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Auf Robinsons Spuren

Jane Gardam – Robinsons Tochter

Es ist eine beliebte Frage in Interviews mit Buchbezug: Gibt es ein Buch, das Ihr Leben verändert hat? Polly Flint, die Ich-Erzählerin in Jane Gardams Roman Robinsons Tochter hätte eine klare Antwort darauf. 34 Jahr nach dem Erscheinen ist Gardams Buch nun in der deutschen Übersetzung von Isabel Bogdan zu entdecken. Und das Buch ist nicht weniger als ein echtes Meisterwerk, das von einer lebenslangen Literaturliebe, einer geistigen Entwicklung, weiblicher Selbstermächtigung und Emanzipation erzählt. Es bleibt nur die Frage: warum hat es so lange gedauert, bis dieses Buch den deutschsprachigen Leser*innen zugänglich gemacht wurde?


Reichlich spät wurde Jane Gardam für den deutschen Buchmarkt entdeckt. Erst 2015 entschied man sich im Hanser-Verlag nach einer zuvor publizierten kurzen Weihnachtsgeschichte, diese Autorin dem deutschen Buchmarkt zugänglich zu machen. Gerade mal ein Buch der 1928 geborenen Autorin war zuvor in furchtbarer Aufmachung und Betitelung erschienen. 1999 gab es im Bastei-Lübbe-Verlag den Roman Himmlische Aussichten zu lesen, dessen kitschiges Cover zusammen mit Titel und Untertitel (Ein turbulenter Roman um ein Baby) ganz eigenes Kunstwerk ergab.

Dass es nach einer solchen Art der Veröffentlichung über eineinhalb Jahrzehnte brauchte, bis man die Autorin in angemessener Art und Weise in einem anderen Hause publizierte, das verwundert nicht.

2015 war es dann so weit und der erste Band der Trilogie um Old Filth, den Kronanwalt Edward Feathers, erschien. Befeuert auch durch die Diskussion im damals unter großer Aufmerksamkeit neu aufgesetzten Literarischen Quartett gelang dem Buch der Einstieg in die Bestsellerlisten. Die zwei weiteren Bände der Reihe, die Gardam aus Sicht von Edwards Frau (Eine treue Frau) und Edwards Rivale (Letzte Freunde) schilderte, wurden ebenfalls zu Bestsellern.

Seitdem ist der Name Jane Gardam auch auf dem deutschen Buchmarkt gesetzt und wird vom Hanser-Verlag durch eine kontinuierliche Publikation früherer Werke der englischen Schriftstellerin unterfüttert.

Eine Entdeckung aus dem Jahr 1986

Diese Art der Publikation ist ein großer Glücksgriff, denn dadurch ist nun auch „Crusoe’s daughter“nun auch auf Deutsch als Robinsons Tochter zu entdecken. Ürsprünglich 1986 erschienen ist das Buch ein Werk, das eindrucksvoll die Meisterschaft Jane Gardams beweist.

Jane Gardam - Robinsons Tochter (Cover)

Nicht weniger als ein ganzes Leben schildert sie in ihrem Roman. Es ist das Leben von Polly Flint. Diese lernen wir im Alter von sechs Jahren kennen. Wir schreiben das Jahr 1904, Pollys Mutter ist verstorben und ihr Vater ein Seemann, der wenig Vaterqualitäten an den Tag legt. Und so wird Polly im Gelben Haus untergebracht, einem Haus, das in der englischen Marschlandschaft liegt. Dort kümmern sich ihre beiden Tanten um sie. Besonders kindgerecht oder freudvoll ist das Aufwachsen dort in der Marsch allerdings nicht.

Die Tanten erziehen Polly streng und wollen sie unbedingt konfirmieren lassen. Doch das möchte Polly nicht. Sie legt einen beharrlichen Eigensinn an den Tag und findet Unterstützung in der großen Bibliothek ihres Großvaters Younghusband. Dieser interessierte sich zwar mehr für den Glauben und für Steine, aber auch weltliche Lektüre findet sich in der Bibliothek. Und so wird Polly Daniel Defoes Robinson Crusoe zu ihrem Herzensbuch, das sie ihr ganzes Leben lang begleiten und bestärken soll.

