Tag Archives: Deutscher Buchpreis 2024

Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?

Eine Frau zwischen Performancekunst und Love-Scamming, Annäherung und Abstoßung, Melancholia und Pas de Quatre. In Martina Hefters Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? steht all das nebeneinander. Die Autorin liefert einen Text, der weniger durch einen Erzählbogen denn durch sein Gefühl für Gleichzeitigkeiten überzeugt. Jüngst wurde das Buch mit einem Platz auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 belohnt.


Es ist ein ganzes Füllhorn an Motiven und Themen, das Martina Hefter vor ihren Leser*innen ausgießt und das die Grundstruktur ihres Romans bildet. Für ihre Lyrik und Prosa jüngst mit dem Großen Preis des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet stellt die Autorin in diesem Text eine Frau in den Mittelpunkt, die auf den ersten Blick viele Berührungspunkte mit der Autorin selbst aufweist. Von einem an der bayerischen Vils gelegenen Ort stammend hat es die Künstlerin Juno Isabella Flock nach Leipzig verschlagen. Dort teilt sie sich mit ihrem Lebensgefährten namens Jupiter eine gemeinsame Altbauwohnung.

Das prekäre Künstlerdasein verbindet sie mit dem an den Rollstuhl gefesselten Jupiter, in dem sich einige Züge von Jan Kuhlbrodt erkennen lassen, mit dem Hefter tatsächlich in Leipzig zusammenlebt, und der laut dem Nachwort zu diesem Roman auch nichts dagegen hatte, „hier und da mit Jupiter verwechselt zu werden, sondern den Gedanken sogar schön fand“.

Juno und Jupiter

Man schlägt sich so durchs Leben. Sie besorgt für ihn Pizzazungen und löst Rezepte ein, da Jupiter die Wohnung fast nicht mehr verlassen kann. Ab und an gastiert Juno mit Gastspielen auf Bühnen und zeigt Performances und Texte. Manchmal reicht das Geld kaum zum Leben, und doch hat man sich mit dem Zustand und dem Dasein als Kreativschaffende arrangiert und ist gewillt, in diesem Zustand bis zur Rente irgendwie durchzuhalten.

Beim Sommerfest würden sie den Pas de Quatre von Jules Perrot tanzen. Ein berühmtes Stück von 1854, erschaffen für die damals vier berühmtesten Tänzerinnen der westlichen Welt. Marie Taglioni, Carlotta Grisi, Lucile Grahn und Fanny Cerrito.

Sie waren damals Superstars. Zur Aufführung des Stücks trafen sie das erste Mal zusammen und traten gemeinsam auf. Das war eine Sensation.

Juno sollte die Position der Marie Taglioni tanzen.

Es gab keine Handlung in dem Stück, nur eine Situation: Vier Frauen tanzten zusammen. Geometrische Muster, Vierecke, Kreise, Diagonalen.

Planeten, die sich treffen, beinah kollidieren.

Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?, S. 133

Dieses berühmte Tanzstück ist ein guter Ausdruck auch für das erzählerische Konzept von Hefters Roman. Denn Hey guten Morgen, wie geht es dir? besticht weniger durch eine konsistent durchgearbeitete Handlung, als durch viele Elemente, die hier nebeneinanderstehen, ebenso wie die Tänzerinnen in dem Stück alle ihr eigenes Stück tanzen – oder eben die Planeten, die auf die Erzählerin ebenfalls einen großen Reiz ausüben.

Briefwechsel mit einem Love-Scammer

Martina Hefter - Hey guten Morgen, wie geht es dir? (Cover)

Größtes Verbindungsstück über den Text hinweg dürfte das Love-Scamming sein, das dem Buch auch den Titel verleiht. Love-Scamming bezeichnet den Betrugsversuch, bei dem Klickarbeiter unter einer falschen Identität den Kontakt zu anderen Menschen im Netz suchen, um sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen diesen zu nähern, einzuschmeicheln und schlussendlich Kapital aus dieser Nähe zu schlagen.

Mit einem dieser Scammer, der sich mit der nichtssagenden und doch irgendwie interessiert wirkenden Floskel bei Juno meldet, steigt sie – wohlwissend um dessen falsche Identität – in einen Chat ein, aus dem sich ein Gespräch und schließlich sogar Videotelefonate entwickeln, bei dem die beiden Einblicke in ihr Leben gewähren, sich aber dann doch wieder nicht wirklich in die Karten schauen lassen.

