Steffen Kopetzky – Monschau

Steffen Kopetzky bleibt seinem Schauplatz Eifel treu. Schilderte er in seinem zuletzt erschienen Roman Propaganda die die Schlacht im Hürtgenwald am Ende des Zweiten Weltkriegs, so spielt Kopetzkys neue Erzählung nun im Jahre 1962 dort in der Eifel. Schauplatz ist das beschauliche Städtchen Monschau, südlich von Aachen gelegen, fast direkt an der Grenze zu Belgien. Dort kommt es im Anfang des Jahres zu einem Pockenausbruch. Ein Monteur der ortsansässigen Ritherwerke hatte sich auf einem Indienaufenthalt mit den tückischen Viren infiziert. Doch anstelle der Einhaltung der strengen Quarantäneregeln feierte der Monteur im Anschluss an seinen Auslandsaufenthalt Weihnachten und traf viele Kolleg*innen. Mit der Folge dieses Verhaltens sieht man sich gleich zu Beginn des Buchs konfrontiert: es kommt zu einer Pockenendemie in Monschau.

Während der Chef der Ritherwerke die Produktionsfähigkeit seiner Werke in Gefahr sieht und den Betrieb auf gar keinen Fall einschränken will, ist es die Wissenschaft in Form des Düsseldorfer Dermatologen Günther Stüttgen und dem griechischen Medizinstudenten Nikos Spyridakis, die auf einen lokalen Shutdown drängt, um Infektionsketten nachzuverfolgen und den Ausbruch der Viren einzugrenzen. Zwischen den beiden Positionen entfalten sich einige Spannungen, die durch eine beginnende Liebesgeschichte und alte Verbindungen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs zusätzlich belastet werden.

Eine frappierende Ähnlichkeit mit unserer Gegenwart

Man kann Monschau nicht lesen, ohne das von Kopetzky geschilderte Geschehen permanent im Kopf mit unserer pandemischen Gegenwart abzugleichen. Die Ähnlichkeiten sind ja frappierend. Ähneln sich der Verlauf und die Bilder der Pandemie (wenngleich hier Nikos Spyridakis hier noch in eine alte Stahlkocheraurüstung schlüpfen muss, um sich vor den Viren zu schützen) sind es vor allem die Fehler im Umgang mit der Endemie dort, die bei der Lektüre mit dem Kopf schütteln lassen ob der Unfähigkeit, etwas aus der Geschichte zu lernen.

Steffen Kopetzky - Monschau (Cover)

So ist der Karneval den Monschauer*innen heilig und soll nicht der Virenbekämpfung geopfert werden. In der Folge begeben sich zahlreiche Monschauer*innen ins benachbarte Dorf, um dort trotz der zahlreichen Vireninfektionen sorglos zu feiern und sich dem Amüsement hinzugeben. Die Parallele zu einem ähnlich halsstarrigen Beharren auf Starkbierfeste, Skigaudi und Karneval während der aktuellen Pandemie ist bestürzend.

In der genauen Beschreibung des Ablaufs des Pockenausbruchs entfaltet Monschau die Kraft eines mitreißenden Dokudramas. Kopetzky nimmt verschiedene Figuren und ihren Blick auf die Pandemie in den Blick und zeigt ihre Beweggründe für ihr Verhalten. Vom tumb-strategischen Direktor der Ritherwerke bis hin zu Spyridakis, dem der aufkeimende Liebe zur jazzhörenden Erbin der Ritherwerke Kraft gibt, gelingt es Kopetzky, nachvollziehbare Figuren zu gestalten. War schon Propaganda eine große Verbeugung vor dem ehemaligen Wehrmachtsoffizier Günther Stüttgen, so führt er in Monschau diese Verbeugung fort.

Wie ein Christian Drosten des Jahres 1962 wirkt dieser Stüttgen in der Beschreibung Kopetzkys, den er als kundigen und umsichtigen Manager des Pockenausbruchs zeigt (von höchster „strategischer Intelligenz“, S. 96). Unerwartet dramatisch wird das Buch dann in seinem ungewöhnlichen Schluss, der die erzählerischen Fäden aus Propaganda rund um Stüttgen noch einmal aufgreift. Hier wirkt das Buch fast manchmal wie eine Ausarbeitung übrigen Materials, das Kopetzkys letztes großes Schreibprojekt noch bereithielt (was die Qualität des Buchs aber keinesfalls mindert). Denn bis auf kleine stilistische Holprigkeiten habe ich keinerlei Kritikpunkt an diesem Buch.

Ein unterhaltsames medizinisches Dokudrama

Ahnte Vera, dass sie mit dieser Geschichte und ihrem in die Zukunft weisenden Entschluss nun Nikos Spyridakis‘ Herz endgültig zum Schmelzen brachte, so wie der geniale Induktionsofen aus dem Ingenieurskontor ihres Onkels ein Stück Metall? Wurde er in diesem Moment zu einem kupferfarbenen griechischen Ritter, Vera treu ergeben, weil er vermeinte, in ihre Seele geblickt zu haben?

Steffen Kopetzky – Monschau. S. 164 f.

Hätte es auch einzelne Abschweifungen wie etwa die Schilderung der Hamburger Sturmflut im gleichen Jahr oder einige überanstrengte Bilder wie das obige nicht gebraucht, so gelingt es Kopetzky doch ein toller historischer Roman und ein Stück Medizingeschichte, das die Atmosphäre und die belastende Enge dort in den Gassen Monschaus aufgreift. Von Grass, Simmel und „Zwei kleine Italiener“ bis hin zu Stuyvesant und Rémy Martin atmet dieses Buch den Geist des Jahres 1962. Unterhaltsam und informativ zugleich, das ist Monschau von Steffen Kopetzky. Und in seiner Parallele zur Lage unserer Tage wirklich bemerkenswert.

Empfohlen sei an dieser Stelle auch das Video, in dem Kopetzky die Hintergründe seiner Geschichte erläutert:


  • Steffen Kopetzky – Monschau
  • ISBN 978-3-7371-0112-7 (Rowohlt)
  • 352 Seiten. Preis: 22,00 €
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Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong

War in den letzten Wochen von Hongkong die Rede, waren es alles andere als positive Schlagzeilen, die uns von dort erreichten. Die Sanktionen gegen die Demokratiebewegung. Die Verhaftungen bekannter Politaktivisten wie Jimmy Lei oder Joshua Wong. Die Besetzung der Polytechnischen Universität. Das Vorgehen der chinesischen Regierung, allen voran der Regierungschefin Carrie Lam, das die Proteste auslöste. Und die Erkenntnis, dass die Tage der Freiheit und Exklusivrechte für alle Hongkongchines*innen schon gezählt sind.

Diese aktuelle Episode ist allerdings nur ein Beispiel für die wechselvolle Geschichte Hongkongs. Chan Ho-Kei beleuchtet diese in in seinem Kriminalroman Das Auge von Hongkong auf formal ungewöhnliche Art und Weise.


Denn statt sich für eine durchgängige Geschichte zu entscheiden, erzählt Chan-ho Kei gleich sechs Fälle. Fälle, die in unterschiedlichen Jahrzehnten angesiedelt sind und sich von der Gegenwart in die Vergangenheit bewegen. Dreh- und Angelpunkt der Geschichten ist der Ermittler Inspector Kwan, auch genannt Das Auge von Hongkong. Seine deduktorischen Fähigkeiten sind legendär, schon in jungen Jahren erwarb sich der Ermittler einen Ruf wie Donnerhall. Wie es dazu kam, das erzählt uns der chinesische Autor Stück für Stück. Löst Kwan seinen letzten Fall rund um einen Harpunenmord noch auf dem Sterbebett, bekommt er es dann in jüngeren Jahren mit einem genau orchestrierten Überfall, verdächtigen Kollegen oder einer Erpressung zu tun.

Der Sherlock aus Hongkong

Der Vergleich zu Sherlock Holmes ist insofern gerechtfertigt, da wir als Leser oft mit den Polizeikollegen lange im Dunkeln tappen, ehe Kwan dann zur Verblüffung aller Beteiligten die Indizien zu einem schlüssigen und oftmals sehr überraschenden Schluss bringt. Doch nicht nur Kwan glänzt in diesem über 570 Seiten starken Episodenkrimi. Es gibt auch einen heimlichen Hauptdarsteller, nämlich Hongkong.

Chan-ho Kei siedelt seine Erzählungen in verschiedenen Distrikten an (die man dank der Karte im Vorsatz gut zuordnen kann); er erzählt vom kolonialen Erbe und den rasanten Veränderungen, denen die Stadt unterlag. So bekommt man einen guten Eindruck von der wechselvollen Historie Hongkongs, die sich in der Gegewart nur konsequent fortsetzt. Wer Das Auge von Hongkong gelesen hat, versteht auch aus der Distanz diese Stadt und ihre Bedeutung besser.

Die Verbindung aus Stadtgeschichte und Kriminalerzählungen gelingt Chan-ho Kei überzeugen. Und wenngleich die Übersetzung wie schon bei 64 von Hideo Yokoyama einen Umweg geht und statt aus der Originalsprache aus der englischen Übersetzung von Sabine Längsfeld ins Deutsche übertragen wurde, ist das Ergebnis durchaus stimmungsvoll.

Fazit

Möchte man die Geschichte Hongkongs etwas besser verstehen, ist man mit diesem Krimi gut beraten. Sucht man ein formal ungewöhnlichen Krimi, dann ist man mit diesem Buch ebenfalls gut beraten. Und möchte man mal wieder in guter alter Arthur Conan Doyle-Manier über Verbrechen und Verbrecher rätseln, auch dann ist dieses Buch eine wirkliche Empfehlung. Drei gute Gründe, um sich Das Auge von Hongkong von Chan Ho-Kei einmal näher anzusehen!


  • Chan Ho-Kei – Das Auge von Hongkong
  • Aus dem Englischen von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-85535-028-5 (Atrium)
  • 576 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ling Ma – New York Ghost

In China greift ein neuartiges Virus um sich. Bei einer Ausbreitung in China bleibt es nicht, schon bald wird das sogenannte „Shen-Fieber“ zu einer Pandemie, bei der es keine Heilungschancen gibt. Die USA riegeln sich ab, die See- und Luftwege nach China werden abgeschnitten. Und doch ist das Virus mobiler als gedacht. Schon bald breitet es sich auch in den USA aus, trotz der Pflicht zu Schutzmasken und vermehrter Hygiene. Die Gesellschaft driftet zunehmend auseinander, vereinzelt sich, tritt den Rückzug ins Private an.

Klingt wie eine Blaupause zu unserer aktuellen Situation? Auf alle Fälle – allerdings, und das ist das Bemerkenswerte: dieses Buch erschien bereits 2018. Ling Ma verfasste damals New York Ghost, das nun aufgrund seiner Prophetie geradezu unheimlich wirkt. Ein Buch, das man auf der Suche nach Ablenkung von der Gegenwart besser nicht in die Hand nehmen sollte. Wer allerdings originelle Endzeiterzählungen zu schätzen weiß, der kann hier unbedingt zugreifen.

Alles beginnt mit einem dystopischen Setting. Die Erzählerin Candace Cheng hat sich einer Gruppe Überlebender in einem postapokalyptischen Amerika angeschlossen. Fast alle Menschen sind tot, die Erde wirkt unbevölkert. So etwas wie eine Zivilisation gibt es nicht mehr. Candace wurde in einem Taxi von ein paar Überlebenden aufgefunden, die sich nun unter der Leitung eines Anführers auf den Weg machen, um eine Mall in ihren Besitz zu bringen. Doch wie kam es zu dieser Situation? Davon erzählt Candace in Rückblenden.

Auf der Suche nach Identität

Dabei beschränkt sich Ling Ma allerdings glücklicherweise nicht auf eine pure dystopische Erzählung, sondern bringt einige Themen mehr in ihren Roman ein. So ist Candace das Kind zweier chinesischer Einwanderer und in ihrer Suche nach einer Identität zwiegespalten. Einerseits wird sie durch die familiären Wurzeln und Aufstiegshoffnungen geprägt, auf der anderen Seite möchte sie sich auch dem amerikanischen Lebensstil anpassen.

Immer wieder durchstreift sie vor dem Ausbruch des tödlichen Fiebers New York. Sie beobachtet Menschen, wandert durch Chinatown und pflegt ein Blog mit dem sprechenden Titel New York Ghost. Wie ein Geist durchmisst sie ein New York, in dem sie keinen rechten Anschluss finden mag, fotografiert urbane Szenen und ist von Unrast geprägt.

Diese Unrast im Charakter von Candace Cheng steht in einem groben Kontrast zu ihrer Arbeitsdisziplin, die von einem hohen Arbeits- und Leistungsethos geprägt ist. Jeden Tag begibt sie sich pflichtbewusst in ihre Arbeit nahe des Time Square, wo sie für einen großen Verlag Bibelprojekte vergibt und koordiniert. Der Verlag zeichnet sich durch ein immenses Preisdumping aus, weswegen die Bibel zumeist im Ausland gefertigt werden müssen, genauer gesagt in China.

Und obwohl Candace qua Job ganz nah dran ist an den Ereignissen, die von China ausgehend ihren Lauf nehmen, bekommt sie zunächst wenig davon mit. Sie stürzt sich in die Arbeit und selbst als New York schon ganz entvölkert und entgeistert ist, schleppt sie sich mit stoischer Disziplin in die Arbeit. Denn die Ordnung muss ja aufrechterhalten werden.

Doch irgendwann muss auch Candace einsehen: in einer Welt, in der fast niemand mehr lebt, in der die öffentliche Ordnung komplett zusammengebrochen ist, hilft auch ein hohes Arbeitsethos nur bedingt, um zu überleben.

Vom Überleben, Arbeitsethos und dem Shen-Fieber

Eine der Lobeshymnen auf das Buch preist New York Ghost als eine Mischung aus The Office und The Leftovers. Und so krude es klingen mag – das trifft den Kern sehr gut (auch wenn ich vom Humor der Ricky Gervais-Serie hier nur bedingt etwas merkte). Ling Ma bringt in ihrem Buch viele scheinbar widersprüchliche Themen zusammen. Die hellsichtige Schilderung einer Pandemie. Betrachtungen der amerikanischen Gegenwart durch eine chinesischstämmige Migrantin. Schilderungen unserer teilweise absurden Arbeitswelt und ihrer ökonomischen Folgen. All das führt ihr Buch zusammen und vergisst dabei auch die Spannung nicht. Denn während Candace immer wieder zurückblickt und so langsam an Kontur gewinnt, treibt die Handlung in der entvölkerten Gegenwart weiter voran.

Immer wieder bricht die Gruppe der Überlebenden zu sogenannten Pirschen auf. Man begibt sich auf die Suche nach der Sicherheit verheißenden Mall. Und zu allem Überfluss muss Candace auch noch ein allesentscheidendes Geheimnis vor der Gruppe Überlebender verbergen. Das Überleben in einer pandemischen Endzeit, es ist mehr als kompliziert.

Fazit

Hätte man hier im Deutschen Ling Mas Roman schon zum Erscheinungszeitpunkt lesen können, man hätte das Buch sicher als reine Fiktion abgetan. Eine Endzeiterzählung mehr, wie sie sicher nie eintreten würde. Doch schon zwei Jahre später hatte die Gegenwart das Buch in Teilen eingeholt. Bei literarisch schwächeren Titeln wäre zu diesem Zeitpunkt das Mindesthaltbarkeitsdatum überschritten gewesen. Die Realität hätte die Fiktion überschrieben und das Buch als schwachen Abklatsch des Erlebten hinter sich gelassen, zumal die Schilderung der Dystopie kein besonderes Alleinstellungsmerkmal gegenüber ähnlichen Veröffentlichungen hat.

Glücklicherweise hat sich Ling Ma aber eben nicht nur auf eine Endzeiterzählung von erschreckender Prophetie verlassen. Ihr Buch bietet ja wie eingangs erwähnt noch andere Blickwinkeln. New York Ghost ist in seiner Gesamtheit ein faszinierendes und hochaktuelles Leseerlebnis. Auch unter dem Aspekt der aktuellen Diskussion über die Frage von Repräsentanz in der Literatur ist das Buch mehr als lesenswert.

Ein Dank gebührt der Herausgeberin und Übersetzerin Zoe Beck. Sie hat das Buch mit ihrem Indie-Verlag CulturBooks dem deutschen Buchmarkt zugänglich gemacht. Und bietet uns damit die Chance auf eine echte Entdeckung einer jungen Autorin mit prophetischen Gaben.

Auch auf dem Blog Poesierausch wurde das Buch besprochen.


  • Ling Ma – New York Ghost
  • Aus dem Englischen von Zoe Beck
  • ISBN 978-3-95988-152-4 (CulturBooks)
  • 359 Seiten. Preis: 23,00 €
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Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz

Das Geheimnis großer Literatur

Was macht ihn aus, den guten Stil? Worauf kommt es an, was unterscheidet den Könner vom mittelmäßigen Autor beziehungsweise die Könnerin? Michael Maar wählt in seinem umfangreichen Stilführer die einzig erfolgsversprechende Herangehensweise: die der Subjektivität. Schon zu Beginn macht Maar klar, dass guter Stil genauso wie die Schönheit im Auge des Betrachters liegt. Dennoch versucht er sich an einer Unterscheidung von gutem und schlechtem Stil und rückt dabei sowohl die Makro- als auch die Mikroebene des Stils in den Blick

Herzstück des Romans ist das Porträt von 50 prägenden Stilist*innen der deutschen Sprache. Bewusst konzentriert sich Maar nur auf deutschsprachige Autor*innen (die Tücke der Übersetzung von Stil in eine andere Sprache streift er zu Beginn kurz). Einsetzend in der Weimarer Klassik beginnt die Reise durch die fiktive Bibliothek, macht einen Abstecher zu den österreichischen Autor*innen und endet dann in der Gegenwart bei Wolfgang Herrndorf und Clemens J. Setz.

Was macht guten Stil aus?

Michael Maar - Die Schlange im Wolfspelz (Cover)

Um diese Bibliothek herum gruppiert Maar einige Kapitel in dem er sich mit dem Handwerkszeug für guten Stil auseinandersetzt. Was ist Stil und was versteht der Autor darunter? Von der Interpunktion bis hin zum gelungenen Nebeneinander von Hypo- und Parataxen reichen die Betrachtungen des Germanisten, die immer nachvollziehbar und klar argumentierend sind. Was macht eine Metapher zu einer gelungenen? Warum klingen manche Dialoge so furchtbar hölzern, andere wieder geistreich und mitreißend? Und was hat es mit der titelgebenden Schlange im Wolfspelz auf sich?

Auch einen Kürzestausflug zur Lyrik erlaubt sich Maar und stellt fest, dass diese ja fast die Essenz von Stil beinhaltet. Durs Grünbein, Ann Cotten, Jan Wagner und Monika Rinck werden in den Blick genommen und ihre lyrischen Produktionen genau untersucht. Ein vergnüglicher Ausflug in die Welt der Erotik und des Todes schließt sich an, ehe die Auflösung der beiden Literaturquiz und ein umfangreiches Literaturverzeichnis mit bibliographischen Angaben dieses monumentale Buch abschließen

Mit Leidenschaft und Humor

Um gleich einmal die von Michael Maar so klug genutzte subjektive Herangehensweise auch für diese Besprechung in Anspruch zu nehmen: die Lektüre von Die Schlange im Wolfspelz macht einfach große Freude. Michael Maar argumentiert klar und nachvollziehbar. Auch ist er professionell genug, manche Entscheidungen über den jeweiligen Stil auch dem Leser selbst zu überlassen oder eigene ambivalente Urteile zuzulassen (so etwas bei Hans Henny Jahnn).

Auch ist er so frei, die jeweilige Handschrift der gerade besprochenen Stilistin oder des Stilisten sanft zu imitieren, zu umspielen und so die jeweiligen Merkmale in den eigenen Text zu überführen. Das ist manchmal ironisch, mal kalauernd, mal schmunzelnd, aber immer respektvoll. Ein Beispiel für alle diese Merkmale zugleich findet sich in folgendem Paragraph, der sich mit der Prosa Arno Schmidts auseinandersetzt:

Wir behalten uns vor, die Prosa des späten Schmidt bei aller genialischen oder genitalischen Interessantheit letztlich partiell entsetzlich zu finden. Sein Mädchen- und Frauenbild ist es in jedem Fall. Räusper: Phall

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 521

Mit einer Faszination für das Entlegene

Schön auch neben dem Humor, der in jeder dieser über 650 Seiten steckt, ist die Leidenschaft Michael Maars für das Entlegene, das Apokryphe. Neben allem Erwartbaren (Thomas Mann, Brigitte Kronauer, Martin Mosebach) überrascht er immer wieder. So lobpreist er etwa die Prosa Hildegard Knefs:

Wie blaß dagegen die gerühmte Kunstprosa Christa Wolfs. Sakrileg! Aber wir stehen hier und können nicht anders: für Knefs Memoiren gäben wir die ganze Kassandra.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 394

Auch andere schon wieder fast vergessene Autor*innen wie Wilhelm Raabe, Unica Zürn, Alexander Lernet-Holenia oder Ulrich Becher lässt er seine Aufmerksamkeit zuteilwerden und macht Lust auf ihre (Wieder)Entdeckung. Wie ein guter Lehrer macht er neugierig, reist manche Erzählungen an, ergeht sich aber nicht in ausufernden Inhaltsreferaten oder ähnlich Unarten. Vielmehr sind seine Porträts der Autor*innen wirkliche Kurzporträts, pointiert und konzise. Sie machen Lust auf eine weitere Beschäftigung mit den jeweiligen Schreibenden.

Immer wieder illustriert er seine Geschmacksurteile mit passenden Zitaten aus entsprechenden Werken und nutzt auch das Stilmittel des Vergleichs, um die jeweiligen Besonderheiten seiner Autor*innen herauszuarbeiten. So stellt er beispielsweise eine Wasserfallszene aus dem Zauberberg von Thomas Mann der aus dem Oeuvre Heimito von Doderers – jenem „austriakischen Kaktus“, so Maar – gegenüber.

Evident gelingt es ihm, Übereinstimmungen oder Unterschiede im Stil so herauszuarbeiten. Auch zeigt er, warum man Felix Salten zugleich als Verfasser des Bambis und der Josefine Mutzenbacher zuordnen darf (an den Satzzeichen sollt ihr ihn erkennen!). Hätte man Michael Maar als Deutschlehrer in der Schule gehabt, die Literaturbegeisterung hätte um sich gegriffen. Viele Lektüretrauma hätten vermieden und unzählige Schüler*innen über das Schulende hinaus zu Leser*innen gemacht werden können. Ein Jammer!

Mit keinem Anspruch auf Vollständigkeit

Auch macht Maar keinen Hehl aus der Tatsache, dass sein Buch keinen umfassenden Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. So formuliert er am Ende seines Buchs:

Als der Pfiff der Trillerpfeife ertönte, die letzten Türen geschlossen wurden und die Lokomotive langsam in Richtung Verlagshaus losdampfte, verblieb noch ein Grüppchen Passagiere im Wartesaal Daß es Droste-Hülshoff, Horváth, Hebbel, Mörike, Nestroy, von Keyserling, Jonson, Kempowski, Dürrenmatt, Rühmkorf, Serner und ein paar andere nicht mehr auf den Zug geschafft haben, ist zu bedauern und keineswegs ihre Schuld.

Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz, S. 545

Dieser Zustand ist natürlich bedauerlich. Aber einerseits lässt er sich mit der passenden Lektüre leicht beheben. Und andererseits gibt er Hoffnung auf einen Nachschlag, von dem man gerne noch hätte.

Fazit

Dieses Buch ist ein Sachbuch auf höchstem Niveau. Kenntnisreich, anregend, humorvoll. Michael Maar gelingt es hier unnachahmlich, Lust auf Literatur zu machen. Diese Reise durch die Welt der deutschen Literatur ist ein Erlebnis. Was man alles mit Sprache anfangen kann, hier wird es einem beim Lesen offenbar. In die Hände dieses kundigen Reiseleiters kann man sich ohne Sorgen begeben. Überraschungen, Kurzweil, Begeisterung. All das erwartet einen auf den vielen hundert Seiten dieses Buchs. Es ist anregend, geistessprühend, kurzweilig, bestechend klar im Urteil. Und es zeigt, wie beglückend das Leben als Leser*in sein kann.

Dass Die Schlange im Wolfspelz für den ersten Deutschen Sachbuchpreis nominiert wurde, begrüße ich sehr. Maars Buch verdient alle Ehre und viele weitere begeisterte Leser*innen. Denn wer hier keine Lust auf Literatur bekommt, dem ist auch nicht mehr zu helfen!

https://www.youtube.com/watch?v=AH3kZOZpTq8
  • Michael Maar – Die Schlange im Wolfspelz
  • ISBN 978-3-498-00140-7 (Rowohlt)
  • 656 Seiten. Preis: 34,00 €
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Polly Samson – Sommer der Träumer

Ein Elysion und ein Sommer, der scheinbar niemals zu Ende geht. Davon erzählt Polly Samson in ihrem Roman Sommer der Träumer, der auf griechischen Insel Hydra im Jahr 1960 spielt. Darin erzählt sie von (Überlebens-)Künstlern, Liebe, Eifersucht und dem Ringen um künstlerischen Erfolg. Und mittendrin die junge Erzählerin Erica, die nach dem Tod ihrer Mutter ihren Platz im Leben sucht.


Der Buchmarkt hat erkannt – was uns Leser*innen gerade fehlt. Unbeschwerte Sommerurlaube in fernen Ländern. Pandemiebedingt ist eine allzu exzessive Reisetätigkeit nicht möglich, weshalb uns die Verlage in diesem Bücherfrühling umso mehr mit Sommerbüchern im Dutzend versorgen. Egal ob Sommer in einer amerikanischen Kleinstadt in den 80ern (Benedict Wells mit Hard Land), in Wicklow im Irland 1959 (Sebastian Barry mit Annie Dunne) oder in der deutschen Provinz (Ewald Arenz mit Der große Sommer): Sommerbücher liegen im Trend. Der Ullstein-Verlag und Polly Samson erweitern die Palette neu erschienener Romane nun um den Schauplatz Griechenland. Dorthin verschlägt es die jugendliche Erica zusammen mit ihrem Bruder Bobby.

Ihre Mutter ist gestorben, das Auskommen zuhause mit dem Vater schwierig, und so beschließen die Geschwister, nach Griechenland aufzubrechen. Die Mutter hat den beiden einen Wagen und ein ebenso geheimes Sparkonto mit tausend Pfund Inhalt hinterlassen. Zudem hat Charmian Clift, eine frühere Mitbewohnerin im Haus der Familie, ihr neues Buch namens Peel me a lotus an die Familie geschickt. Darin erzählt sie von ihrem Leben auf einer griechischen Insel namens Hydra. Da sich Erica von Charmian Auskünfte über das Leben ihrer Mutter und deren Geheimnisse erhofft, steht der Beschluss der jungen Menschen schnell fest. Zusammen mit Ericas Freund machen sie sich gen Griechenland auf, das Land der Griechen mit der Seele suchend.

Eine pulsierende Gemeinschaft

Auf Hydra erwartet sie eine lebhafte Gruppe von Malern, Schriftsteller*innen und Einheimischen. Schnell wachsen die so unterschiedlichen Menschen zu einer Gemeinschaft zusammen. Man zieht in Häuser, organisiert sich in Gruppen, erkundet die Insel und feiert rauschende Feste, stets auch auf der Suche nach der nächsten künstlerischen Eingebung. Das Zentrum der pulsierenden Gemeinschaft ist dabei stets Charmian Clift, die als mütterliche Inspirations- und Seelenhilfe fungiert. Auch Erica sucht beständig ihre Nähe.

Man liebt und streitet sich, Liebe, Treue und Affären sind ein beständiges Klatschthema. Es kriselt in so mancherlei Beziehung, mancher verschwindet im Laufe des Sommers von der Insel, andere Künstler stoßen wieder zur Gemeinschaft, wie etwa der junge kanadische Poet namens Leonard. Es hat den Anschein, als würde der Sommer auf der Insel für die Künstlergemeinschaft nie zu Ende gehen. Doch auch im vermeintlichen Paradies ist alles endlich.

Von großer Beschreibungsfreude

Davon erzählt Polly Samson in ihrem Buch auf detailgenaue Art und Weise. Ihr Buch atmet förmlich den Geist jenes Sommers vor siebzig Jahren, in dem alles noch nicht so kompliziert schien (aber in Wahrheit natürlich auch war). Wem der Griechenlandurlaub fehlt, bei dem kommt während der Lektüre sicher das ein ums andere Mal Nostalgie auf.

Mit zusammengekniffenen Augen blicke ich über den Golf zu den Bergen von Troizen. Schönes breitet sich vor mir aus. Das Meer liegt wartend da, der Hafen verspricht Drama, der Fels hallt von den Glocken der vielen Inselkirchen wider. Ich stehe am oberen Ende der Stufen und sauge all das in mich auf. Die Hügel von gelben Blüten entflammt, die Berggipfel mit Rotgold überzogen, Quarz funkelt in den geweißten Mauern. Weinlaub ziert den weiß übertunnelten Anstieg. Reife Aprikosen zieren einen gewölbten Eingang, Wildblumen sprießen aus den Ritzen eingefallener Mauern und Ruinen. In einer Tür schüttelt eine Frau einen Teppich aus; selbst der Staub glitzert.

Polly Samson – Sommer der Träumer, S. 81

Diese Schilderungen sind Bonus und Malus des Buchs zugleich. Denn wenn der Berghirte mit seinem Esel über die Bergpfade der Insel zuckelt, im Gepäck rahmiger Joghurt, die Schwammfischer zurückkehren und auf dem Fensterbrett die Honigwabe im Sonnenlicht glänzt, dann schrammt das Ganze oftmals nicht am „Mamma Mia“-Kitsch vorbei, nein, dann ist es „Mamma Mia“-Kitsch. Man wäre nicht überrascht, spränge Pierce Brosnan „Dancing Queen“ knödelnd hinter der nächsten weiß gekalkten Häuserwand hervor.

Aber zugleich ist Polly Samsons Beschreibungsgabe so reich, ihre Schilderungen der Flora und Fauna der griechischen Inselwelt immer reich an präzisen Bildern (Übersetzung Bernhard Robben), sodass ich ihr nach dem abschließenden Lektüreeindruck diese Postkartenkitsch-Passagen gerne verzeihe.

Eine weibliche Coming of-Age-Erzählung

Polly Samson - Sommer der Träumer (Cover)

Ihre Prosa ist reich, geradezu überbordend an Beschreibungsfreude, die das Bild einer nahezu paradiesischen Insel heraufbeschwört. Doch es zählt zu den Qualitäten von Sommer der Träumer, dass das Buch eben nicht nur den Eskapismus feiert, sondern auch von der Suche nach einem Platz im Leben, vom Scheitern von Lebensträumen und der Brüchigkeit der Idylle erzählt. In die Künstlergemeinschaft, die sich auf Hydra trifft, ist die Vergänglichkeit schon eingeschrieben. Und diese Vergänglichkeit und Nostalgie kleidet Polly Samson in schöne Worte und Bilder und schafft so neben aller Nostalgie und allen Kitschmomenten auch einen ernsten Hintergrund ihrer Erzählung.

Zudem ist Polly Samsons Buch der rare Fall einer weiblichen Coming of Age-Erzählung. Ein Genre, das in diesem Bücherfrühling zumeist von Männern bedient wurde. Aber Polly Samson zeigt, dass auch sie mithalten kann im Konzert dieser nostalgischen Adoleszenzromane. Die Zutaten sind die ähnlichen, wie sie etwa die eingangs erwähnten Ewald Arenz, Callan Wink oder auch Benedict Wells in ihren letzten Büchern anwendeten: ein junger Mensch an der Schwelle zum Erwachsenenwerden, ein Sommer, randvoll mit Erlebtem, die Rückschau, aus der heraus die Handlung geschildert wird. Es ist alles drin. Und auch im Vergleich zu den anderen Titeln dieser Saison kann Polly Samson bestehen und aufgrund ihres Beschreibungsreichtums sogar leicht herausstechen.

Fazit

Polly Samson hat ein Buch über den Zustand des Paradieses und dessen Bröckeln geschrieben. Ein Buch, das vielleicht die ein oder andere Nostalgie- und Kitschschleife zu viel dreht, insgesamt aber eine bildmächtige Erzählung über einen längst vergangen Griechenland- und Künstlerbegriff darstellt. Ein starkes Buch, das Sehnsucht nach Griechenland weckt und in diesen unsicheren pandemischen Zeiten wenigstens eine Lehnstuhlreise auf die Insel Hydra erlaubt. Schöne Sommerlektüre mit Mehrwert!


  • Polly Samson – Sommer der Träumer
  • Aus dem Englischen von Bernhard Robben
  • ISBN 978-3-550-20142-4 (Ullstein)
  • 384 Seiten. Preis: 20,00 €
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