Tag Archives: Bauernhof

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister

Erinnerungssuche zwischen eigener Familie und agrikulturellen Studien. Der Geschichtsprofessor Ewald Frie beleuchtet in seinem Buch Ein Hof und elf Geschwister die Veränderungen der Landwirtschaft und des bäuerlichen Lebens – anhand seiner eigenen Familiengeschichte. Ihm gelingt ein einsichtsreiches Buch zwischen Memoir, Studie und Erinnerungsbuch, das mit dem Deutschen Sachbuchpreis 2023 ausgezeichnet wurde.


Die Coronazeit, sie hatte neben allen Übeln und Einschränkungen auch ihr Gutes. So wurden durch die pandemiebedingten Einschränkungen plötzliche neue technische Möglichkeiten ausgetestet – die Schriftstellerin Helga Schubert beispielsweise konnte so am Bachmannpreis in Klagenfurt teilnehmen – und gewinnen, obwohl sie aufgrund der Pflege ihres Mannes an ihr norddeutsches Zuhause gebunden war.

Und auch Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie verdanken wir gewissermaßen der Corona-Pandemie. Denn als plötzlich Archive und Bibliotheken schließen mussten und das öffentliche Leben mehr oder weniger zum Erliegen kam, wurde auch Frie in seinem eigentlichen Forschungsvorhaben ausgebremst.

Die eigene Familie als Ausgangspunkt des Buchs

Stattdessen besann er sich auf seine eigenen familiären Wurzeln und begann seine Arbeit an diesem Buch, indem er seine zehn Geschwister besuchte, die sich in ganz Deutschland niedergelassen haben. Mit all ihnen führte er strukturierte Interviews über ihre Kindheit und die Erinnerung an das Leben damals auf dem Bauernhof ihrer Familie – und vollendete schließlich dieses Buchprojekt anstelle seiner eigentlichen Forschung – wofür es dann in der Folge den Deutschen Sachbuchpreis 2023 gab.

Es ist ein Buch, das Frie selbst wie folgt umreißt:

Der Text ist ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn. Meine Hoffnung ist, dass er Gutes aus beiden Welten zusammenbringt, um ein besonder[e]s Licht auf die Geschichte der Bundesrepublik zu werfen.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 16

Es ist ein Vorhaben, das tatsächlich aufgeht und das tatsächlich den wissenschaftlichen Ansatz des Professors für Neuere Geschichte mit den Erinnerungen der Frie-Familie miteinander vortrefflich vereint und ein ebenso gut lesbares wie einsichtsreiches Buch ergibt.

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben

Denn obwohl Frie mitten hinein in das Innerste seiner eigenen Familie blickt und das katholische Milieu der Nachkriegszeit auf dem münsterländischen Land beschreibt, besitzt Ein Hof und elf Geschwister doch auch etwas über diesen Bezugsrahmen Hinausweisendes, das sich ebenso auf die andere Regionen in Deutschland übertragen lässt, beispielsweise auch die fränkische Gegend, der ich entstamme. Und nicht zuletzt weist Fries Buch auch in diesen Tagen der Bauernproteste und dem Aufbegehren der (noch immer) agrikulturell geprägten Lebensräume noch einmal eine ganz eigene Qualität auf und erklärt durch seine Schilderungen der Veränderungen im bäuerlichen Leben auch Hintergründe der massiven Disruption, die das agrikulturelle Leben seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs bis heute erfahren hat.

Ewald Frie - Ein Hof und elf Geschwister (Cover)

So beginnt Frie seine bäuerliche Familiengeschichte um das Jahr 1945, was nicht nur durch das Ende des Zweiten Weltkriegs eine Zäsur für ganz Deutschland darstellt. Auch sein ältester Bruder kam ein Jahr zuvor auf die Welt und begründete eine ganze Folge an Geschwistern, von denen die jüngste im Jahr 1969 geboren wurde, als Fries Mutter schon 47 Jahre alt war. Er selbst ist das neunte der insgesamt elf Geschwister, der 1962 zur Welt kam und in der Folge schon gar nichts mehr mitbekam von den Jahren nach der „Stunde Null“ und deren Auswirkungen auf den Hof. .

So ist er in seinen Schilderungen dieser Jahre auf die Erinnerungen seiner Geschwister angewiesen, die er thematisch geordnet synthetisiert und auch mit aktueller Forschung und Literatur zusammenführt.