Junos Scammer stammt – wie so häufig – aus einem Entwicklungsland und hört auf den Namen Benu. Er lebt in Nigeria, von wo aus er seine digitalen Köder auswirft und versucht, sich anderen Menschen anzunähern. Im Lauf des Romans schreiben sich die beiden immer wieder, versuchen sich in die gegensätzlichen Lebenswelten einzufühlen und kreisen in ihren Gesprächen immer wieder um Themen, die vor allem Juno am Herzen liegen. Insbesondere Lars von Triers Film Melancholia, die Stimmungen, die dieser evoziert, und andere planetare Gegebenheiten sind Themen, die immer wieder in den Chats auftauchen und die Juno Isabella Flock stark beschäftigen.

Inhaltliche und formale Vielfalt

Um diese ganzen digitalen Gespräche herum passiert auch in der analogen Welt das Leben in seiner ganzen Fülle, was Martina Hefter mit einem Gespür für Gleichzeitigkeit und das Nebeneinander von großen und kleinen Themen schildert.

Jupiter gewinnt einen Literaturpreis (kaum verhüllt liest man hier von der tatsächlich stattgefundenen Preisverleihung des Alfred Döblin-Literaturpreises an Jan Kuhlbrodt im Literarischen Colloquium Berlin im vergangenen Jahr), nachts schleicht sich Juno durch die Wohnung, um mit Benu zu skypen und sich in Chats zu verlieren. Dann stehen plötzlich wieder Performance-Texte beziehungsweise Performance-Anweisungen im Text.

Es ist eine große Vielfalt, die Hey guten Morgen, wie geht es dir? sowohl in der äußeren Form mit der Mischung aus Dialogen, Anweisungen und Erzähltexten kennzeichnet, als auch inhaltlich, wie eben schon dargestellt.

Themen umkreisen sich wie Planeten

Eine wahllose Aneinanderreihung von Beliebigkeiten ist das Ganze allerdings keineswegs. Denn obschon das Buch ohne größeren erzählerischen Bogen angelegt ist, gibt es doch Bewegungen, die sich in Hefters Text ausmachen lassen. So ist es die nonchalante Maskierung der biographischen Folie dieses Künstlerromans, die mit einer De-Maskierung des falschen Love-Scammers einhergeht. Dergleichen mehr an Bewegung findet sich in diesem Text, kreist umeinander und berührt sich mal, bleibt sich dann wieder fern, eben wie die Planeten oder die vier Tänzerinnen im Pas de Quatre.

Mit Dialogen aus der Digitalen Welt einem Aufbrechen herkömmlicher narrativer Strukturen ist dieses postmoderne Werk ganz zeitgemäß, schwingt auch die Autofiktion stets in diesem Text mit. Lesbar ist Hey guten Morgen, wie geht es dir? als Künstlerroman, als Briefroman, als Blick auf den Kunstbetrieb im Allgemeinen und den Literaturbetrieb im Speziellen oder als das Porträt einer Frau, die sich mit ihrer künstlerischen und privaten Identität auseinandersetzt. Als Buch am (ästhetischen) Puls der Zeit verwundert die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2024 nicht.

Weitere Meinungen zu Martina Hefters Buch gibt es unter anderem bei Kulturgeschwätz, Bookster HRO und Deutschlandfunk Kultur.


  • Martina Hefter – Hey guten Morgen, wie geht es dir?
  • ISBN 978-3-608-98826-0 (Klett-Cotta)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz

Zwei Menschen und ihre Wege ins System des „Dritten Reichs“ untersucht Nora Bossong in ihrem neuen Roman Reichskanzlerplatz. Wo verläuft der Grat zwischen Anpassung und Unterstützung eines faschistischen Systems? Das ist die Frage, die hinter Bossongs Roman aufscheint.


Es beginnt alles 1919. In diesem Jahr setzt die Handlung von Reichskanzlerplatz ein, indem Nora Bossong gleich zu Beginn die drei Figuren einführt, die für das Geschehen in ihrem Roman zentral sein werden. Erzählt wird das Geschehen aus Sicht des Ich-Erzählers Hans Kesselbach, dessen Vater im Zweiten Weltkrieg kämpfte und bei Neuve-Chapelle eine schwere Kriegsverletzung erlitt. In seiner Familie scheint noch die alte Kaiserzeit auf, die nun, kurz nach dem Ende des Großen Kriegs, an ihr Ende gekommen ist.