Kriege kommen und gehen, Familie und Mitmenschen sterben, Polly verliebt sich, wird enttäuscht, driftet in übermäßigen Alkoholkonsum ab und wird erst am Ende ihres Lebens zu ihrer Bestimmung finden. Immer ist da aber auch Robinson Crusoe, der ihr in der Einsamkeit ihrer Existenz beisteht und ihr Trost spendet. Eben ein wirkliches Buch der Kategorie Lebensbuch für Polly.

Ein Buch, tausend Lesarten

Es ist nicht nur so, dass Gardams Roman als Entwicklungsroman und Schilderung eines komplexen Lebens stilistisch und inhaltlich vollauf überzeugt. Robinsons Tochter ist auch ein Roman, der davon erzählt, wie verschieden die Lektüre ein und desselben Buchs ausfallen kann.

Robinsons Tochter demonstriert, wie unterschiedlich wir lesen und Bücher eingedenk unserer eigenen Biografie interpretieren. Alle Menschen, mit denen Polly im Laufe des Buchs über ihre Leidenschaft für Robinson Crusoe spricht, ordnen Defoes Werk unterschiedlich ein und sehen etwas anderes im Buch. Polly selbst zieht ihr Empfinden, ihre Bildung und ihr Beharren auf weiblicher Eigenständigkeit auch aus dieser Lektüre.

Deutlich wird das etwa im folgenden Dialog. Ein Freund spricht sich für die Prosa Jane Austens aus, als Polly zu einer vehementen Verteidigung des Defoe’schen Werks ansetzt:

„Freitag, das ist doch lächerlich. „Karfreitag“ wahrscheinlich. Demnächst nennt es womöglich jemand eine religiöse Allegorie. Vielleicht es das auch – wobei ich das bezweifle, bei einem Journalisten. Crusoe-fix nochmal. Ha!“

„Das ist es natürlich nicht. Und Defoe war nicht nur Journalist. Ich glaube aürigens auch nicht, dass Robinson besonders reiligiös ist. Er ist voller Schuldgefühle und Unzufriedenheit und seiner angeborenen Reiselust. Er ist der letzte, der für so eine Gefangenschaft auf einer Insel gemacht ist, aber er arrangiert sich damit. Er wird nicht verrückt. Er ist tapfer. Er ist wunderbar. Er ist so wie Frauen fast immer sein müssen: auf einer Insel. Festgesetzt. Eingesperrt. Die einzige Möglichkeit zu überleben ist, sich zu sagen, dass es Gottes Willen ist.“

(Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass ich all das dachte!)

Gardam, Jane: Robinsons Tochter, S. 187

In unterschiedlichen Phasen ihres Lebens blickt Polly immer wieder auf das Buch und entdeckt neue Aspekte. Und auch in ihrem Beharren auf ihre weibliche Autonomie leistet ihr die Prosa Defoes Schützenhilfe.

Eine Geschichte weiblicher Emanzipation

Denn Robinsons Tochter erzählt auch von einer Frau, die sich nicht anpasst. Einer, die zwischen Unsicherheiten, Begehren, enttäuschter Liebe und versuchter Fremdbestimmung ihren eigenen Weg verfolgt. Wie es ist, als Waise sich alles selbst aneignen zu müssen und auf eigene Souveränität zu beharren, das zeigt Jane Gardam eindrücklich. Mich persönlich hat für dieses Buch sehr eingenommen, dass die Britin auch die Kunst als Wert propagiert, die dabei hilft, ein eigenes Leben zu führen. Nicht umsonst ist ein Zitat von Virginia Woolf vorangestellt, die im Roman auch eine kleine Rolle übernimmt.

Aber die Drangsal des Lebens, wenn man sich auf einer einsamen Insel gänzlich allein durchschlagen muss, ist wirklich nicht zum Lachen. Sie ist andererseits auch nicht zum Weinen.“

Virginia Woolf – Der gewöhnliche Leser

Fazit

Wenn das aus meinen Worten nun noch nicht ausreichend klar geworden sein sollte: ich halte Robinsons Tochter wirklich für ein Meisterwerk. Ein Meisterwerk, auf das wir lange warten mussten. Eines, das die Wartezeit von 34 Jahren aber wirklich mehr als belohnt.

Es spricht für die literarische Meisterklasse der Britin, dass die Vielfältigkeit und der Facettenreichtum des Robinson Crusoe, die Polly Flint im Laufe ihres Lebens entdeckt, erforscht und erfährt, auch genauso auf Jane Gardams Werk übertragbar ist

Wirklich berührend, stilistisch meisterhaft, von einer Vielschichtigkeit, die man so nicht oft in Büchern findet und einer Heldin, die in den nächsten Jahren sicher nicht aus meinem Buchregal ausziehen wird.


  • Jane Gardam – Robinsons Tochter
  • Aus dem Englischen übersetzt von Isabel Bogdan
  • ISBN 978-3-446-26783-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Fernando Aramburu – Patria

Es sind die großen Fragen, die Fernando Aramburu in seinem gewichtigen Roman Patria verhandelt (Deutsch von Willi Zurbrüggen). Schuld und Sühne, Taten und Vergebung – all geschieht bei Aramburu auf der Folie des jahrzehntelang dauernden Kampfs der Basken um Selbstbestimmung. Die Grundlage seines Romans bilden dabei zwei Familien aus dem Baskenland, exemplarisch eine Opferfamilie auf der einen Seite und gegenüber eine, aus deren Kreis ein Urheber des ETA-Terrors stammt. Eine Familiensaga mit Terrorhintergrund sozusagen.

Vor Jahren wurde Txato, der Ehemann von Bittori, vor der eigenen Haustür erschossen. Schon länger zuvor wurde er anonym bedroht und fand sich inmitten einer Verleumdungskampagne wieder. Sein Reichtum als Unternehmer zog die Neider auf sich, die ETA erpresste Gelder von ihm, beschmierte das ganze Dorf mit Parolen und denunzierte ihn als Spitzel. Bittori konnte den Verlust ihres Mannes nie verarbeiten, zu den eigenen Kindern pflegt sie seit dem Mord ein distanziertes Verhältnis. Auch hat sie ihre Verbindungen zu Miren gekappt, einer alten Freundin aus Jugendtagen, deren Familien einst unzertrennlich waren. Doch nun beschließt sie, wieder in das Dorf zurückzuziehen, aus dem ihre Familie einst geflüchtet war.

Alte Wunden brechen auf

Fernando Aramburu - Patria (Cover)

Damit brechen alte Wunden auf. Erinnerungen an den Terror der ETA werden wieder zurück ans Tageslicht gespült – sowohl bei Bittori als auch bei Miren. Denn deren Sohn Joxe Maria sitzt schon jahrelang im Gefängnis, da er den bewaffneten Kampf der ETA um ein autonomes Baskenland unterstützte und dafür auch zu den Waffen griff. Aramburu beleuchtet nun Stück für Stück die Wahrheit über die damaligen Ereignisse, indem er sich den Mitgliedern in Mirens und Bittoris Familie annähert und in Rückblenden alle Geschehnisse aufdröselt. Immer wieder kehrt Bittori dabei an das Grab ihres ermordeten Gatten zurück und erzählt aus ihrem Leben, sodass wir als Leser einer Art Puzzle beiwohnen. Immer weiter fügen sich Teilchen von Vergangenem und Gegenwärtigem zusammen, bis schlussendlich ein Mosaik über Schuld, Sühne und Vergebung entsteht.

Die sich über mehrere Jahrzehnte erstreckende Familiensaga zeichnet dabei ein präzises Bild von der Unruhe, die das Baskenland im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung erfasste. Auch wenn das Interesse und der Fokus auf diesem brutalen Konflikt schon lang verschwunden ist – Aramburu schafft es, die Geschehnisse wieder ins Bewusstsein zu rufen und zu sensibilisieren (schließlich endete offiziell der bewaffnete Kampf der ETA erst im Jahr 2011 und hinterließ weit über 900 Opfer).

Sehr vielschichtig zeigt Aramburu in Patria , was hinter dem schlichten Wort des ETA-Terrors steckt. Eindringlich illustriert der Autor, wie sich Risse durch Gesellschaften, Familien und sogar einzelne Personen ziehen. Ein Buch der Fragilität und des Verlustes. Denn eigentlich kennt der Konflikt nur Verlierer, auf Seite der Opfer wie auch der Täter. Besonders deutlich wird das am Schicksal von Miren, die in einigen Passagen bitter konstatieren muss, dass es das Schicksal auch mit ihrer Familie nicht gut gemeint hat. Zu hoch ist der Preis, den auch sie für die Taten ihres Sohnes bezahlen musste.

Ganz groß ist dieser Roman auch in der Montage und darin, wie er seine Geschichte erzählt. Aramburu springt immer wieder von Figur zu Figur, um alle Familienmitglieders aus dem Bittori- und Miren-Clan für eine gewisse Spanne zu begleiten und auszuleuchten, ehe die nächsten Personen an der Reihe. Das ist geschickt gelöst und bringt viel Abwechslung in Aramburus Text – bei über 760 Seiten eine wirkliche Kunst, für die man dem Autor sehr dankbar ist.

Fazit

Fazit: IRA-Konflike oder ETA, bewaffnete Kämpfe mit dem Ziel der Abkapselung gab und gibt es viele, egal ob in Nordirland oder eben im Baskenland. Die Qualität von Aramburus Text besteht nun darin, von den bloßen Schlagzeilen auf das Leben und die Konsequenzen dahinter zu blicken. Gerade da seine Familien so nuanciert gezeichnet sind, gewinnt dieses Buch unglaublich an Tiefe und Intensität. Ein großer Wurf!

Verwiesen sei an dieser Stelle noch auf die hervorragende Beiträge der sachkundigen Isabella Caldart vom Blog Novellieren, die sich in mehreren Beiträgen der Geschichte des Baskenlandes und der baskischen Literatur im Allgemeinen widmet, sowie ein Glossar zum Roman liefert. Mehr als lesenswert und große Empfehlung!

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Gabriel Garcia Marquez – Hundert Jahre Einsamkeit

Dass dieses Buch in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert, merkt man Hundert Jahre Einsamkeit wirklich nicht an. Zum halben Jahrhundert hat der Kiepenheuer&Witsch-Verlag dem Buch eine Neuübersetzung durch Dagmar Ploetz spendiert, die damit das Buch wieder neu aufpoliert, sodass alle Facetten des Romans funkeln dürfen.

Der 2012 verstorbene Nobelpreisträger erzählt in seinem Roman von hundert Jahren Einsamkeit, die der stete Begleiter des Buendias-Clans sind. Jener Clan begründete einst das Dörfchen Macondo tief in der Abgeschiedenheit Südamerikas. Die Generationen leben in dem Dorf und erleben viele Höhen und Tiefen mit. Marquez konzipiert seinen Roman dabei ganz klassisch, vom Aufstieg des Buendia-Clans über wirtschaftliche Erfolge bis hin zum Niedergang des Dörfchens reicht der Bogen, den der kolumbianische Romancier schlägt.

Der Buendia-Clan und das Dorf Macondo sind unlöslich miteinander verkettet und können auch als Allegorie auf Südamerika gesehen werden. Der Leser wird Zeuge des wiederkehrenden Besuchs von Zigeunern im Dörfchen; dank einer Bananenplantage kehrt Wohlstand in das Dörfchen ein – doch auch negative Ereignisse wie etwa politische Kämpfe oder die blutige Niederschlagung von Revolten treten auf.

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