Der Wandel vom nahezu autarken Hof in der Einsamkeit der Höfe hin spezialisierten Höfen und einer Einbindung der einzelnen Höfe in die ländliche Struktur, der Wandel von körperlicher Arbeit auf dem Feld hin zum Einsatz von technischem Gerät und der Wandel hin von einer tiefgläubigen katholischen Familie hin zu einem eher säkulareren Leben mit Volksglaube aber weniger kirchlichen Einfluss, all das lässt sich in den Schilderungen Fries und seiner Geschwister anschaulich nachvollziehen.

Von Wolke II und dem Abschied von Zuhause

So erzählt er von Viehauktionen und dem ganzen Stolz seines Vaters, der rotbunten Kuh „Wolke II“, die der ganze Züchterstolz seines Vaters war. Die unterschiedlichen Wertigkeiten von Frauen- und Männerarbeit, die logische Einbindung der eigenen Kinder in den Hofbetrieb und die unterschiedlichen Ansätze der Generationen bei ihrer Arbeit auf den Höfen im Münsterland, das sind Themen, die Ewald Frie in diesem unterhaltsam zu lesenden wie kurzweiligen Buch schildert und dabei das Leben seines Vaters ebenso wie das seiner Mutter in den Blick nimmt. Der allmähliche Auszug der Kinder von Zuhause, der tiefgreifende Wandel einer bis dahin althergebrachten Logik und Ordnung, der sich innerhalb von wenigen Jahrzehnten vollzog und der Abstand, den seine Geschwister dann vom bäuerlichen Leben suchten, all das bringt den Professor zu folgendem etwas wehmütigen Fazit:

Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben war für uns kein trauriger Abschied. Er bot Chancen, die meine Mutter nicht hatte und mein Vater wahrscheinlich nicht hätte haben wollen. Dennoch bleiben wir duch unsere Herkunft geprägt. Die Welten unserer Eltern waren zwar nicht immer schon da, wie wir als Kinder geglaubt hatten. Sie waren kurz und veränderlich, wie dieses Buch gezeigt hat. Dennoch aber haben sie langfristige Folgen. Wir Geschwister tragen Spuren der Geschichte in neue Welten. Wir alle reisen in neue Zukünfte. Aber die Vergangenheit wird uns begleiten.

Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister, S. 168 f.

In diesem Sinne ist Ein Hof und elf Geschwister ein hervorragender Träger dieser Spuren der Geschichte – und ein Buch, das anschaulich vor Augen führt, welche Folgen dieser Wandel im Laufe der Zeit hatte – und der auch die Bauernproteste zumindest in Ansätzen erklärt, indem er die ständigen nötigen Anpassungen und Veränderungen in der Landwirtschaft vor Augen führt, deren rasche Abfolge den Bäuerinnen und Bohern eine hohe Anpassungsfähigkeiten und Flexibilität abverlangt(e). Und auch die heutigen Trends hin zu Monokulturen und einer hohen Subventionsabhängigkeiten sind Themen, die Fries Buch zumindest berührt und so wichtige Verständnisgrundlagen für den aktuellen Protest schafft.

Fazit

Ein Hof und elf Geschwister ist ein Buch, das zurückschaut, das Einsichten liefert, die Stadtbevölkerung zumindest informatorische etwas mit der Landbevölkerung zusammenführt und das dabei trotz seiner Tiefe in den familiären Tiefen bohrt und wirklich gut unterhält – was kann man mehr von einem Sachbuch verlangen?


  • Ewald Frie – Ein Hof und elf Geschwister
  • Artikelnummer 175126 (Buechergilde Gutenberg)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Franck Bouysse – Rauer Himmel

Die Cevennen sind eine Landschaft, die literarisch genauso wie im richtigen Leben recht dünn besiedelt ist. Robert Louis Stevenson beschrieb einst Eine Reise mit dem Esel durch die Cevennen, damit hat es sich aber. Das Gebiet dort im Zentralmassiv ist spärlich besiedelt, Bodenschätze oder eine florierende Industrie sind Fehlanzeige. Nach und nach blutete die Region aus und litt unter großer Abwanderung, die sie bis heute prägt.

Gus ist einer, der dageblieben ist. Er bewirtschaftet seinen Hof und lebt ein Leben als Eigenbrötler. Ein Hund, ein gelegentlicher Ratsch mit seinem Nachbarn Abel, das war es mit seinen sozialen Kontakten. Er hat sich eingerichtet in seinem Leben, das dem Lauf der Natur unterworfen ist. Doch der stete Gang der Dinge gerät schon bald ins Stocken. In der Kälte der Cevennen fällt ein Schuss, der Gus irritiert. Sein Nachbar verhält sich merkwürdig, beharrliche Missionare suchen ihn immer wieder heim und dann entdeckt gerät auch noch sein Hund Mars in einen Kampf. Fußspuren führen vom Kampfort weg und verlieren sich im Schnee, der die Cevennen in eine trügerische Stille getaucht hat. Schon bald überschlagen sich die Ereignisse, die Gus bisher recht übersichtliches Leben durcheinander bringen.