Als einziger Sohn lasten die Erwartungen seiner Familie auf ihm, der er als Zwölfjähriger nun das Arndt-Gymnasium in Dahlem besucht. Dieses 1909 steht die neugegründete Schule für preußischen Drill und Exzellenz, der den rein männlichen Schülern aus der Oberschicht hier beigebracht werden soll. Es ist der Ort, an dem Hans mit Hellmut einen Mitschüler kennenlernt, der entscheidenden Einfluss auf sein Leben nehmen soll.

Ich denke an Hellmuts Mutter. Sie starb kurz nach dem Krieg an der Spanischen Grippe, und ich habe sie nie kennengelernt. Hellmut kam erst einige Monate später in unsere Klasse, blass und schmal, als sei er selbst erkrankt. Der Tod seiner Mutter war das Erste, was wir über ihn wussten, das Zweite war, dass sein Vater ein großes Unternehmen führte, und in der Pause wurden wir von unserem Lehrer geschickt, ihm unser Beileid auszusprechen, man wusste nicht so recht üb für das eine oder das andere.

Nora Bossong – Reichskanzlerplatz, S. 11

Hans & Hellmut & Magda

Von Beginn an fühlt sich Hans zu Hellmut hingezogen, der diese Nähe auch zögerlich erwidert. Nach einer immer weiter voranschreitenden Annäherung führt dann allerdings das Geschenk eines Gedichtbandes von Oscar Wilde mitsamt der darin mitschwingenden Symbolik zu einer Zäsur zwischen den beiden Jungen. Für homosexuelle Neigungen ist im Neuen Berlin besonders in den Gesellschaftsschichten der Militärs und Industriellen kein Platz. Und so erfolgt erwartungsgemäß die Distanzierung von Hellmut zu Hans.

Nora Bossong - Reichskanzlerplatz (Cover)

Ein verbindendes Element gibt es aber zwischen den beiden Jungen über den Bruch hinweg, und das schon seit Beginn des ersten Kennenlernens an. Es handelt sich um Hellmuts Stiefmutter Magda. Diese hieß nach Adoption, wurde dann aber nach einem Kennenlernen des verwitweten Industriellen Günther Quandt im Alter von gerade einmal neunzehn Jahren zu dessen neuer Frau an seiner Seite, die sich um die Erziehung von Quandts Kindern, darunter eben auch Hellmut, kümmern sollte.

Schon beim ersten Treffen in der hochherrschaftlichen Villa fällt Hans Magda ins Auge. Verloren und mit ihrer Rolle fremdelnd, altersmäßig näher den beiden Jungen als an ihrem doppelt so alten Ehemann übt sie auf Hans schon seit der ersten Begegnung eine große Faszination aus. Langsam nähern sich die beiden an, musizieren sogar gemeinsam vierhändig.

Die nicht zu greifende Madame Quandt

Auch über den plötzlichen Tod hinaus bleibt die Faszination für diese niemals ganz zu greifende Madame Quandt bestehen und mündet in eine Affäre. Hans wird so zum Gast ihrer neuen und höchst luxuriösen Wohnung am Reichskanzlerplatz, in der er Magda besucht. Die Ironie der Geschichte dabei: diese Umstand einer neuen Wohnung für ihre Affäre hat Hans indirekt durch die Affäre selbst herbeigeführt. Denn als Günther Quandt Mann Kenntnis von der Affäre erlangt, will er die Scheidung und gesteht Magda eine Wohnung an dem Platz zu, der nur kurz auf den Namen Reichskanzlerplatz hören sollte.

Denn nach der Machtergreifung Hitlers wurde aus dem Reichskanzlerplatz der Adolf Hitler-Platz, aus dem nach einer Rückbenennung schließlich der Theodor Heuss-Platz wurde, unter den ihn Berliner*innen heute noch kennen. Damit steht der Platz in guter Tradition zu seiner kurzzeitigen Anwohnerin.

Denn auch die geborene Magda Friedländer ist kreativ in Sachen Umbenennung und Neuerfindung. Schon zu Beginn der Kennenlernphase äußerte Hellmut Hans gegenüber abfällig, Madame Quandt wechsele so oft ihre Namen wie auch ihren Glauben. Ein Eindruck, den ihr Lebensweg bestätigt. Sie, die vor der Heirat mit Günther Quandt schon mit dem christlichen, budddhistischen und jüdischen Glauben sympathisierte und zudem eine Schwäche für Astrologie hat, scheint in den Braunhemden und Hitler eine neue faszinierende Religion entdeckt zu haben.

