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Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau etc.

Einen ganzen Teppich aus Frauenleben webt die britische Autorin Bernardine Evaristo in ihrem Roman Mädchen, Frau etc.. Mit diesem Bogen an weiblichem, schwarzem Leben gelang der Autorin im Jahr 2019 eine Sensation: nach genau fünfzig Jahren seit Bestehen des Preises errang mit Bernardine Evaristo erstmals eine schwarze Frau diesen Preis. Nicht nur angesichts ihres Themas eine mehr als fällige Entscheidung – die im Lichte unserer Tage besehen auch zeigt, wie schnell sich der Zeitgeist wieder wandeln kann.


So viel (schwarzes) Frauenleben in einem Buch ist selten. Jedes der ersten vier Kapitel von Bernardine Evaristos Buch stellt drei ganz unterschiedliche Frauenleben vor, ehe im fünften Kapitel dann viele der vorgestellten Frauen auf der Premierenparty zum neuen Stück der Theatermacherin Amma im National Theatre in London zusammenfinden.

Es ist ein großer Bogen oder besser ein literarischer Teppich aus Leben und Schicksalen, den Evaristo in ihrem Roman knüpft. Da ist die schon erwähnte Amma, die als schwarze, lesbische Künstlerin zunächst gegen das althergebrachte System revoltierte. Sie „schleuderte als Rebellin Handgraten auf das Establishment, das sie ausschloss“ (S. 12), hat jetzt aber doch den Weg in die Institutionen angetreten. Als gefeierte Regisseurin aus dem Off reüssiert sie auf der größten Theaterbühne des Landes, wo sie ihr Stück Die letzte Amazone von Dahomey inszeniert.

Weiter geht es dann mit Ammas Tochter Yazz; darauf folgen weitere Frauen wie die im Laufe ihres Lebens zunehmend desillusionierte Lehrerin Shirley, die aus Nigeria stammende Akademikerin Bummi, die sich in London trotzdem als Putzfrau durchschlagen muss oder deren Tochter, deren Leben dann wiederum Berührungspunkte mit der Lehrerin Shirley aufweist.

Ein erzählerischer Teppich schwarzer Frauenleben

Bernardine Evaristo - Mädchen, Frau, etc. (Cover der Büchergilde-Ausgabe)

Immer wieder gibt es kleine Querverweise, berühren sich Leben, gibt es Überschneidungen der Lebensthemen, denen sich die Frauen gegenüber sehen. Dabei ist es die Unterschiedlichkeit, die ihre schwarzen Frauen ein. Mögen sie auch höher oder tiefer auf der gesellschaftlichen Leiter stehen, mögen sie scheinbar aller materiellen Sorgen enthoben sein oder sich genau damit herumschlagen. Es sind doch Fragen der Perspektivlosigkeit, des Rassismus und der Aussicht auf gesellschaftlichen Aufstieg, der über Generationen hinweg die Frauen vor Herausforderungen stellt.

Ausgreifend bis ins 19. Jahrhundert hinein ist Mädchen, Frau etc. das Manifest weiblicher Widerstandskraft und zeigt den vielgestaltigen Kampf um Selbstbehauptung für Evaristos Frauen.

Ebenso vielgestaltig, was Frauenleben und Themen anbelangt, ist auch Bernardine Evaristos Sprache. Die Professorin für Kreatives Schreiben wählt einen schnellen, manchmal fast nur angerissenen Stil, der sich gar nicht erst mit so etwas wie Zeichensetzung und eigentlich grammatikalisch gebotener Großschreibung innerhalb eines Satzes aufhält.

Rhythmisiert und vorwärtsdrängend ist ihr Stil, den Tanja Handels wunderbar ins Deutsche übertragen hat. Schnell hat man sich eingewöhnt in diese Erzählweise, die auch mit Rückblenden arbeitet und in manchen Passagen an ein Langgedicht erinnert.

Gewinner des Booker Prize 2019

Evaristos Sprache und der so vielstimmige Blick von schwarzen Frauen auf ihr Leben in Großbritannien fügt der britischen Literaturgeschichte eine notwendige und aufschlussreiche Perspektive hinzu. Insofern ist die Auszeichnung mit dem Booker Prize mehr als gerechtfertigt, den Evaristo im Jahr 2019 zusammen mit Margaret Atwoods Die Zeuginnen erhielt.

Nun, sechs Jahre später, lässt sich konstatieren, dass Evaristos Auszeichnung wirklich gerechtfertigt war und vielleicht auch nur die singuläre Zuerkennung des Preises verdient hätte. Atwoods Werk war ein solides, aber eben auch nur durchschnittlich erzähltes, am Actionerzählhandwerk aktueller Bücher orientiertes Sequel zu ihrer eigentlichen Großtat Der Report der Magd, das angesichts der zeitgeschichtlichen Entwicklungen seine ganze Prophetie und Klasse nach wie vor entfaltet, wohingegen das deutlich jüngere Werk der kanadischen Autorin dem Vergleich mit dem Vorgängerroman nicht Stand gehalten hat.

Doch der Blick zurück stellt nicht nur die wahre Klasse von Evaristos Werk und dessen Zeitlosigkeit in Sachen Themen und Erzählabsichten unter Beweis. Vor allem ist das Buch – so paradox es klingen mag -aufgrund dieser Zeitlosigkeit in gleichem Maße auch eine Kenngröße für die Zeit, die seit der Auszeichnung des Buchs verstrichen ist.

Zeitgeist im Wandel

Denn besieht man sich Bernardine Evaristos Sieg mit Mädchen, Frau etc. vor sechs Jahren, so muss man auch unweigerlich feststellen, wie sehr sich der Zeitgeist seit jenen Tagen gedreht hat. Jener Sieg zeigt deutlich, welcher Backlash in Sachen marginalisierter Perspektive, LGBTQI+ und der gesellschaftlichen Stellung der Frau in der Zeit von 2019 bis heute im Jahr 2025 stattgefunden hat.

War die Auszeichnung des Buchs im Jahr 2019 auch Ausdruck eines gestiegenen Bewusstseins für Diversität, Women of Color und bislang vernachlässigter Blickwinkel, so wäre eine Mehrheitsentscheidung für Evaristos Buch in diesen Tagen nicht mehr ohne Weiteres denkbar, davon bin ich überzeugt.

In aktuell tonangebenden Kreisen würde Mädchen, Frau etc. schnell als „identitätspolitisch“ oder gleich stumpf als „woke“ verunglimpft werden (was es natürlich im besten Sinne auch ist). In Zeiten, in denen diese Begriffe als Schimpfworte geführt werden, Firmen in atemberaubenden Tempo ihre Programme zur Förderung von Vielfalt und benachteiligten Personen einkassieren und die „starken“ Männer wieder den Ton angeben, dürfte schon alleine die Widmung des Buchs das Gemüt manch rechtsreaktionären Geistes erheblich zum Kochen bringen. Denn da heißt es:

Für die Schwestern, Sisters & Sistas & Sistahs & Sistren & die Frauen, Women & Womxn & Wimmin & Womyn & unseren Männern, Men & Mandem & die LGBTQI*-Mitglieder unserer Menschenfamilie

Widmung von Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau, etc.

Notwendige Lektüre – gerade jetzt

Vor sechs Jahren sprach aus dieser Widmung ein fortschrittlicher Geistes, der ebenso in sprachlichen Experimenten eines Gendersterns oder der Einführung von Sensitivity Readers einen Ausdruck fand. Das Bemühen um den Einschluss von Menschen in ihrer ganzen Vielfalt und die Ermöglichung und Sichtbarmachung von mehr Pluralität in Gesellschaft und Sprache war an vielen Stellen zu greifen.

Davon ist nicht mehr viel übrig. Die über die Jahre mühevoll vorangedrehten Uhren des gesellschaftlichen Fortschritts werden in Rekordtempo zurückgestellt. Die USA als Taktgeber der „antiwoken“ Revolution kassieren erkämpfte Rechte für Trans*-Menschen ein, lassen per Geschlechtseintrag nur noch zwei Geschlechter zu (wie unsinnig dies ist zeigt schon alleine das Buchkapitel Megan/Morgan), unterstützen die Entfernung tausender Bücher aus Schulbibliotheken (darunter das eben schon erwähnte Der Report der Magd von Margaret Atwood, aber auch die Aussonderung von Evaristos Buch ist bestimmt nur eine Frage der Zeit)

Dabei zeigt doch Bernardine Evaristo mit ihrer lässig erzählten Geschichte, wie bedeutend gerade für Menschen, die außerhalb der weißen Mehrheitsgesellschaft stehen, die Sichtbarkeit in Gesellschaft und damit auch in der Literatur ist.

Natürlich ist auch manch linker Furor in Sachen Identitätspolitik zu kritisieren und auch das Buch meint es vielleicht an der ein oder anderen Stelle zu gut damit. Aber, und das ist das Entscheidende: Mädchen, Frau etc. schafft Bewusstsein für die Bedeutung dieses Fortschritts und der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Veränderung, mit dem wir uns hinterfragen, uns auf unbekannte Schicksale und Perspektiven einlassen und im Dialog mit anderen Menschen den gesellschaftlichen Fortschritt vorantreiben. Das Buch atmetet diesen Geist, der in der Realität längst schon wieder verpufft zu sein scheint.

Fazit

Aber trotzdem – oder genau deswegen sind solche Bücher wie das von Bernardine Evaristo auch in reaktionären Zeiten so wichtig. Wir sehen, was auf dem Spiel steht, welche Fortschritte wir schon erlangt haben und was dieser Kampf auch für Menschen außerhalb der Mehrheitsordnung bedeutet. Allein schon deshalb lohnt die Lektüre von auch in diesen Tagen, schließlich ist Evaristos Werk eines, das weit über seine Zeit hinaus- und uns den Weg zu einer verständnisvolleren Gesellschaft weist.


  • Bernardine Evaristo – Mächen, Frau etc.
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-608-50484-2 (Tropen)
  • Artikelnr. 172844 (Büchergilde Gutenberg)
  • 512 Seiten. Preis: 24,00 €
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Katharina Köller – Wild wuchern

Eine Alm fernab alle Heidi und Geißenpeterklischees, die zum Ort weiblicher Selbstermächtigung und der Verarbeitung von Traumata wird. Katharina Köller schickt in ihrem neuen Roman Wild wuchern eine junge Frau überstürzt dort auf den Berg hinauf, um sich auf der Alm nicht nur ihrer Vergangenheit, sondern auch ihrer Cousine zu stellen.


Ebenso überhastet wie Köllers Heldin Marie in Wien in den Railjet in Richtung Bregenz springt, stürzen wir in den Text der 1984 geborenen Österreicherin Katharina Köller hinein. Was ist der Grund für die atemlose Flucht, wer ist diese Marie eigentlich? Noch bevor die zentralen Fragen geklärt werden können, stolpert die junge Erzählerin schon im Dunklen einen Berg in Tirol hinauf, wo ihre Cousine Johanna eine Hütte bewohnt.

Dort oben kommt sie langsam zur Ruhe. Allmählich klären sich die Hintergründe für ihre atemlose Flucht aus Wien – doch damit ist es noch lange nicht gut für Marie. Denn so einfach lässt es Johanna auch nicht zu, dass Marie in ihr gewohntes Leben dort oben am Berg einbricht. Besser heute als morgen würde die wortkarge Johanna Marie wieder los, was diese aber keinesfalls möchte. Und so beginnt dort oben auf der Alm ein Kammerspiel mit den beiden Frauen, in dem auch Stück für Stück Verdrängtes oder Verschwiegenes wieder ans Tageslicht drängt.

Ein Kammerspiel auf der Alm

Sie hebt ihren Becher und stößt gegen meinen, und nachdem wir beide einen großen Schluck genommen haben, stopft sie die Pfeife nach, zündet sie an und reicht sie mir. Ich inhaliere, so tief ich kann, und muss dann doch husten. Es kratzt.

„Nicht so gierig“, sagt sie und inhaliert wie ein Profi. Wie kann sie auf einmal so cool sein? Wer ist sie? Wer ist Johanna eigentlich?

Sie schenkt mir Tee nach, den ich verschütte, als ein neuer Hustenkrampf mich packt.

„Überall, wo ich hingeh, vergifte ich die Welt“, würg ich hervor. Sie putzt die Tischplatte, während ich nach Luft schnappe.

Katharina Köller – Wild wuchern, S. 160

Man merkt, dass Katharina Köller ähnlich wie zuletzt Suzie Miller mit Prima Facie ein von ihr geschriebenes Bühnenstück hier als Roman noch einmal neu adaptiert. Drei Jahre zuvor fand das Theaterstück 2022 unter dem Titel Windhöhe zur Uraufführung, ehe Köller draufhin das Buch noch einmal neu zu einem Roman arrangierte.

Auch im Buch vermittelt sich die Enge und die gespannte Stimmung zwischen den Schwestern dort oben auf der Alm ganz hervorragend, wie es auch auf der Vorgängerversion auf der Bühne funktioniert haben muss (in der die Theatermacherin nach eigenem Bekunden die Rolle der Marie spielte und schon damals den Beschluss fasste, den Stoff als Roman noch einmal neu zu arrangieren).

Gewitter auf der Alm

Katharina Köller - Wild wuchern (Cover)

Wild wuchern lebt von seiner Atmosphäre. Packend etwa der Showdown im Gewitter auf der Alm, wenn Marie nicht auf ihre Cousine hören will und trotz Warnung länger draußen auf der Wiese verharrt und so die Kräfte der Natur in der Bergwelt kennenlernt. Durchaus amüsant hingegen das Gegeneinander von Ziegenbock Hubsi und Marie, in dessen Stall sich die junge Frau kurzzeitig flüchtet, als ihre Cousine Marie wieder loshaben möchte. Flucht und Ruhe, Städterin und Almbewohnerin, Rettung am Berg und Sorgen drunten im Tal, Pechmarie und Goldmarie – Wild wuchern arbeitet mit vielen Dichotomien, die sich aber gut miteinander verbinden und mischen.

Ebendiese Mischung aus Themen, Tönen und Stimmungen, der untergründige Suspense und Köllers Gespür für die unterschiedlichen Register des Erzählens machen diesen Roman aus.

Fazit

So ist Köllers Roman ein Stück über weibliche Selbstermächtigung und Solidarität. Auch die die Ver- beziehungsweise Aufarbeitung von Traumata ist zentrales Thema in diesem Text, der sich manchmal fast überschlägt und doch in die Tiefe seiner Figur vordringt. Schnell erzählt, relevant und eindrucksvoll hat sich Katharina Köller speziell zu ihrem Erstling Was ich im Wasser sah noch einmal gesteigert, da dieser Buch in seiner ganzen Reduziertheit und Konzentration in Sachen Gestaltung das klare Gegenteil von Wild wuchern ist. Durch den klaren Fokus auf seine beiden Figuren entfaltet dieses Buch wirklich literarische Kraft!


  • Katharina Köller – Wild Wuchern
  • ISBN 978-3-328-60392-4
  • 204 Seiten. Preis: 22,00 €
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Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern

Einmal quer durch die bundesrepublikanische (Nach)Kriegszeit bis hinein in die Gegenwart reicht der erzählerische Bogen, den Rabea Edel in ihrem Roman Portrait meiner Mutter mit Geistern spannt. In ihrem Roman beschäftigt sie sich mit den fünf Generationen an Frauen und deren Vaterlosigkeiten.


Es ist ein Signum der Familie der Erzählerin Raisa, das sich durch die Generationen zieht. Seit den Zeiten der Urgroßmutter Dina verschwinden die Männer aus der Familie. Mal sterben sie, mal machen sich die Mütter aus dem Staub, mal heißt es einfach, dass es keinen Vater gebe. Auch Raisa muss das kurz vor den Wendejahren erfahren, als die Frage nach ihrem eigenen Vater immer drängender wird.

Mein Vater musste verschwunden sein, als ich gerade geboren worden war. Mein Name war das Einzige, was ich von ihm bekommen hatte, und selbst das stimmte nicht ganz. Er gab ihn mir und kurz danach verschwand er. Besser so, sagte meine Mutter. Für sie war das ein normaler Zustand. Anstatt auf ihn zu warten oder einen neuen Vater für mich zu suchen, den sie gar nicht brauchte, packte sie einen Koffer und wir gingen auf Reisen.

Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern, S. 20

Mit den einfachen Erklärungen will aber weder Raisa noch die Autorin Rabea Edel begnügen. Denn Edel taucht in ihrem Roman tief in die Geschichte der Familie Raisas ein. Es ist ein Roman, der – so das Nachwort- auf wahren Begebenheiten basiert und der zudem die Ähnlichkeit zu lebenden oder toten Personen explizit nicht ausschließt, also durchaus als autobiographisch grundiert angesehen werden darf.

Verschwundene Väter als schwarze Löcher im Familiengefüge

Rabea Edel - Portrait meiner Mutter mit Geistern (Cover)

Es ist ein Kellerfund ihres Kindheitsfreundes Mat, der bei der Erzählerin einen ersten Anstoß für eine vertiefte Beschäftigung mit der eigenen Herkunft gibt. Jener Mat, der ebenfalls ohne einen sonderlich präsenten Vater in der Nachbarschaft Raisas in Bremerhaven aufwächst, entdeckt nämlich ausgerechnet in einem Buch über schwarze Löcher eine Widmung eines gewissen Pauls, der Raisas Mutter das Buch zueignet.

Doch wer ist dieser Paul? Warum darf Raisa nicht ans Telefon gehen und wer ist der Mann, der eines Abends vor der Tür der beiden Frauen steht und der von Martha brüsk abgewiesen wird?

All das klärt sich im Laufe des knapp 400 Seiten starken Romans, in dem Edel immer wieder in der Zeit zurückgeht und die verschwundenen Väter als eine Art schwarzer Löcher im Familiengefüge zeigt. Vor allem nimmt ihr Buch aber die unterschiedlichen Frauen der Familie in den Blick.

Zurückreichend bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erzählt sie von Nachkriegsgenerationen, von Flucht, von Migration, von gescheiterten Hoffnungen und Träumen und nicht zuletzt auch von der Emanzipation, die zwar jede Generation der Frauen versuchte, deren Erfolg aber zumindest zweifelhaft ist, blickt man auf die intergenerationalen Traumata und Muster, denen sich die Frauen immer wieder gegenüber sahen und sehen.

Wiederholt sich Geschichte oder nicht?

Wiederholt sich Geschichte oder wiederholt sie sich nicht? In diesem im Buch an verschiedenen Stellen aufscheinenden Spannungsfeld bewegt sich Portrait meiner Mutter mit Geistern. Immer wieder beschreibt Rabea Edel unterschiedliche Gründe und Ereignisse, die für die Abwesenheit von Vätern sorgen und die sich aber in ihrer Konsequenz ähneln.

Von Amerika bis nach Bremerhaven, von Kindstoden bis zur Geburt von neuem Leben reicht dieser erzählerische Bogen, der ähnlich wie die Schwarzen Löcher nicht nur als Symbol für die absenten Väter nutzt. Auch sind lassen sich die im geheimnisvollen Buch beschriebenen astronomischen Phänomene auch auf die Figuren und die Erzählweise des Buchs übertragen. Rabea Edel lässt immer wieder Leerstellen in den Biografien setzt und eher auf kurze Schlaglichter denn auf wirklich episches Erzählen.

So gelingt der Autorin, die wie ihre Heldin Raisa ebenfalls 1982 in Bremerhaven geboren wurde, ein berührender Roman, indem sie die vielfachen Belastungen und richtungsweisenden Entscheidungen ihrer Frauen in den Blick nimmt. Vom Erbe des Erlebten und den über Generationen hinweg weitergegebenen Mustern kann man sich eben nicht so leicht lossagen wie vom Eintrag des eigenen Namens im Telefonbuch. Das zeigt Portrait meiner Mutter mit Geistern deutlich.

Fazit

Portrait meiner Mutter mit Geistern ist ein Roman, der über große Zeit hinweg den Parallelen und Motiven in einem familiären Gefüge nachspürt und wirklich interessante Figuren in den erzählerischen Mittelpunkt stellt. Rabea Edel beweist mit diesem Buch ihren Sinn für Zerrissenheit und Hürden sowie die inneren Kämpfe, denen sich (nicht nur) ihre Frauen gegenübersahen. Das ist anrührend komponiert und interessant montiert und lädt zur genauen und sogar mehrmaligen Lektüre ein, um all die sanft eingewebten Fragen und Figuren in all ihren Komplexitäten und Abhängigkeiten wirklich zu erfassen.

Mit Portrait meiner Mutter mit Geistern dürfte Rabea Edel bei der anstehenden Literaturpreissaison sicherlich das ein ums andere Mal eine Rolle spielen!


  • Rabea Edel – Portrait meiner Mutter mit Geistern
  • ISBN 978-3-406-82971-0 (C. H. Beck)
  • 396 Seiten. Preis: 26,00 €
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Anna Katharina Hahn – Der Chor

Ob betagte Lektorin oder erfolgreiche Managerin – beim Singen sind sie alle gleich. Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem Roman Der Chor von einem weiblichen Laienchor – und drei Generationen von Frauen, die sich im Chor begegnen.


Jeden Mittwochabend treffen sie sich in einem Stuttgarter Gemeindesaal, die Cantarinen. Unter wechselnder Leitung von Musikstudierenden proben die Mitglieder dieses Chors ihr Material. Basisdemokratisch darf jeder eigene Liedvorschläge mitbringen, die dann gemeinsam erarbeitet werden. Sogar die Einschränkungen in der Coronapandemie hat man mit digitalen Chorproben irgendwie überbrückt und nun findet man sich wieder direkt zusammen in der kirchlichen Atmosphäre des Gemeindesaals.

Viele verschiedene Charaktere sind es, die dort am Mittwoch unter der Leitung der jungen Estin Terje zusammenkommen. Unter dreißig ist niemand, die Altersspanne reicht von hochbetagt bis hin zu Frauen, die mitten im Berufsleben stehen. So wie im Falle von Alice, für die das Singen im Chor einen Ausgleich zu ihrer fordernden Tätigkeit im Management eines Stuttgarter Kaufhauses darstellt. Eine Chorfreundschaft verbindet sie mit Lena, die zwar schon lange im Ruhestand ist, dennoch aber immer noch mit dem geschriebenen Wort beschäftigt, wie sie es beruflich viele Jahre lang tat.

Der Chor der Cantarinen

Die eingeübte Praxis und die Routinen im Chor werden aber nun schon auf der ersten Seite des Romans von Anna Katharina Hahn empfindlich gestört – denn es steht einer neuer Gast auf der Schwelle des Gemeindesaals, um im Chor mitzusingen. Bei diesem Gast handelt es sich um die junge Sophie, die Alice sofort ins Auge fällt.

Das Mädchen verharrt auf der Schwelle, es scheint sich nicht hineinzutrauen. Während Alice näher kommt, tritt es von einem Fuß auf den anderen in ihren schmutzigen Sneakers, springt sogar zaghaft auf und ab. Alice findet die Hüpfbewegungen rührend, das ganze Geschöpf hat in seiner Unsicherheit etwas Kaninchenhaftes. Als sie mit einem Lächeln vor ihr steht, streift sich die junge Frau ihre Kapuze vom Kopf. „Möchtest du zur Chorprobe? Komm doch rein“, sagt Alice.

Anna Katharina Hahn – Der Chor, S. 7f.

Schon ab dem ersten Moment rührt die junge Frau etwas in Alice an. Die Überlassung einer teuren Jacke ob der mangelhaften Kleidung des Mädchens bei ungastlichen Temperaturen ist nur ein erster Schritt. Die weiteren Chorproben verstärken in Alice den Wunsch, das Mädchen näher kennenzulernen. Eine für die so kontrollierte Frau aus der Stuttgarter Oberschicht ganz untypische Regung, die Anna Katharina Hahn im Folgenden genau beobachtet.

So erzählt sie von der Faszination für Sophie und beobachtet Alice, die durch das Auftreten des Mädchens dazu animiert wird, ihre eingefahrenen Bahnen zwischen Europaviertel und Killesberg zu verlassen. Sogar an ihren schon längst überwunden geglaubten mütterlichen Gefühlen rührt die Begegnung.

Beziehungen und Freundschaften im Frauenchor

Anna Katharina Hahn - Der Chor (Cover)

Aber auch andere Damen rücken ins Zentrum des Romans, dessen Gravitationszentrum Alice ist. So haben Animositäten und die skeptischen Betrachtungen anderen Frauen genauso ihren Platz, wie Hahn gekonnt auch ihre Protagonistin Alice in das Bedürfnis nach Nähe und Anerkennung verstrickt. Mal aktiv in Form von mütterlichen Instinkten für Sophie und deren Leben, mal passiv in Form von mütterlicher Nähe, die sie selbst bei Lena sucht.

Dies ist überzeugend gezeichnet, da Hahn ein großes Gespür für Ambiguitäten und Widersprüche auszeichnet. Welche Formen weibliche Freundschaft und Abneigung haben kann, das untersucht Hahn in Der Chor eingehend. Zudem ist ihr Roman das fein gezeichnete Porträt ganz unterschiedlicher Frauen, deren Geschichte tatsächlich immer wieder mit „Geschichte“ übertitelten Rückblenden kurz erzählt wird, um dann mit der Gegenwart verschmolzen zu werden.

In der zweiten Hälfte verliert der Roman dann etwas seinen zuvor so ruhigen Rhythmus, wenn die Faszination für Sophie überhandnimmt. Dann wechselt das Ganze in ein schon fast hektisches Allegro zwischen einem Ausflug nach Paris, einem Todesfall und überraschender Enthüllungen. Das zuvor so wohlgeordnete Nebeneinander zwischen Alice und ihrem Mann gerät aus der Bahn, Geheimnisse und Unausgesprochenes drängt zwischen die Figuren und sogar die verlässliche Statik der Chormitgliedschaft gerät ins Wanken. Die literarische Harmonie des Beginns weicht einem polyphonen, manchmal schon etwas verwirrenden Stimmen- und Handlungsgewirr.

Stuttgart vom Kessel bis zum Killesberg

Nicht alles löst sich zufriedenstellend auf, es bleiben kleine Leerstellen wie die des Zerwürfnisses zwischen Alice und ihrer ehedem besten Freundin und Mitsängerin Marie. Auch bezüglich der genauen Beziehung und der Entwicklung zwischen Alice und ihrem Mann Fred bleiben offene Fragen. Stattdessen konzentriert sich Der Chor merklich auf die Frauenfreundschaften – oder etwas neutraler formuliert: die Beziehungen der Frauen untereinander und deren Dynamiken.

Das gelingt Anna Katharina Hahn sehr gut, die ihren schwäbischen Chor mitsamt seiner Mitglieder aus der gesamten Stuttgarter Stadtgesellschaft hier ein genau beobachtetes, in Teilen sogar fast hyperrealistisches Denkmal setzt. Zwischen Schicksalen, sozialen Biografien und einer Stuttgartrundfahrt vom Kessel bis hinauf zu den Oberschichtswohnung am Hang liefert die Stuttgarter Autorin ein polyphones Bild von (weiblichen) Beziehungen im 21. Jahrhundert.


  • Anna Katharina Hahn – Der Chor
  • ISBN 978-3-518-43160-3 (Suhrkamp)
  • 283 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ulrike Draesner – Die Verwandelten

Eine Familie, ebenso kompliziert und verwinkelt wie das 20. Jahrhundert. Ulrike Draesner in ihrem neuen Großroman Die Verwandelten über deutsch-polnische Familienbande, den Lebensborn und die Nachwirkungen der Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs.


Alles beginnt eigentlich recht überschaubar in diesem an Themen wie auch Seiten satten Roman, der uns mitnimmt in ein abgelegenes Institut in Hamburg, in das Kinga Schücking per ICE anreist. Die alleinerziehende Rechtsanwältin will dort einen Vortrag über den Lebensborn, das „Zuchtprogramm“ der Nationalsozialisten, halten. Ungewollte oder uneheliche Kinder wurden in diesem Programm aufgezogen und an „arische“ Familien vermittelt. Auch Kinga selbst ist die Nachfahrin eines Lebensborn-Kindes. Ein Erbe, das sie bis heute nicht losgelassen hat, und das sowohl ihr berufliches als auch privates Leben bestimmt.

Besonders groß ist die Überrarschung, als Kinga dort in Hamburg beim Smalltalk nach dem Vortrag auf Doro stößt, die sich als polnische Verwandte von Kinga entpuppt. Die genauen Verflechtungen zwischen der ebenfalls auf einen polnischen Namen hörenden Kinga und Dorota entwirrt (beziehungsweise manchmal auch verwirrt) UIrike Draesner nun auf den folgenden gut 550 Seiten.

Eine Familie zwischen Deutschland und Polen

Dabei geht die Professorin für Literarisches Schreiben weit in der Vergangenheit zurück und lässt immer wieder unterschiedliche Frauen der Familie Schücking beziehungsweise der Familie Valerius zu Wort kommen. Durch diese in unterschiedlichen Tonlagen gehaltenen Erinnerungen entsteht ein dichtes und nicht immer einfach zu überblickendes Bild der Kriegswirren und deren Nachwirkungen, die sich in ganz unterschiedlicher Form manifestierten.

Ulrike Draesner - Die Verwandelten (Cover)

So ist Kingas verstorbene Mutter Alissa ein Lebensbornkind, das aber auch auf den Namen Gerhild hörte und vom regimetreuen und ideologisch sehr wendigen Ehepaar Gerda und Gerd adoptiert wurde. Diese waren zwar mit dem familieneigenen Konservenunternehmen zu Reichtum gelangten, die Elternschaft blieb ihnen allerdings verwehrt, obschon sich Gerda als fleißige Propagandistin des arischen Familienideals erwies.

So war es ein Lebensbornkind, auf das die beiden zurückgriffen – Alissa Gerhild, die eigentlich aus Wrocław stammte, besser bekannt noch unter dem Namen Breslau. Sie war das Ergebnis einer unehelichen Liaison des glühenden Shakespearefans und Theaterdirektors Marolf Valerius mit dessen Dienstmädchen – ein Fakt, den sich Kinga und wir mit ihr erst langsam erschließt.

Über den Familienstamm der Valerius‘ findet die polnische Seite der Familie ins Buch, auf deren Seite ebenfalls Umbenennungen und Identitätswechsel stattfanden, um die Kriegsgräuel und die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zu überstehen.

Geschichte aus Frauenperspektive

Allmählich verfestigt sich das Bild einer deutsch-polnischen Familie, in der es stets die Frauen waren, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihre Generationen über die Runden brachten, sich anpassten und sich selbst mit großer Härte behandelten, um die Zeiten zu überleben. Gewalt, Lieblosigkeit und Lügen waren dabei in allen Jahrzehnten die Mittel, derer sich die Frauen bedienen mussten, wie Ulrike Draesner in ihrem Roman zeigt. Dabei ist es kein chronologischer Erzählbogen, der Die Verwandelten ausmacht. Vielmehr sind es viele kleine Fragmente und Erinnerungssplitter, die sich allmählich zu einem großen Familienbild der Bagasche zwischen Oder und Isar verfestigen.

Bei der Lektüre dieses ambitionierten Werks hilft ein Blick auf das hintere Vorsatzblatt des Buchs ungemein. Denn hier ist die komplizierte Familiengeschichte der Valerius‘ und Schückings visualisiert, ebenso wie sich ein Dramatis Personae und ein Verzeichnis polnischer Begriffe im abschließenden Teils des Buchs findet. Es sind Hilfestellungen, die die Lektüre von Die Verwandelten erleichtern und die komplizierte Reise durch die Zeit und das familiäre Geflecht hindurch etwas durchschaubarer machen.

Manchmal ist es zu viel des Guten, etwa wenn Draesner neben den über hundert Jahre umspannenden Familien- beziehungsweise Frauenverästelungen im zwanzigsten Jahrhundert dann auch noch ein unbemanntes, drohnenähnliches Bohrobjekt in den Wurmloch genannten Zwischenteilen losschickt, das sich einmal durch die deutsche und polnische (Erd-)Geschichte und Tektonik wühlt. Es sind Kapitel, in denen einmal mehr Draesner Begeisterung für die Erdgeschichte über das Anthropozän hinaus aufscheint, die aber in meinen Augen verzichtbar gewesen wären, auch wenn sie die voluminösen drei Hauptteile unterbrechen und gliedern.

Sprache in ihrer ganzen Ausprägung

Ulrike Draesner ist ja eine Meisterin der Sprache. Stets sucht sie nach einer eigenen Form für ihre Erzählungen und ringt ihren Untersuchungsgegenständen unzählige Sprachbilder und Spracheinfälle ab. So umspielte sie in der Biographie des Dada-Mitbegründers Kurt Schwitters ebenjene Dada-Poesie oder fand in Kanalschwimmer zu einem englisch-deutschen Sprach- und Bewusstseinsstrom passend zur Überquerung des Ärmelkanals. Auch in Die Verwandelten ist unverkennbar die Sprachkünstlerin Draesner am Werk, die ihre Frauen mit unterschiedlichen Draesner-Sound in Sachen Sprachmelodien und Mustern ausstattet. Zudem ist allen Kapiteln eine Form konkreter Poesie voranstellt, die mal erkennbarer, mal kaum chiffrierbar erscheint.

Großartig geraten ihr etwa die Passagen der in einem Pflegeheim liegende Gerda, Kingas Großmutter, die sich in ihren Erinnerungen verliert und dabei immer wieder zwischen Pflegebedürftigkeit im Altenheim und eigener Wendigkeit zur Zeit des „Dritten Reichs“ hin und herwandert. Auch die Beschreibungen der Vertreibung im Osten, die Gewalt vor allem gegen Frauen, das Leid und die Not – all das schildert Draesner plastisch und eindringlich erfahrbar.

Und doch war es mir angesichts des anspruchsvollen Gesamtumfangs von fast 600 Seiten neben allen geschichtlichen Rückblicken und Sprüngen auf sprachlicher Ebene dann die Frequenz ihrer sprachschöpferischen Kraft etwas zu viel des Guten. So hätte ich auf das ein oder andere originelle Kompositum oder Sprachbild der Lyrikerin verzichten können, sorgten diese in ihrer Fülle doch eher für ein Gefühl der sprachlichen Übersättigung und waren für mich eher Ausdruck eines gewissen Manierismus denn eine wirklich zielführende Flankierung des Inhalts.

Mittelteil einer Trilogie

Die Verwandelten ist das Mittelstück von Ulrike Draesners geplanter Trilogie über familiäre Verflechtungen zwischen Polen und Deutschland, die sie mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt begann. Ohne dieses erste, vor neun Jahren erschienene Werk gelesen zu haben, sind es doch die Themen der Vertreibung, des deutsch-polnischen Erbes und der familiären Verflechtungen über die Generationen hinweg, die sich als Themenfelder dieser Trilogie herauszukristallisieren scheinen.

Persönlich bin angesichts dieses fordernden Familienromans nun erst einmal überwältigt und werde mir bei Gelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt einmal den Auftakt der Trilogie vornehmen. Unabhängig davon zolle der Autorin Respekt für ihre schier unerschöpfliche Sprachkraft und Genauigkeit, mit der sich Draesner in ihre fiktive Großfamilie hineinspürt und die deutsch-polnischen Geschichte ebenso genau untersucht, wie es die Drohne in ihrem Roman mit den Gesteinsschichten dort im Untergrund tut.

Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse erscheint mir folgerichtig, obschon es Die Verwandelten einem nicht wirklich leicht macht und schnell für ein Gefühl der Überforderung sorgen kann. Aber dafür ist Literatur ja auch da und Ulrike Draesner beherrscht diese Kunst wahrhaftig.


  • Ulrike Draesner – Die Verwandelten
  • ISBN 978-3-328-60172-2 (Penguin)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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