Tag Archives: Familie

Richard Flanagan – Tod auf dem Fluss

Der Fluss ohne Wiederkehr

Der Franklin River ist eine Urgewalt. Er durchmisst den Süden Tasmaniens von der Westküste bis nach Hobart an der Ostküste und führt dabei durch eine einzigartige Landschaft. Mit voller Kraft bahnt sich der Fluss seinen Weg durch die unwegsame und zerklüftete Natur und reißt dabei alles mit, was sich ihm in den Weg stellt. Unter anderem auch Aljaz Cosini, der nun in einer Felsspalte unter Wasser feststeckt und zu ertrinken droht. Wie es dazu kam, das schildert der tasmanische Autor Richard Flanagan in dem Roman Tod auf dem Fluss in unnachahmlicher Art und Weise.

Flanagan Fluss

Wie durch ein Prisma bricht der Erzähler die aktuelle Situation Cosinis mit Visionen, Rückblenden und Exkursen und erschafft so ein ganz besonderes Stück Literatur. Ausgangspunkt für den Überlebenskampf des Mannes ist eine Wildwasser-Rafting Tour auf dem Franklin River, die er als Guide begleitete. Der Fluss schwillt im Laufe der Tour immer mehr an und wird unberechenbarer. Und dann passiert die Katastrophe – bei der Rettung eines Crewmitglieds geht Aljaz über Bord. Und folglich setzt ein Strom der Erinnerungen und Visionen ein, die bis ins 19. Jahrhundert und damit tief in die Geschichte Tasmaniens zurückreicht. Wie ein Fluss mänandern die Perspektiven und Ebenen, während Cosini zu sterben droht. Je weiter man im Buch voranschreitet, umso füllender und klarer wird das Bild des Menschen Aljaz Cosinis und seiner Familie. Wie das Richard Flanagan auf nur 355 Seiten schafft und wie er Bilder im Kopf des Lesers erzeugt, das ist nur meisterlich zu nennen.

Nach Goulds Buch der Fische und Der schmale Pfad durchs Hinterland ist Tod auf dem Fluss das dritte Buch des tasmanischen Schriftstellers, das ich verschlungen und genossen habe. Genauso wie bei den vorherigen Meisterwerken des Autors habe ich mir auch hier vorgenommen, dieses Buch unbedingt noch das ein um das andere Mal zu studieren. Immer wieder kann man Neues entdecken und sich betören lassen von der Formulierungsfreude und der barocken Sprachgewalt des Autors. Eine wirkliche Empfehlung und ein starkes Debüt, dessen Neuauflage viele Leser zu wünschen sind!

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Owen Sheers – I saw a man

Wendepunkte im Leben

I Saw a Man von Owen Sheers

Es ist dieser eine Moment, der ein ganzes Leben ändern kann – in Owen Sheers I saw a man sind es gleich zwei Männer, die einen so existenziellen Wendepunkt in ihrem Leben erfahren, sodass sie danach völlig aus der Bahn geworfen sind. Der englische Autor erzählt von Michael, der durch den Tod seiner Frau Caroline den Boden unter seinen Füßen verlor und nicht mehr an seine Erfolge als Schriftsteller anzuknüpfen vermag. Er wohnt in einem Häuschen in Hampstead Heath und ist mit seinen Nachbarn mehr als nur gut befreundet. Tagtäglich geht er bei ihnen aus und ein und zählt schon zum erweiterten Familienkreis, als ein Nachmittag alles ändert. Und zum anderen ist da noch Daniel, der als Drohnenpilot beim Militär seinen Sold verdient, und dessen Leben durch einen Wendepunkt mit dem von Michael verbunden werden wird.

Ein ganz beachtliches Debüt

I saw a man ist Owen Sheers Debüt. Wohlformuliert berichtet er von den Schicksalen Daniels und Michaels, blickt hinter die noblen Fassaden im Hampstead Heath und seziert die verschiedenen Lebenslügen, in die sich seine Protagonisten verstricken. Glaubte ich nach der Lektüre des Klappentextes an einen gehobenen Kriminalroman, so ist das Buch für mich nun doch eher im Genre der Gegenwartsliteratur einzuordnen.

Der Vergleich mit Donna Tartt und Ian McEwan, der durch die Medien gezogen wird, wenn man dem Klappentext trauen darf, ist etwas hochgegriffen. Zwar vermag das Buch durchaus zu fesseln und zu unterhalten, doch zur erzählerischen Brillanz von Kalibern wie Ian McEwan oder Anthony McCarten fehlt Owen Sheers in meinen Augen noch das Feintuning. So ist I saw a man erzählerisch nicht ganz austariert und hat eine leichte Unwucht, was aber nicht groß ins Gewicht fällt.

Insgesamt ein vielversprechendes Debüt eines jungen Autors, das noch auf mehr hoffen lässt!

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Karl-Ove Knausgård – Lieben

Die Liebe des Lebens

Nach dem Auftakt seines Autobiographie-Zyklus‘ Sterben geht der Norweger Karl-Ove Knausgård nun vom Lebensende hin zum Beginn allen Lebens, nämlich der Liebe zwischen zwei Menschen.

Auf der epischen Breite von über 750 Seiten wälzt Knausgård die Hochs und Tiefs und verschiedenen Facetten der Liebe aus. Ausgehend von einer Trennung beschreibt er die Ursprünge und die Entwicklung seiner Liebesbeziehung zu Vanja, seiner Frau, aus der drei Kinder hervorgingen.

Eindringlich schildert er seinen Kampf um Vanjas Herz, seine persönlichen Niederlagen im Umgang mit dem weiblichen Geschlecht und schließlich das Familienleben, das ihn einzuengen drohte. Intensiv behandelt der Norweger viele Aspekte der Liebe und schont dabei weder sich noch seine Familie.

Auch Betrachtungen der schwedischen Gesellschaft sind Inhalt genauso wie Einblicke in sein schriftstellerisches Schaffen. Er beschreibt die Arbeiten an seinen ersten Romanen, die zu seinem Ruhm als Schriftsteller beitrugen. Somit lässt sich Lieben auch als Schlüsselroman zum schriftstellerischen Oeuvre Karl-Ove Knausgårds betrachten.

In mäandernder Form gibt Knausgård seinen Erinnerungen und Eindrücken Raum. Dies mag manchmal unstrukturiert erscheinen – doch je mehr man in Lieben liest, umso tiefer taucht man in die Welt des Norwegers ein und gerät in den Sog seiner Schilderungen.

In vielen Positionen, Situationen oder Verhaltensweisen erkannte ich mich unmittelbar wieder – die verschiedensten Facetten von Liebesbeziehungen und seine Offenheit lassen den Leser somit nicht nur an Knausgårds Leben teilhaben, sondern führen auch teilweise zu tieferen Erkenntnissen. Was heißt heute Liebe? Kann die Liebe zwischen zwei Menschen über lange Zeit unverändert bleiben und wie wirken sich Kinder auf das Beziehungsgefüge aus? Welche Räume muss man sich gegenseitig zugestehen?

Man liest und liest, reflektiert über sich selber, reist mit Knausgård durch seine Erinnerungen und kennt ihn am Ende dieses Buchs fast besser als sich selbst. Und am Ende dieses Bandes giert man noch schon nach dem nächsten Buch über Karl-Ove Knausgårds Leben. Wie macht dieser Mann das nur?

Die Antwort auf letztere Frage kann ich nun auch nicht geben, nur kann ich auf den Folgeband im Autobiographie-Zyklus verweisen – dieser trägt den Titel Spielen und ist sowohl als Hardcover als auch als Taschenbuch erhältlich.

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Adrian McKinty – Gun Street Girl

Zurück an der Front

Schon der zweite Einsatz für Sean Duffy dieses Jahr im Neuerscheinungsregal: Nachdem er sich im März noch der Aufklärung eines klassischen Locked-Room-Mysterys widmen und dazu parallel einen IRA-Bombenleger unschädlich machen musste (siehe Die verlorenen Schwestern), gibt es nun kurz nach der Frankfurter Buchmesse gleich Nachschlag:

Ursprünglich als Trilogie angelegt darf der katholische Bulle Sean Duffy nun noch eine Ehrenrunde im hochexplosiven Irland der 80er Jahre drehen. Eigentlich könnte alles in relativer Ordnung sein – doch die Ruhe in Duffys Revier hält nicht lange vor. Ein Mord bedarf seiner Spürnase, obwohl eigentlich alles klar wäre.
Ein reiches Ehepaar wird erschossen in ihrem Anwesen an der Küste Irlands aufgefunden. Vom Sohn des Paares fehlt jede Spur, doch nach ein paar Tagen wird dieser am Fuße der Steilklippen aufgefunden. Ein Selbstmord oder ein geschickt getarnter Mord, bei dem etwas vertuscht werden sollte?
Für Sturkopf Duffy ist Ockhams Rasiermesser nämlich mehr als stumpf – die offensichtliche Lösung des Falls behagt ihm  überhaupt nicht. Unbeirrt gräbt er immer tiefer und beginnt seine Nachforschungen, die ihm mächtige Feinde bescheren und ihn bis nach Oxford und London führen werden.
Inmitten von IRA-Bomben, Straßenschlachten und Anwerbeversuchen des MI5 versucht der katholische Bulle seinen Weg zu gehen, doch wird ihm dies noch einmal gelingen?

Sean Duffy im Piano-Modus

Musste Duffy in seinem letzten Fall unter Hochdruck operieren, hat ihm McKinty in seinem neuesten Fall eher wieder einen klassischen Krimi mit viel Ermittlungsarbeit auf den Leib geschrieben. Ausgehend von den Ereignissen rund um das erschossene Ehepaar gräbt sich der irische Ermittler Schicht um Schicht tiefer und stößt diesmal auf Amerikaner in Nordirland, Waffenschmuggel und Spuren, die gen England weisen.
Flott geht in diesem Falle diesmal kaum etwas, vielmehr muss Duffy immer wieder seine Ermittlungen neu ausrichten und alle Spuren hinterfragen. Doch das Schnüffeln wird in seinem neuesten Fall etwas leichter, da Duffy von Adrian McKinty sogar eine kleine Liebesgeschichte spendiert bekommt, die sein tristes nordirisches Dasein etwas erträglicher macht (plus diverse Wodka Gimlets und alles, was das Betäubungsmittelgesetz so kennt).

Verlorenen

Duffy No. 3: Die verlorenen Schwestern

Adrian McKinty könnte in meinem Falle auch ein Rezept zur Herstellung von Brühe beschreiben, sodass es ein Genuss wäre, dieses zu lesen. Mit seiner Mischung aus Noir, der Geschichte Irlands und einer Einführung in die Popkultur der 80er Jahre verquickt er alles zu einem höchst unterhaltsamen Gesamtkunstwerk. Sein Sean Duffy ist ein gebrochener Charakter, dem die unverbrüchliche Sympathie des Lesers gehört, auch wenn für Duffy Gesetze und Richtlinien eher frei ausgelegt werden.

Ein Lob an dieser Stelle wieder an den famosen Übersetzer Peter Torberg, der McKintys so variantenreiche Prosa stets gelungen ins Deutsche hinüberzuretten weiß. Die Dialoge sitzen und machen einfach Spaß.
Ich bleibe dabei: Die Sean-Duffy-Reihe ist derzeit eine der besten in der Kriminalliteratur und McKinty einer der talentiertesten Schreiberlinge von der irischen Insel. Eine Pflichtlektüre für alle Leser, die gerne mal abseits ausgetretener Pfade wandeln!

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Friedrich Ani – Der namenlose Tag

Der Todesbote

Faulheit kann man Friedrich Ani wirklich nicht vorwerfen: über 100 Bücher weist die Deutsche Nationalbibliothek in ihren Katalogen nach, die Ani geschrieben bzw. an denen er mitgewirkt hat. Nun startet der produktive Münchner Krimiautor im Suhrkamp-Verlag eine neue Reihe, die den Ermittler Jakob Franck einführt.

Jakob Franck ist ein pensionierter Kriminalbeamter, der sich im Münchner Polizeipräsidium als Überbringer von schlechten Nachrichten einen Ruf geschaffen hat. Stets überbrachte er den Hinterbliebenen Todesmeldungen und andere Hiobsbotschaften und half ihnen, den Schmerz zu lindern. Geblieben ist ihm eine kaputte Ehe und die Geister der Toten, die ihn immer mal wieder besuchen kommen.
Ein besonderer Fall ruft ihn nun im Ruhestand. Vor zwanzig Jahren erhängte sich in einem Park ein junges Mädchen. Kurz darauf brachte sich ihre Mutter um – und der Witwer Ludwig Winther kann mit dem Verlust auch nach 20 Jahren nicht abschließen. Er ist zutiefst davon überzeugt, dass seine Tochter umgebracht wurde. Seine letzte Hoffnung heißt Jakob Franck. Und dieser hat auch eine persönliche Bindung zu dem Fall – er überbrachte der Mutter des Opfers damals die schlechte Nachricht. Wenig später erhängte sich die Mutter ebenfalls. Franck beginnt den kalten Spuren noch einmal nachzugehen.

Bereits das Cover macht Lust auf den geheimnisvollen Krimi. Was hat sich in der Familie von Ludwig Winther zugetragen? Kann es sein dass Winthers Tochter damals wirklich ermordet wurde und der Mörder mit seiner Tat bis heute davongekommen ist? Geschickt legt Ani seine Spuren, die zwanzig Jahre zurückführen.

Dass Ani schreiben kann, davon zeugte nicht zuletzt die Auszeichnung mit dem Deutschen Krimipreis, den der Müncher mit seinem letzten Tabo-Süden-Krimi errang.Gerade die lebensnahen Dialoge sind eine große Stärke von Der namenlose Tag. Wie Franck in alten Wunden bohrt und in Gesprächen versucht Widersprüche aufzudecken, das liest man so in der deutschen Krimiliteratur selten. Die Realitätsnähe macht den Fall für Jakob Franck aus, sucht man doch gewiefte Serienkiller oder übermenschliche Ermittler vergeblich. Vielmehr kämpft der ehemalige Todesbote mit seinen inneren Dämonen und versucht etwas Frieden zu finden.
Mit seinen knapp 300 Seiten hat der Krimi genau die richtige Länge, bevor ins Langweilige kippen könnte. So ist der Reihenauftakt eine spannende Spurensuche in längst Vergangenem geworden, die bis zu ihrer Auflösung den Leser in Neugierde zu versetzen weiß.

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