Gegensätzliche Lebenswege

Sie sucht zunehmed die Nähe der Führungsfiguren der aufstrebenden Nationalsozialisten, womit sich die enge Bindung der Affäre mit Hans zunehmend lockert.

Aus Sicht von Hans schildert Nora Bossong diese zunehmende Entfremdung, die mit einer gegenläufigen Positionierung im neuen politischen System einhergeht. Denn während Hans seine Homosexualität kaschieren muss, sich mit Verfechtern sozialistischer Ideen abgibt und schließlich sogar nach Italien ausweicht, um dort im Staatsdienst im Konsulat als Grenzgänger zwischen der Schweiz und Italien sein Leben zu leben, wird Magda zur Frau an der Seite des von ihr Jupp geheißenen Propagandaminister Joseph Goebbels.

Chronologisch beschreibt Bossong das Voranschreiten dieser Lebenswege, die immer weiter auseinanderlaufen, durch den damaligen Tod Hellmuts aber immer noch eine Verbindung haben, die bis in die Endphase des Zweiten Weltkriegs hinein wirken wird.

Der Weg ins System und aus dem System heraus

Während sich Hans von Magda entfremdet und sogar und mit seinem Gang nach Italien Distanz zum Berlin der Nazis sucht, begibt sich Magda bewusst in das neue System hinein. Sie, die stets die Nähe der Führungselite um Hitler sucht, wird später zu DEM nationalsozialistischen Rolemodel einer „deutschen Mutter“.

Bei einer letzten Begegnung vor dem familiären Suizid im Bunker schleudert sie Hans entgegen, dass sie ihre Kinder allein sie für das Reich bekommen habe. Sie hat sich geschmeidig an die neuen Begebenheiten angepasst und diese aktiv gefördert. Mit Grandezza und Entschiedenheit weiß sie den Arm zum Hitlergruß zu recken, während Hans mit dieser Gellschaftsordnung zunehmend Probleme hat.

Das Fehlen einer Partnerin an seiner Seite, die Bekanntschaft zu Oppositioniellen, die Flucht aus Berlin, all das sind Makel, die der nicht nur optischen Makellosigkeit Magdas entgegenstehen: da die erste Frau im Reich, die stets präsent ist, dort der Homosexuelle, für dessen Neigungen im Reich der Nationalsozialisten kein Platz ist. Diese Dichotomien, den Weg ins System hinein und hinaus, die Gegensätzlichkeit ihrer Figuren, all das arbeitet Nora Bossong auf historischer Grundlage überzeugend heraus.

Fazit

Durch den subjektiven Blick des Ich-Erzählers Hans auf Magda auf die komplexe Beziehung der zunächst drei und später zwei Beteiligten und die Entwicklung der Beteiligten gelingt ihr Nora Bossong ein Roman, der einen erzählerischen Spagat schafft.

Einerseits bleibt die Erzählung eng an der Biografie Magda Goebbels, da Nora Bossong mit vielen Quellen und gestützt auf historisches Material arbeitet. Dennoch nimmt sich die Autorin auch erzählerische Freiräume und schafft es durch ihre literarische Umformung und den indirekten Erzählansatz über Hans, dass Magda Goebbels bei allen Erinnerungen und Gedanken doch amorph und nicht ganz zu greifen bleibt. Was ist hier Überzeugung und was Kalkül?

Am Ende bleiben über das Ende von Reichskanzlerplatz hinaus noch Fragen – die Nora Bossong durch ihre Erzählweise klug erzeugt. Wie man sich der „ikonischen“ Frau im Dritten Reich zwischen Muttermythos und Täterliteratur komplex und angemessen annähert, das macht Bossongs Buch gelungen vor.