Franck Bouysse‘ Denkmal der Cevennen und des Landlebens

Franck Bouysse - Rauer Himmel (Cover)

Franck Bouysse hat mit Rauer Himmel ein Buch geschrieben, das der Landschaft der Cevennen ein Denkmal setzt. Mit einer eindringlichen Sprache skizziert er Land und Leben. Die karge Landschaft, die eigenbrötlerischen Bewohner und die Macht der Natur, die Mensch und Tier beeinflusst, das sind Themen, die im Mittelpunkt dieses trügerisch ruhigen Kriminalromans stehen.

Eigentlich passiert hier kaum etwas – und doch so vieles. Bouysse gelingt die Kunst, ganz in seinen Einzelgänger-Helden hineinzuschlüpfen und die Welt durch seine Augen zu schildern. Wie durch scheinbar nur minimale Dinge das Leben von Gus innerhalb weniger Tage vom Extrem der Ruhe ins Gegenteil kippt, das lässt sich hier glaubhaft erfahren. Zudem hat Bouysse auch den Mut, das Buch mit einem wahrlichen Knall zu beenden, der Rauer Himmel konsequent und eindrücklich zu seinem Ende führt. Dieses Buch hat Ecken und Kanten und zeigt das Landleben in den Cevennen ungeschönt fernab aller Klischees.

Fazit

Einmal mehr präsentiert uns der Polar-Verlag hier eine Neuentdeckung aus Frankreich, die absolut lesenswert ist. Nicht ohne Grund wurde Rauer Himmel in Bouysses Heimatland preisgekrönt. Ein stark gemachter Country Noir, die Studie eines Eigenbrötlers, die Chronik weniger Tage, die die Gewissheiten eines Lebens ins Gegenteil verkehren. Übersetzt wurde das Buch von Christiane Kayser. Alf Mayer steuert wieder ein kenntnisreiches und informatives Nachwort bei.


  • Franck Bouysse – Rauer Himmel
  • Aus dem Französischen von Christiane Kayser
  • ISBN 978-3-948392-38-3 (Polar)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Melissa Harrison – Vom Ende eines Sommers

Langsam werden die Folgen des Brexit sichtbar. Während sich die Regierung des Landes in symbolischen restituierenden Maßnahmen wie der Einführung von alten Gewichtseinheiten wie Unzen oder antiquierter Eichmaße we dem Crown Stamp übt, herrscht in Weiten Teilen des Landes die Lorry Crisis. Zahlreiche Facharbeiter*innen oder Fahrer*innen sind im Zuge des Abschieds aus der EU zurück auf den Kontinent gegangen, was sich nun in zahlreichen Bereichen des täglichen Lebens bemerkbar macht. So sind die Versorgungsketten brüchig geworden, was häufig zu leeren Supermarktregalen genauso wie zu langen Schlangen vor den Tankstellen führt. Egal ob Nahrungsmittel oder Benzin, der Brexit hat gezeigt, dass es mit der versprochenen neuen Stärke Großbritanniens nicht weit her ist.

Ein ganz anderes Bild zeigt sich da auf dem Buchmarkt. Auf ihm treten vermehrt Bücher in Erscheinung, die ein gegenläufiges Bild Großbritanniens zeichnen. In den Dorfromanen sind es zumeist Protagonist*innen, die auf Bauernhöfen wohnen, in der ländlichen Umgebung fest verwurzelt sind und die aus der sie umgebenden Natur ihre Stärke ziehen. Zu nennen wäre hier beispielsweise Sebastian Barry mit seinem Roman Annie Dunne, der eine widerborstige Frau in den Wicklows 1959 zeigt. J. L. Carr beschreibt in seinem Roman Ein Monat auf dem Land die Gesundung eines Weltrkiegsveteranen im ländlichen Yorkshire. Benjamin Myers lässt in Offene See einen jungen Mann kurz vor dem Ernst des Lebens durch die englische Natur wandern . Und Reginald Arkell zeigt in Pinnegars Garten ein ebenso gegensätzliches Paar, das die Liebe zur englischen Natur, insbesondere der Flora, zusammengeführt hat.

Melissa Harrison - Vom Ende eines Sommers (Cover)

Viele Bücher also, die die Vorstellungen eines unberührten aus der Zeit gefallenen Vereinigten Königreichs bedienen und so konträr zu den aktuellen Entwicklungen stehen. Einmal mehr erscheint nun im Dumont-Verlag ein weiteres Buch, bei dem das Cover an genau die Sorte der obigen Beispiele erinnert. Schwalben, die eine blühende Natur aus Feldern und gesunden Bäume bestehend durchmessen. Helle Farben, blühende Sträucher und Sicht bis zum Horizont. Das verspricht der Melissa Harrisons Roman rein äußerlich – erschöpft sich dann aber gottseidank nicht Landschaftskitsch. Vielmehr ist Vom Ende eines Sommers der genaue Blick auf das Erwachsenwerden einer jungen Frau und die Probleme der ländlichen Bevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg, fernab von jeglicher Empire-Romantik.

Sommer in Suffolk 1933

Wir schreiben das Jahr 1933 – es herrscht Sommer in Suffolk. Als Kind von Bauern weiß die vierzehnjährige Edie um die Fülle und den Reichtum der Natur. Mit den Gleichaltrigen vermag sie nicht allzu viel anzufangen. Stattdessen fasziniert die plötzlich in ihrem Dorf aufgetauchte Constance FitzAllen das junge Mädchen ungemein. Die Journalistin recherchiert über das Dorfleben und hegt ganz eigene Ansichten über den Lebensstil der Dorfbevölkerung. In ihrer Andersartigkeit wird sie für Edie zum Orientierungspunkt und zeigt dem Mädchen eine Alternative zum Altbekannten auf. Doch auch Constance FitzAllen hat ihre nicht so schönen Seiten, die Edie erst spät kennenlernen wird.

Vom Ende eines Sommers ist ein Roman, der die ganze Fülle des britischen Landlebens und der Natur atmet. Insofern verspricht das Cover nicht zu viel. Hier steht alles in voller Blüte, in den Hecken zwischen den Feldern ziept und zirpt es beständig. Melissa Harrisons Buch nimmt aber auch die weniger pittoresken Seiten des Dorflebens der 30er Jahre in den Blick. So grassiert die Armut, Edie Eltern leben am unteren Existenzminimum und sind auf gute Ernten angewiesen, um halbwegs die Schulden auf Abstand zu halten. Der lokale Adel wirft einmal im Jahr ein Fest und fällt ansonsten durch größtmögliche Distanz zur normalsterblichen Bevölkerung auf. Heruntergekommene Höfe und Armut, sie sind ein entscheidender Teil vom Bild des lokalen Englands.

Auch der zurückliegende Weltkrieg hat die Bevölkerung nachdrücklich geprägt und die Erinnerung an die damaligen Ereignisse ist bei den meisten Menschen noch immer präsent. Auf den Feldern Flanderns oder Frankreichs sind viele junge Männer zurückgeblieben, auch auf Edies Hof gab es tragische Verluste zu beklagen. Die Verluste wurden nicht richtig verarbeitet, Männer nehmen sich, was sie wollen. Gleichberechtigung und gegenseitige Achtung sind hier noch nicht wirklich festzustellen. Deshalb übt die so unangepasste und starke Constance einen derartigen Reiz auf Edie aus, die so wenig in die ländliche Umgebung passt, aber gerade deshalb umso mehr vom einfachen Landleben angezogen wird, in das sie sich ganz hineingibt.

Fazit

Durch den genauen Blick auf die Lebensverhältnisse der damaligen Zeit besticht Melissa Harrisons Roman, der sich eben nicht alleine mit Naturschilderungen und Verklärung der „guten, alten Zeit“ begnügt. Das Buch ist in seiner Verschmelzung von romantischen und naturalistischen Ansätzen sehr reizvoll und kombiniert den klassischen Coming-of-Age-Roman mit zeitgeschichtlichem und naturnahem Kolorit. Von Werner Löcher-Lawrence wurde das Ganze in seiner ganzen Beschreibungsfülle ins Deutsche übertragen.

Ein Buch, das wenig beschönigt und nicht den Fehler begeht, die Geschichte der Landbevölkerung zu verklären. Und gerade dadurch gewinnt Vom Ende eines Sommers, das eben kein pures Nostalgiebedürfnis der Leserschaft befriedigt, sondern einen genauen Blick auf die ländliche Geschichte der 30er Jahre in Suffolk liefert. In diesem Buch steckt deutlich mehr, als es das Cover suggeriert!


  • Melissa Harrison – Vom Ende eines Sommers
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-8321-8152-9 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen