann später herausgestellt, war ihr Plan nicht wirklich geheim geblieben; daran waren sie selber schuld, weil sie das Maul nicht hatten halten können. Mir hat ja auch keiner was gesagt, und ich hab trotzdem von dem Überfall gewusst; wenn alle Hühner gleichzeitig anfangen zu gackern, fragt sich auch der dümmste Bauer, was da wohl für Eier gelegt werden.

Lewinsky, Charles: Der Halbbart, S. 440

Eine Hymne auf das Erzählen

Generell ist das Erzählen ein großes Thema des Buchs, sowohl in der Erzählform als auch in Figuren und Handlung. Eine dieser zentralen Figuren etwa ist das Teufels-Anneli, die in den dunklen Wintermonaten übers Land zieht, um in den Häusern der Dorfbewohner gegen Kost und Logis zu erzählen. Sebi selbst wird später zu ihrem Lehrburschen und präsentiert am Ende des Buchs sein erzählerisches Meisterstück, das den Ausgang der Legende um die Schlacht am Morgarten bildet. Und so ist die Bemerkung im Klappentext auch nicht falsch, wenn diese behauptet, dass Lewinsky davon erzählt, wie aus Geschichten Geschichte wird.

Und auch Charles Lewinsky selbst beweist in Der Halbbart einmal mehr seine Klasse als Geschichtenerzähler. Wie er das Leben im Dorf schildert, wie er Sebi zum Leben erweckt und wie er fabulierfreudig seinen Erzählbogen über fast 700 Seiten spannt, ohne ihn reißen zu lassen, das zeugt von hoher Kunst.

Fazit

Dass die Jury Charles Lewinsky für den Deutschen Buchpreis nominiert hat, ist mehr als nachvollziehbar. Ähnlich wie in Christine Wunnickes Die Dame mit der bemalten Hand ist auch hier ein Buch zu entdecken, dass einen ganz eigenen Zugriff auf historisches Erzählen bietet. Fernab aller erzählerischer Dutzendware gelingt Charles Lewinsky ein originelles Buch. Eines, bei dem Erzählperspektive und Themen überzeugen. Eine Hommage ans Geschichtenerzählen und ein wirklich starker (historischer) Roman.


  • Charles Lewinsky – Der Halbbart
  • ISBN 978-3-257-07136-8 (Diogenes)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €

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