  • Nora Bossong – Reichskanzlerplatz
  • ISBN 978-3-518-43190-0 (Suhrkamp)
  • 295 Seiten. Preis: 25,00 €

[Titelbild: Von Bundesarchiv, Bild 146-1978-086-03 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5419081]

Diesen Beitrag teilen

Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner

Es ist ein Thema, das gerade in ländlichen Gegenden sehr polarisiert: die Rückkehr des Wolfs. Die bayerische Staatsregierung erließ beispielsweise medienwirksam eine neue Wolfsverordnung zum Abschuss der Beutegreifer (die sie dann wieder wegen Formmängeln wenig später nicht ganz so medienwirksam wieder einkassieren musste), Diskussionsgruppen laufen heiß, wenn in der Nähe eine Wolfssichtung vermeldet wird. Auch Markus Thielemann behandelt dieses Thema in seinem Roman Von Norden rollt ein Donner. Doch nicht nur dieses Thema schwingt in seinem vielschichtigen Roman mit – vom Mythos der Lüneburger Heide bis hin zur Verwurzelung neurechten Gedankenguts in der Provinz reicht der erzählerische Bogen seines Romans.


Pittoreske Szenen sind es, die sich den Ausflüglern in der Lüneburger Heide bieten. Eine Schafherde, dazu Herdenhunde und ein junger Schäfer, der mit einem Stock ausgestattet die Schafe über die Heide treibt und so einen wichtigen Beitrag zum Schutz und Erhalt dieser Kulturlandschaft leistet. Doch ganz so heiter-bukolisch ist dieser Anblick nicht, wie Thielemann in seinem Roman zeigt, mit dem er sich – so tief wie er sich in das Thema eingearbeitet hat – glatt als Landschreiber der Region beweisen könnte.

Denn Jannes, so der Name des jungen Schäfers, hat mit Problemen zu kämpfen, wie eigentlich seine ganze Familie, die seit Generationen in der Heide verwurzelt ist und dort eine Schafzucht betreibt. Die Sichtungen des Wolfs auf dem nahegelegenen Truppenübungsplatz sind dabei nur eine Facette des Bündels an Problemen. Der Großvater beäugt die jüngeren Generationen mit Argusaugen, die Großmutter ist dement und fristet ihr Dasein in einem Altersheim.

Auch Jannes Vater plagen neurologische Probleme, diese werden aber von der Familie ausgeschwiegen und Termine beim Arzt ausgesessen. Und Jannes kapselt sich zunehmend von seinen Freunden ab, besonders, nachdem er bei der Halloweenfeier auf einem nahegelegenen Hof fast so etwas wie eine Psychose hatte und immer wieder eine Frau sieht, die die über die Heide und die Wälder streift. Halluzination oder Manifestation eines neurologischen Defekts, der sich durch die Generationen zieht?

Probleme auf der Heide

Da verbessert ein Fernsehdreh des NDR nicht unbedingt die Lage, auch wenn der Vater darin seine Chance sieht, vor der Gefahr des Wolfs zu warnen. Während sich der Vater in seine Angst vor dem Wolf immer weiter hineinsteigert, sind es Vision der geheimnisvollen Frau, die Janne stetig peinigen und deren Geheimnis er im Lauf des Romans langsam ergründet.

Markus Thielemann - Von Norden rollt ein Donner (Cover)

Denn die Vergangenheit wirkt auch in Von Norden rollt ein Donner noch höchst lebendig in die Gegenwart hinein. Zwischen NATO-Übungsplatz, Rheinmetall-Schmiede und dem ehemaligen KZ-Außenlager Bergen Belsen taucht Jannes in die Geschichte der Heide und der eigenen Familie ein. Dies verbindet er mit lokalen Schauergeschichten wie der der Roggenmuhme und schafft dann auch noch Anschluss an die Diskurse der Gegenwart.

Obschon der Roman in den Jahren 2013/14 angesiedelt ist und die deutsche Fußballnationalmannschaft mit ihrem Sieg bei der WM das Land in einen patriotischen Freudentaumel stürzt, zeichnet sich bei Markus Thielemann in diese Freude über das eigene Land bereits der Anfang einer subkutane Verschiebung des Heimatbegriffs ab. Eine Verschiebung, deren Ausmaß nun nach der Europawahl und kurz vor den Wahlen in drei ostdeutschen Bundesländern in diesem Land immer stärker zutage tritt. Bei Thielemann dräut diese Veränderung in Form des Nachbars Karl Röder , der sich in der Südheide in unmittelbarer Nachbarschaft zu Jannes´ Familie niedergelassen hat und der das Thema der Bewahrung der Heimat ganz eigen interpretiert.

Von der Bewahrung der Heimat

Dessen traditionell gekleidete Familie, der Hof mit der wehenden Deutschlandflagge und der Schützenscheibe über der Tür sowie der omnipräsenten Wolfsangel gibt hier schon einen Eindruck jener völkischen Siedlungsbewegung, die an unterschiedlichen Stellen im Land in den Folgejahren immer unverhohlener auftreten sollte.

Wenn Röder sein Gedankengut äußert, dann ist man sich an vielen Stellen unsicher, ob man hier noch Tiraden über den Wolf liest oder ob dieser schon längst zur Chiffre für alles Fremde geworden ist, das hier abgelehnt wird. Liest man im folgenden Jahr durch die Fluchtbewegungen verstärkt wurde und für den Auftrieb der im Buch als „Professorenpartei“ auftauchenden politischen Neugründung sorgen sollte. Das Aufstieg des Wutbürgertums und die Radikalisierung von Sprache und Handeln, sie schwingt in Von Norden rollt ein Donner mit.

„Tja“, sagt Wilhelm und setzt sich seinen Gut auf. „Hab nicht schießen gelernt, damit ich dumm zugucke, wenn die Viecher sich hier frei bedienen an meinem Vieh.“

„Seh ich ganz genauso, Herr Volker“, sagt Röder. „Ganz genauso. Sie lassen einem keine Wahl mehr: Wenn man sich auf keinen verlassen kann, muss man die Dinge selbst in die Hand nehmen. So wird’s gemacht.“

„Tse. Ist doch eh gleich. Wenn man schon dafür bestraft wird, dass man sich selbst verteidigt in diesem Land, dann geht eh alles den Bach runter. Sollen die alle machen, was sie wollen. Ich mach’s anders. Früher hätte man über so was gar nicht diskutiert. Da wär man direkt los.“

„Und der größte Witz ist doch, dass man sich am Ende gegen das verteidigen muss, was uns die Politik erst eingeschleppt hat. In vollem Wissen und in voller Absicht hat man sich den Wolf nach Deutschland geholt“, sagt Röder. „Aber wir sollen bloß alle schön brav bleiben. Bloß alles abnicken. Und dann wundern die sich, wenn es am Ende knallt.“

„Und knallen wird’s, das glaubt man.“ sagt Wilhelm, dreht sich um und tritt ab.

Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner. S. 251 f.

Ein eminent politischer Roman

Nicht nur in solchen Passagen ist Von Norden rollt ein Donner auch ein eminent politischer Roman. In Zeiten des Erstarkens neurechter Kräfte und Bauernproteste, deren Wut ebenjene Kräfte auch gerne schürten, kommt Thielemanns Buchs fast so etwas wie eine Erklärung, zumindest eine Beschau von deren Ursprüngen zu. Mit unterschiedlichen Motiven gearbeitet betrachtet Thielemann so zudem die Kipppunkt von Patriotismus hin zu Geschichtsvergessenheit, von Naturliebe und Herdenschutz hin zu bedenklichen Formen des Bewahrung einer eigenen Identität und eine Ablehnung des Fremden.

Über die Problematik des Wolfs in der Landwirtschaft informiert und den Umgang mit der Thematik informiert Thielemanns Roman ebenso gut wie der Roman die Anfänge neurechter Siedlerbewegungen behandelt, die keineswegs nur auf den Osten beschränkt sind, auch wenn in Diskussionen gerne dieser Eindruck erweckt wird. Seine Geschichte erzählt Markus Thielemann in einem präzisen Tonfall, der für die raue Natur der Heide ebenso ein sprachliches Register einfängt wie für die Visionen in Jannes Kopf oder die kargen Dialoge, mit denen die Familie miteinander in Kontakt tritt.

Fazit

Von Norden rollt ein Donner ist ein vielschichtiges, aktuelles Buch, das hinter die Fassade der vermeintlich so idyllischen Lüneburger Heide und des Schäfergeschäfts blickt. Thielemann gelingt politischer Roman, der eine Familie in den Mittelpunkt rückt, zu deren Stärken nicht unbedingt die Kommunikation zählt, sondern die Verdrängung der Vergangenheit schon besser funktioniert. Vom fragilen Gleichgewicht der Natur und des Miteinanders, dem Spuk in Geschichte und Geist erzählt handelt sein Buch, bei dem die Vergangenheit immer noch in die Gegenwart hineinwirkt. Eine Nominierung für den Deutschen Buchpreis wäre für diesen Roman durchaus gerechtfertigt.


  • Markus Thielemann – Von Norden rollt ein Donner
  • ISBN 978-3-406-82247-6 (C. H. Beck)
  • 287 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Das Deutscher Buchpreis-Lotto 2024

Morgen in einem Monat ist es schon wieder soweit und die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2024 erscheint. Auch dieses Jahr beteilige ich mich wieder an der wilden Spekulation zum Thema Deutscher Buchpreis. Wie immer versammele ich 20 Bücher, denen ich einen Platz auf der Longlist zutraue.

Nachdem ich meinem Versuch im letzten Jahr, hoffe ich diesmal, meine Tippquote weiterhin stabil zu halten. Etwas schwer getan habe ich mich dieses Jahr tatsächlich, preiswürdige Titel auszumachen. Zumindest bislang war für meinen Geschmack in diesem Lesejahr noch nicht allzu vieles dabei, das sich auf den ersten Blick für eine solche Liste prädestiniert wäre. Und auch unabhängige Verlage fehlen in der Aufstellung in erheblichem Maße. Entschieden habe ich mich für viele höchst gegenwärtige Romane, die inmitten unsere Gegenwart zielen.

Was dann die finale Auswahl aber tatsächlich ausfallen wird – und ob die Jury alle Erwartungen und Vorhersagen unterläuft, das wissen wir erst am 20. August um 10:00 Uhr. Dann nämlich erscheint die diesjährige Longlist zum Deutschen Buchpreis. Bis hierhin meine Tipps:


Was sind eure Tipps? Was könnte sich auf der Liste finden?

Diesen Beitrag teilen

Dana von Suffrin – Nochmal von vorne

Eine Familie, in der es schon illusorisch scheint, eine halbe Stunde in Ruhe und Frieden gemeinsam an einem Tisch zu verbringen. Eine Familie, in der Streit, Vorwürfe und Konflikte, mal subtiler mal offen ausgetragen, zur Tagesordnung zählen: sie steht im Mittelpunkt des zweiten Romans der Münchner Schriftstellerin Dana von Suffrin. Nochmal von vorne erzählt die Geschichte der Familie Jeruscher mitsamt mitsamt ihrer grundsätzlichen Dysfunktionalität und ihrem jüdischen Familienerbe.


Es ist lediglich drei Jahre her, da feierte man in ganz Deutschland 1700 Jahre jüdisches Leben. Über zweitausendvierhundert Veranstaltungen übers Jahr und das ganze Land verteilt wollten Aufmerksamkeit dieses Thema lenken. Man gedachte der Vergangenheit und Gegenwart, diskutierte und Verlage publizierten staunenswerte Bücher.

Jüdisches Leben in Deutschland – und im Roman?

Und nun, gerade einmal drei Jahre nach diesen Feierlichkeiten ist das damals zelebrierte Miteinander an zu vielen Stellen ins Gegenteil gekippt. Der brutale Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 auf ebenjenes jüdisches Leben, der in der Folge zunehmend entgleisende Diskurs, in dem Israel-Kritik nur allzu oft in Antisemitismus kippt, all das hat viele Bemühungen der damaligen Feierlichkeiten konterkariert und die Sichtbarkeit jüdischen Lebens wieder beschränkt.

Auch auf dem Buchmarkt sind – von Sachbüchern und spezialisierten Verlagen abgesehen – Romane über jüdisches Leben hierzulande noch immer eine Seltenheit. Es sind junge Autorinnen wie Dana Vowinckel oder eben Dana von Suffrin, die sich daranmachen, diesem bedauerlichen Umstand Abhilfe zu schaffen. Dabei schreiben sie Romane, die auf Pathos verzichten und souverän mit ihrer Form und dem Inhalt spielen. Mit einem Blick für das komplizierte Selbst- und Fremdverständnis der eigenen Identität, in der das jüdische Erbe qua Geburt immer Thema ist und das heute so viele Herausforderungen mit sich bringt, schwingt in ihren Büchern all das mit. Es sind Bücher, die – in Ermangelung eines besseren Wortes – modern und relevant, gut lesbar und angenehm vielschichtig daherkommen. Nochmal von vorne ist dabei das beste Beispiel.

Die komplizierte Familie Jeruscher

Bei Dana von Suffrin ist es die Familie Jeruscher, die im Mittelpunkt ihres Romans steht. Er Israeli, geboren in Haifa und nun als Chemiker bei den Stadtwerken München arbeitend, sie geboren in Landshut, studierte Soziologin und gemeinsam mit den beiden Kindern Nadja und der Ich-Erzählerin Rosa im Münchner Stadtteil Moosach wohnend. Das sind die Marker einer Familie, die zwar auf den ersten Blick recht durchschnittlich aussehen mag, bei der sich auf den zweiten Blick aber viele Risse in dieser familiären Grundkonstellation zeigen.

Dana von Suffrin - Nochmal von vorne (Cover)

Von diesen Rissen ist allerdings nichts mehr zu sehen, als dieser Roman seinen Ausgang nimmt. Das hat einen ganz einfachen Grund. Denn irgendetwas Festes in diesem familiären Verbund, das eventuell gerissen sein könnte, gibt es schon lang nicht mehr zu sehen, als die Handlung von Suffrins Buch einsetzt.

Alles ist längst zersplittert und fragmentiert. Der Vater Mordechai tot, die Schwester Nadja entzieht sich allen Kontaktaufnahmen, die Mutter möglicherweise ebenfalls tot, zumindest aber sicher verschwunden aus dem Leben der Familie. So ist die Ausgangslage dieses Romans – ein ganzer Haufen an menschlichen und zwischenmenschlichen Scherben, die sich kaum mehr auffegen, geschweige denn reparieren lassen.

Das Aufkehren familiärer Scherben

Und dennoch unternimmt Rosa den Versuch, zumindest die Scherben des einstigen familiären Verbundes zusammen mit den Leser*innen zu betrachten. Sie muss Nochmal von vorne ansetzen, um sich und damit auch uns einen Eindruck von dieser Familie zu verschaffen, auch um die Risse an ihren Entstehungspunkten zu betrachten, die dann schlussendlich zum Zerfall des Ganzen beigetragen haben.

Wir wurden eine Familie, aber erst später ist uns allen klargeworden, was das bedeuten sollte.

Dana von Suffrin – Noch einmal von vorne, S. 179

Die Familie zwischen jüdischem Erbe und Leben in Deutschland, die Familie zwischen Tod, Verlust und Weitermachen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Familie zwischen Israel und Moosach. All das beschreibt Rosa in einem Ton, der trotz aller Schwere ihrer Themen durchaus auch mit trockenem, manchmal sogar beißenden, aber immer lindernden Humor, einer stimmigen Erzählhaltung und einem ebenso stimmigen Erzählton mit vielen treffenden Sentenzen punktet.

Dana von Suffrins erzählerische Kunst

Dana von Suffrin beherrscht die Kunst, viel zu erzählen, ohne dafür viel Raum zu benötigen. Zwar behandelt auch ihr Roman mehreren Generationen zwischen Israel und Deutschland, verzichtet dabei aber auf überflüssigen Ballast, den solcherlei Familiensagas hierzulande gerne aufweisen.

Stattdessen schafft sie es, trotzdem, trotz aller Knappheit ihre Geschichte den Fokus auf die zentralen Bruchstellen dieser Familie zu legen und unterhaltsam und mitreißend zu erzählen, ohne dass man das Gefühl hätte, es würde etwas bei ihrer Erzählung fehlen. Ihr Roman konzentriert sich auf das, was wichtig ist, und bleibt genau dadurch im erzählerischen Rahmen. Sie schafft es, die Fehler von erzählerischer Geschwätzigkeit und unnötigen Arabesken zu vermeiden, und stattdessen auch in ihrem Erzählen kleinere Lücken und Risse klaffen lassen, wie das eben in den meisten Familienerzählungen der Fall ist.

Fazit

Nochmal von vorne pendelt das erzählerische Gewicht zwischen Leichtigkeit und Schwere gut aus. Rosas zersplitterte Familie und den Versuche, wenigstens im Erzählen etwas Ordnung in diese familiäre Entropie zu bringen, verfolgt man gerne. Dabei erzählt Dana von Suffrin en passant von jüdischem Leben in Deutschland, von Sollbruchstellen in Seelen und Leben – und von der Frage, was uns eigentlich zusammenhält – und das alles ganz konzentriert und pointiert.

Weitere Meinungen zu Nochmal von vorne gibt es unter anderem bei Katharina Herrmanns Blog Kulturgeschwätz und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Dana von Suffrin – Nochmal von vorne
  • ISBN 978-3-462-00297-3 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 240 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen