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Christian Torkler – Der Platz an der Sonne

In diesem Bücherherbst ist es noch nicht so oft vorgekommen, dass sich Sprache, Botschaft und Inhalt eines deutschsprachigen Romans auf eine derartig großartige Art und Weise vermengt haben. Umso verblüffender, dass dieses Stück Literatur ein Debüt ist. Geschrieben hat es Christian Torkler und es hört auf den Namen Der Platz an der Sonne.

Auf der Flucht nach Afrika

Torklers Grundidee ist dabei bestechend und macht das Buch zur Pflichtlektüre unserer Tage. Denn er dreht die Fluchtbewegung von Afrika ins wirtschaftlich so prosperierende Europa einfach um. Bei ihm zieht es nun die Deutschen nach Afrika, so auch den Ich-Erzähler Josua Brenner, der sich auf eine unglaubliche Odysee hin zu seinem eigenen Platz an der Sonne macht.

Denn jenen Platz an der Sonne, den Bernhard von Bülow noch 1897 für das aufstrebende Deutsche Kaiserreich forderte, den hat Deutschland in Torklers Buch nicht bekommen. Stattdessen liegt Deutschland im Jahr 1978 in Kleinstaaten zersplittert danieder. Brenner lebt in der Preußischen Republik, die von  großer Armut, einer desolaten Infrastruktur und wild wuchernder Bürokratie gekennzeichnet ist. Mögen auch die Machthaber und ihre Wahlparolen wechseln, die Grundübel einer Nation im Niedergang bleibt. Und so beschließt Brenner, sich auf den Weg ins Gelobte Land zu machen, das hier der Afrikanische Kontinent ist

Nach der klassischen Einführung (Mann legt Beichte ab, die ihn in diese Situation gebracht hat, wir erfahren nach und nach seine Geschichte) formuliert Torkler eine wild wuchernde und überbordende Geschichte. Diese ist genauso eine alternative Geschichtsschreibung wie eine klassische Odyssee. Torkler formuliert einen fantastischen Bilderbogen, mitreißend und nachdenklich stimmend.

Für seinen Ich-Erzähler Josua Brenner findet er genau den richtigen Ton, genauso wie für alle anderen Menschen, denen er begegnet. Dass ein Debütant derart vielgestaltig und -sprachig zu erzählen weiß, das überrascht positiv und nimmt mich noch mehr für das Buch ein.

Ein anderer Blick

Hier zeigt sich wieder einmal was Literatur in ihrem besten Sinne kann. Sie lässt uns unsere Weltbilder hinterfragen, schürt Empathie und unterhält dabei auch noch auf das Beste. Wer Der Platz an der Sonne gelesen hat, der sieht neu auf Fluchtbewegungen und bekommt auch einen neuen Blick auf den Komplex Flucht. Gerade in Zeiten, in denen Diskurse vergiftet, Positionen verschoben und Mitgefühl als Schwäche verleugnet werden, rückt dieses Buch wieder vieles gerade.

Für mich ist Der Platz an der Sonne das Buch der Stunde, die Antwort auf alles fremdenfeindliche Geblöke und eine geistige Kur für alle, die von Wohlstandsflüchtlingen und Ähnlichem schwafeln. Eines der literarischen Highlights dieser Saison. Bitte lesen – danke!

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Stefan Zweig – Die Welt von gestern

Man sollte mehr Stefan Zweig lesen. Diese Erkenntnis hat sich für mich nach der Lektüre von Zweigs Autobiographie Die Welt von gestern – Erinnerungen eines Europäers noch einmal verfestigt. Durfte ich bereits Zweigs Miniaturen Sternstunden der Menschheit in der kommentierten Salzburger Ausgabe lesen, widmete ich mich nun den im Exil entstandenen Erinnerungen des Österreichers. Bei der Ausgabe, die mir hierbei vorlag, handelt es sich um die von Oliver Matuschek kommentierte Fassung, erschienen im S.Fischer-Verlag. Mit 704 Seiten enthält sie über 230 Seiten Anmerkungen, Fußnoten und Hintergrundinformationen zu der Entstehungsgeschichte der einzelnen Kapitel sowie Fotografien und graphische Abbildungen.

Ohne Nachschlagewerke oder ein persönliches Archiv fertigte der 1881 in Wien geborene Schriftsteller seine Lebenserinnerungen an, wie er schon im Vorwort seines Buches betont. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten und der folgende Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich 1938 hatten den Schriftsteller dazu bewogen, seine Heimat in Salzburg zu verlassen. Fortan lebte er unstet, ging erst nach England, um dann über New York, Argentinien und Paraguy bis nach Brasilien zu emigrieren, wo er sich 1942 in Petropolis zusammen mit seiner Frau Lotte das Leben nahm. Posthum erschienen seine Erinnerungen an jene Welt von gestern, die er hinter sich ließ beziehungsweise lassen musste. Seine Bücher, seine gesammelten Autographen und Erinnerungen blieben umzugsbedingt zurück, am Ende behielt Zweig nur seine Erinnerungen, die er auf Papier bannte und die einen präzisen Weg Europas vom 19. Jahrhundert bis in die Zeit des Nationalsozialismus nachzeichnen.

Flucht ins Exil

Seine Erinnerungen umfassen dabei Persönliches genauso wie Politisches, Soziologisches und Begegnungen mit anderen Größen seiner Zeit. In einer wunderbaren, nicht antiquiert zu nennenden Sprache schildert er ausgehend von seinen Jugenderinnerungen und seiner Gymnasialzeit seinen Werdegang. Er zeichnet dabei seine Karriere als Schriftsteller nach, die ihn auf dem Höhepunkt seines schriftstellerischen Erfolgs zu einem der meistgelesenen und übersetzten Schrifsteller der Welt werden ließ. Dies änderte sich, als die Nationalsozialisten ihn vom Buchmarkt tilgen ließen, da Zweig trotz seines literarischen Renommees als Jude alles andere als wohlgelitten war. Paradoxerweise sorgten die Nazis selbst aber auch für einen Erfolg des Schriftstellers: als dieser das Libretto für die Oper Die schweigsame Frau von Richard Strauss verfasste, wurde noch einmal ein Werk des Autoren zugelassen, ehe Zweig anschließend zur geächteten Person wurde.

Die Begegnungen mit Richard Strauss finden im Buch genauso ihren ausführlichen Platz wie die die Kontakte mit den Weggefährten wie Hugo von Hoffmannsthal, Rainer Maria Rilke, Romain Rolland oder Émile Verhaeren. Allen diesen Dichtern und Denkern widmet Zweig Vignetten, mal schwärmerische, mal verhaltenere Zeilen. Dabei gelingt es ihm, einen wirklichen europäischen Blick auf die Kulturlandschaft zu entwickeln, seine Übersetzungen und Reisen machen ihn zu einem weltoffenen und interessierten Menschen, der die Leser seiner Autobiographie an diesem kosmopolitischen Blick teilhaben lässt. Stark tritt in den Kapiteln (insbesondere in denen über den Ersten Weltkrieg) Zweigs Überzeugung von der Idee Europas in den Vordergrund. Seine Absagen an nationale Kraftmeiereien und den nach dem Kriegsende erblühenden Revanchismus sind deutlich und besitzen auch 75 Jahre nach dem Erscheinen seiner Erinnerungen große Aktualität und Richtigkeit.

Eindringliche Erfahrungen

Auch insgesamt betrachtet bleibt Zweigs Schaffen von großer Bedeutung, seine Themen sind universell und lesen sich frisch. Wie guter Geschichtsunterricht entfalten sich Zweigs chronologischen Schilderungen und bleiben fesselnd und eindringlich, obwohl die Geschehnisse eigentlich ja bekannt sind. Dabei spart Zweig bei aller Persönlichkeit, die durch die Form der Autobiographie bedingt ist, auch bestimmte Themen aus. Er interessiert sich eher für die geschichtlichen Zusammenhänge und sein künstlerisches Schaffen, denn für so etwas Privates wie die Liebe. Zweigs Beziehungen finden in der Welt von gestern eigentlich nicht statt.

Den von ihm gewählten Ansatz und seine entwickelten Erinnerungsbögen finde ich, um dies nun abschließend noch einmal aufzugreifen, wirklich wunderbar und – ja, ich bemühe das Wort – meisterhaft. Eine Autobiographie, die die Zeit überstehen wird und ein wahrer Klassiker ist. Frisch, eindringlich und fabelhaft geschrieben gehört sie immer wieder gelesen.

Auch Oliver Matuschek hat am Gelingen der vorliegenden Ausgabe natürlich einen immanenten Anteil, schließlich liefert er einen erhellenden Anmerkungsapparat, der Zweigs Erinnerungen noch einmal vertieft. Mit zahlreichen Fußnoten arbeitet er die Verweise in Zweigs Werk heraus, ergänzt durch konkrete Informationen auf dem neuesten Stand der Zweig-Forschung und rundet so das Leseerlebnis ab. Einzig etwas schade, dass beide Textkorpusse völlig unverbunden nebeneinander stehen. So muss man stets vom Anmerkungsapparat zu Zweigs Erinnerungen springen und umgekehrt. Alleine aus dem Text des Österreichers wird durch die Nicht-Verwendung von Fußnoten nicht ersichtlich, an welchen Passagen Kommentierungen erfolgten. So muss man immer etwas blättern oder auf Verdacht zu Matuscheks Erläuterungen springen in der Hoffnung, die vorliegende Stelle sei eine kommentierte. Hier hätten Einmerkungen im Text für mehr Klarheit sorgen und Brücken bauen können (wenngleich sie natürlich im Lesefluss irritieren können, aber ich lese hier ja bewusst eine kommentierte und keine reine Text-Ausgabe).

Ansonsten aber von diesen kleinen Anmerkungen abgesehen ist die Konzeptionierung dieser Ausgabe absolut stimmig und zeitlos. Es bleibt nur zu hoffen, dass Zweigs Erinnerungen immer wieder neu gelesen und bedacht werden – mit dieser kommentierten Ausgabe wird hierzu ein großer Schritt getan!


Bildrechte Titelbild: Andreas Maislinger – http://www.gedenkdienst.org/deutsch/stellen/stelle34.php4, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=11224860

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Michael Roes – Zeithain

Nach Norman Ohlers Buch Die Gleichung des Lebens ist Michael RoesZeithain bereits der zweite Roman in diesem Bücherherbst, der sich mit Friedrich II. von Preußen und dessen Beziehung zu Hans Hermann von Katte befasst. Dabei gelingt Roes ein eindringliches Katte-Porträt, eine Studie über Väter und ihre Söhne sowie eine Reise zu den Grundpfeilern des Mythos Preußen.

Ausgangspunkt ist Hans Hermann von Katte, der mutterlos in einem Haushalt ohne Liebe oder Fürsorge aufwächst. Seinem Vater Hans Heinrich von Katte gilt als preußischem Landjunker die strenge Disziplin als das höchste Gut; Hauslehrer, die zu liberal oder freigeistig sind, werden von Kattes Vater schneller entlassen, als ihnen lieb ist. Als Stein des Anstoßes genügt da schon, dass Katte senior zugetragen wird, sein Sohn würde in den schönen Künsten gelehrt wird. In diesem indoktrinierten und regelstarren Milieu wächst Hans Hermann von Katte heran und schafft es dennoch, sich einen Willen zur Selbstbehauptung zu bewahren.

Das Leben des Hans Hermann von Katte

Vom Aufwachsen in Wust ausgehend schreibt sich Roes chronologisch durch Kattes Leben, einem Aufenthalt im pietistischen Francke’schen Collegium zu Glaucha folgt dann die historisch verbürgte Kavaliersreise Kattes, ehe er den Eintritt des jungen Mannes in das preußische Heer beschreibt. Generell ist die historische Genauigkeit zu loben, mit der Roes seinen Roman versieht. Roes füllt die Eckdaten und bekannten Fakten aus dem Leben Kattes weiterhin mit einem erzählerischen Kniff. Er erfindet den Erzähler Philipp Stanhope, ein illegitimen englischen Sproß, der auf einer Seitenlinie mit dem preußischen Königshaus verwandt ist. Jener imaginiert sich in die historischen Begebenheiten hinein und wird dadurch zum Ich-Erzähler Katte. Angereichert wird das Ganze durch eine von Dissoziation und Psychosen (so zumindest meine Deutung) gekennzeichnete Rahmenhandlung, in der Stanhope die Lebensstationen von Katte noch einmal bereist. Von Glaucha über Köthen bis nach Kaliningrad, London und abschließend Küstrin führt Stanhopes Reise, die auch immer wieder von fiktiven Briefen Hans Hermann von Kattes unterbrochen wird.

In Küstrin endet dann Roes fiktionalisierte Katte-Biografie mit jenem Ereignis, das an Dramatik kaum zu überbieten ist. Im Heer verbindet Katte mit dem jungen Königssprößling Friedrich II. eine innige Freundschaft, deren Grenze zu Liebe überschritten wird. Friedrich, der unter seinem ebenfalls unmenschlich agierendem Vater, dem Soldatenkönig Friedrich Wilhelm, leiden musste, beschließt zu fliehen. Hans Hermann von Katte sollte ihm auf der Flucht beistehen – doch der Plan scheiterte. Beide werden festgesetzt und Katte wird in Festungshaft genommen. Als Erziehungsmaßnahme für den jungen Thronfolger beschließt Friedrich Wilhelm, Katte vor den Augen Friedrich Wilhelm II. mit dem Schwert hinrichten zu lassen.

Eine geheime Zuneigung – und eine Hinrichtung

Hans Hermann von Katte

Einen solchen Stoff kann man sich als Schriftsteller ja nur wünschen. Die Lebensgeschichte Kattes und sein Schicksal sind ein Geschenk in Sachen Dramatik und Eindringlichkeit. Schon Theodor Fontane, dessen Zitat aus den Wanderungen durch die Mark Brandenburg vorangestellt ist, begreift die Katte-Geschichte als zentrales Motiv im Mythos Preußen. Und tatsächlich gelingt es Roes glaubhaft, diesen Mythos auch durch die Leben von Katte und Friedrich II. zu begründen. Er zeigt in gelungenen Spiegelungen die Folgen von Härte und Unbarmherzigkeit in der väterlichen Erziehung und enttarnt starre Regeln wie etwa die Preußischen Tugenden als ein Joch, das junge Männer bricht und im Zusammenspiel mit Militarismus eine fatale Dynamik entwickelt.

Die Zeichnung der gegenläufigen und doch so ähnlichen Männern gelingt Roes genauso bravourös wie die Beschreibungen ihres Kampfes um Souveränität und Selbstbehauptung. Bei anderen Schilderungen gehen die Pferde dann doch etwas mit ihm durch, gerade was die wilden psychotischen Schilderungen von Stanhopes Eskapaden betrifft. So wohnt dieser etwa im nächtlichen Berliner Tiergarten der Geburt von Kojotenjungen bei, die dann im Lauf der Geschichte zu Engeln werden. Hier hätte eine Reduktion derartiger Fantastereien zugunsten der Katte-Biographie Not getan.

Stark sind die Binnenepisoden immer dann, wenn Stanhope zu den Schauplätzen aus Kattes Biografie reist und seine Eindrücke der Städte schildert. Egal ob Kaliningrad oder Köthen, die Diskrepanz zwischen dem Glamour des 18. Jahrhunderts und der Gegenwart ist frappant und wird von Roes gut herausgearbeitet. Schilderungen wie die etwa oben erwähnte Kojoten-Episode oder Nachtszenen hingegen fallen angesichts des insgesamt hohen Niveaus bedauerlicherweise ab. Auch die inkonsequente Haltung, die Stanhope’sche Rahmenhandlung im Nichts enden zu lassen, ist nicht ganz schlüssig und lässt diesen Erählstrang zur schwächsten Seiten des Buchs werden.

Der Erzählungstrang um Katte überzeugt

Die Hinrichtung Hans Hermann von Kattes

Mit dem Setting rund um Hans Hermann von Katte hingegen kann Roes umso mehr überzeugen, mehrere Punkte machen die Qualität dieses Erzählstrangs aus. Neben der Sprachmacht Roes (für die er eine gute Mittellösung zwischen historischem Duktus und aktueller Lesbarkeit findet) sind es auch Setting und Figuren, die man in dieser Qualität nicht häufig findet. Über die Zeichnung von Handlungsorten wie etwa den Francke’schen Erziehungsanstalten zu Glaucha oder dem megalomanischen Heereslager in Zeithain gelingt ihm auch ein Porträt der damit verbundenen historischen Persönlichkeiten. Eine ganze Fülle an historischen Gestalten begegnet Katte nämlich auf seinem Lebensweg, vom Meisterkompositor Bach über Georg Friedrich Händel in London bis zu August Hermann Francke. Aus diesen auch heute noch klingenden Namen erschafft Roes tiefenscharfe Vignetten und zeigt Menschen mit Schwächen und Stärken.

Die wahre Klasse von Zeithain beweist sich auch darin, dass Roes sich nicht, wie zumeist für historische Romane üblich, mit dem Nacherzählen von Fakten und Figuren begnügt. Er geht deutlich tiefer und schafft über diese Ebene hinaus noch ein viel eindrücklicheres Leseerlebnis, indem er viele Subthemen in seine Rahmenhandlung einwebt – mal auffälliger, mal subtiler. So werden die Fragen von schwuler Identitätsfindung im 18. Jahrhundert und heute immer wieder aufgegriffen und verhandelt, die Vater-Sohn-Konflikte treten ebenso in der Vergangenheit wie heute zutage. Insgesamt eignet sich Roes‘ Roman für mehrere wissenschaftliche Arbeiten, soviel Motive und stilistische Besonderheiten sind in diesem Roman versteckt.

Dass dieser Roman bei der Auswahl zum Deutschen Buchpreis im Herbst übergangen wurde, ist für mich nicht nachvollziehbar. Ein gewaltiger Stoff und ein immenses Drama, dem Roes wirklich gerecht wird. Ein Mammutwerk mit leichten Schwächen, die durch den Rest des Buchs allerdings mehr als wettgemacht werden. Ein Doppelporträt zweier besonderer Männer, ein historischer Roman und Zeitgeist-Roman zugleich, ein pralles Gemälde, satt an Bildern, Gerüchen und Emotionen. Ich bin begeistert und schließe mit einem etwas albernen, im Kern doch zutreffenden Poem: Für Zeithain sollte Zeit sein. Doch diese Investition von Zeit lohnt sich aber auf alle Fälle – man wird mit großem literarischen Genuss belohnt.

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Sasha Marianna Salzmann – Außer sich

Mit dem Debüt Außer sich der Berliner Dramaturgin und Theaterautorin Sasha Marianna Salzmann liegt ein Buch vor, das es mir nicht wirklich leicht gemacht hat und bei dessen Beurteilung ich nach wie vor schwanke.

Inhaltlich ist dieses Buch eine familiäre Spurensuche, eine Selbstfindung und ein Familienroman. Ausgangspunkt ist die Reise der Erzählerin Alissa nach Istanbul. Von dort erhielt sie nämlich eine Postkarte ihres Zwillingsbruders Anton, der in der Millionenmetropole am Bosporus verschwunden zu sein scheint. Von nun an operiert Salzmanns Roman auf zwei Achsen. Da ist zum Einen die Suche nach Anton im Moloch Istanbul und zum Anderen die Geschichte von Allissas und Antons Familie, die in Episoden erzählt wird. Von der Revolutionszeit ausgehend wird die Geschichte der Großeltern und eigenen Eltern bis zum Asyl in Deutschland ausgebreitet

Dabei verortet sie ihre Geschichte ganz konkret in der türkisch-deutschen Gegenwart: Gezi-Park-Proteste, Militär-Putsch, Asyl – all diese Themen spielen im Buch von Sasha Marianna Salzmann eine Rolle.

Mit ihrem ersten Titel gelang es der Autorin gleich, den Literaturpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung zu erringen. Kein unbedeutender Erfolg, wenn man sich die Reihe der bisherigen Preisträger vergegenwärtigt. Namen wie Martin Mosebach, Arnold Stadler oder Zsuzsa Bánk finden sich auf dieser Liste – oder auch Reinhard Kaiser-Mühlecker. Dem österreichischen Autoren gelang im letzten Jahr etwas, das auch Sasha Marianna Salzmann auf Anhieb geschafft hat – der Sprung auf die Longlist (und nun sogar auf die Shortlist) des Deutschen Buchpreises – und das als einzige Debütantin in diesem Jahrgang.

Nur eingeschränkte Empfehlung

Trotz dieser Meriten kann ich das Buch nur eingeschränkt empfehlen. Ihre 365 Buchseiten packt Sasha Marianna Salzmann übervoll mit Themen und schafft so eine Sperrigkeit, die mich nach 150 Seiten das Buch abbrechen und noch einmal von vorne beginnen ließ. Wie hängen die ganzen familiären Fäden zusammen? Wie ist die Verbindung zur Suche nach ihrem Bruder in Istanbul?

Die Sprünge in der Erzählperspektive und Brüche in der Erzählstruktur machen die Lektüre nicht wirklich leicht, zudem erfordert Außer sich ein sehr langsames Lesetempo, um die komprimiert erzählten Verwicklungen und Verbindungen en detail zu erfassen. Für Leser, die eine konzise erzählte oder klar strukturierte Familiensaga suchen, ist dieses Debüt dadurch weniger geeignet.

Das Buch machte es mir zu keinem Zeitpunkt leicht – was an sich auch nicht schlecht ist. Bücher, die fordern und den Leser auffordern, zu hinterfragen und bedenken, können auch immer ein Gewinn sein. Doch ein weiterer Malus machte mir bei Salzmanns Debüt außerdem zu schaffen: keine der zahlreichen Figuren, die das Buch bevölkern, schaffte es, Empathie zu erzeugen. Alle Protagonistinnen leiden für meinen Geschmack an Überdramatisierung. Jede Figur ist dissoziativ, problembeladen, sperrig – so gelang mir kein Einfühlen in die Figuren und ihre Lebenswelten.

Dadurch bleiben für mich in der Endabrechnungen viele Punkte auf der Soll- und Haben-Seite dieses Debüts stehen. Aktuelle Schilderungen der Türkei und Asylschicksale, ein ambitionierter Plot und eine Autorin, die für die Zukunft viel verspricht – es bei diesem Buch aber noch nicht einlöst. Sperrige Figuren, ein zu viel an Dramatisierung, viele zurückbleibende Fragen. Damit ist Außer sich für mich ein zwar recht interessanter Titel, den ich aber nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises sehe (auch wenn, nachdem diese Kritik nun geschrieben war, die Jury das Ganze anders gesehen hat und Salzmann auf die Shortlist befördert hat. Ich als Jurymitglied hätte anders entschieden und statt dieses Buches Ellenbogen von Fatma Aydemir auf die Shortlist gesetzt).

Außer sich ist ein Buch, das sicher ein gespaltenes Echo bei den Lesern hervorrufen wird. Ich bin auf alle anderen Meinungen Mitlesender gespannt!

[Headerbild: (c) Matthias Ripp/Flickr]

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Colson Whitehead – Underground Railroad

Bitte Einsteigen zu einer literarischen Tour der besonderen Art. Colson Whitehead lädt ein zu einer Fahrt mit der Underground Railroad zu den Wurzeln des Rassismus und ethnischen Konflikten. Doch Achtung – es wird keine gefällige Fahrt werden – Ruckeln und Bremsungen inklusive!

Sein literarischer Zug besteht aus verschiedenen Charakteren und Stationen. Die Hauptstrecke wird von Cora, einer jungen Sklavin mit unbändigem Freiheitsdrang, bestritten. Diese beschließt es ihrer Mutter nachzutun und von der Baumwollplantage in den Norden zu fliehen. Helfen soll ihr dabei die Underground Railroad, die Colson Whitehead als besonderer Kniff seines Romans einfach wörtlich genommen hat. Die Fluchtroute für die Sklaven in den Norden ist bei ihm nämlich nicht nur eine einfache Schmuggelroute, sondern tatsächlich ein unter der Erde Amerikas existierenden Eisenbahnnetz. Dieses gut geschützte Geheimnis wird von verschiedenen Stationsvorstehern bewacht. Für Cora stellt es die Lösung dar, um ihrer Baumwollplantage und ihrem Schicksal zu entkommen und nach North Carolina zu fliehen.

Dort herrscht eine mildere Form der Rassentrennung; Abolitionismus und Anerkennung von entlaufenen Sklaven kennzeichnen diesen Staat. Dass gut gemeint auch immer noch bestürzend fatal sein kann, zeigt Colson ins Szenen und Dialogen, die heute nur noch den Kopf schütteln lassen. Wie etwa denen, in denen es um Vergewaltigung und Zwangssterilisation geht:

„Die Entscheidung liegt natürlich bei dir“ sagte der Arzt. „Seit dieser Woche ist die Operation für einige im Staat zwingend vorgeschrieben. Für farbige Frauen, die schon mehr als zwei Kinder geboren habe, im Sinne der Bevölkerungskontrolle. Für Schwachsinnige und anderweitig geistig Ungeeignete, aus naheliegenden Gründen. Für Gewohnheitsverbrecher. Aber für dich gilt das nicht, Bessie.“ (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 134)

Gerade in diesen Szenen und Beschreibungen gelingt es dem amerikanischen Autor, ein vielgestaltiges und nuanciertes Bild der Sklaverei- und Rassismusproblematik zu zeichnen. In diesen Szenen ist das Buch besonders stark und berührt und verstört durch die ungefilterte Darstellung der Leiden Coras, die stellvertretend für Millionen Schicksale steht.

Immer wieder wechselt Whitehead seine erzählerischen Abteile, springt von Cora zum Kopfgeldjäger Ridgeway, der die Verfolgung der jungen Sklavin aufgenommen hat. Er bremst die Erzählung manchmal auf ein gemächliches Tempo herunter, dann beschleunigt er und rafft die Handlung, sodass der Leser sich manchmal anstrengen muss, um an Bord zu bleiben. Durch verschiedene Staaten geht es, verschiedene Menschen erzählen (Deutsche Übersetzung durch Nikolaus Stingl).

Mit der ganzen Fülle der Details gelingt ihm ein umfassendes Porträt des zentralen (amerikanischen) Problems, das bis heute in die Gesellschaft fortwirkt. Erschütternd zu sehen, welchem Leid und welcher Verfolgung die farbige Bevölkerung ausgesetzt war – und noch erschütternder zu sehen, dass auch heute noch genau die gleichen Probleme existent sind. Ein amerikanischer Präsident, der das Wirken des KuKluxKlans nicht verurteilen mag, White Supremacists und die Black Lives Matter Bewegung – all das sind nur einige Schlagworte, die zeigen, wie immanent wichtig Whiteheads Buch ist, um die amerikanische Gesellschaft in Ansätzen verstehen zu wollen. Deshalb ist das Buch für mich auch ein Schlüsselroman Amerikas und unbedingt zu empfehlen

Ein sperriges Buch, eine fantasievoller Roman – oder um mit den Worten Colson Whiteheads zu schließen:

Wenn man sehen will was es mit diesem Land auf sich hat, dann muss man auf die Schiene. Schaut hinaus, während ihr hindurch rast und ihr werdet das wahre Gesicht Amerikas sehen (Whitehead, Colson: Underground Railroad, S. 301).

 

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