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Anna Katharina Hahn – Der Chor

Ob betagte Lektorin oder erfolgreiche Managerin – beim Singen sind sie alle gleich. Anna Katharina Hahn erzählt in ihrem Roman Der Chor von einem weiblichen Laienchor – und drei Generationen von Frauen, die sich im Chor begegnen.


Jeden Mittwochabend treffen sie sich in einem Stuttgarter Gemeindesaal, die Cantarinen. Unter wechselnder Leitung von Musikstudierenden proben die Mitglieder dieses Chors ihr Material. Basisdemokratisch darf jeder eigene Liedvorschläge mitbringen, die dann gemeinsam erarbeitet werden. Sogar die Einschränkungen in der Coronapandemie hat man mit digitalen Chorproben irgendwie überbrückt und nun findet man sich wieder direkt zusammen in der kirchlichen Atmosphäre des Gemeindesaals.

Viele verschiedene Charaktere sind es, die dort am Mittwoch unter der Leitung der jungen Estin Terje zusammenkommen. Unter dreißig ist niemand, die Altersspanne reicht von hochbetagt bis hin zu Frauen, die mitten im Berufsleben stehen. So wie im Falle von Alice, für die das Singen im Chor einen Ausgleich zu ihrer fordernden Tätigkeit im Management eines Stuttgarter Kaufhauses darstellt. Eine Chorfreundschaft verbindet sie mit Lena, die zwar schon lange im Ruhestand ist, dennoch aber immer noch mit dem geschriebenen Wort beschäftigt, wie sie es beruflich viele Jahre lang tat.

Der Chor der Cantarinen

Die eingeübte Praxis und die Routinen im Chor werden aber nun schon auf der ersten Seite des Romans von Anna Katharina Hahn empfindlich gestört – denn es steht einer neuer Gast auf der Schwelle des Gemeindesaals, um im Chor mitzusingen. Bei diesem Gast handelt es sich um die junge Sophie, die Alice sofort ins Auge fällt.

Das Mädchen verharrt auf der Schwelle, es scheint sich nicht hineinzutrauen. Während Alice näher kommt, tritt es von einem Fuß auf den anderen in ihren schmutzigen Sneakers, springt sogar zaghaft auf und ab. Alice findet die Hüpfbewegungen rührend, das ganze Geschöpf hat in seiner Unsicherheit etwas Kaninchenhaftes. Als sie mit einem Lächeln vor ihr steht, streift sich die junge Frau ihre Kapuze vom Kopf. „Möchtest du zur Chorprobe? Komm doch rein“, sagt Alice.

Anna Katharina Hahn – Der Chor, S. 7f.

Schon ab dem ersten Moment rührt die junge Frau etwas in Alice an. Die Überlassung einer teuren Jacke ob der mangelhaften Kleidung des Mädchens bei ungastlichen Temperaturen ist nur ein erster Schritt. Die weiteren Chorproben verstärken in Alice den Wunsch, das Mädchen näher kennenzulernen. Eine für die so kontrollierte Frau aus der Stuttgarter Oberschicht ganz untypische Regung, die Anna Katharina Hahn im Folgenden genau beobachtet.

So erzählt sie von der Faszination für Sophie und beobachtet Alice, die durch das Auftreten des Mädchens dazu animiert wird, ihre eingefahrenen Bahnen zwischen Europaviertel und Killesberg zu verlassen. Sogar an ihren schon längst überwunden geglaubten mütterlichen Gefühlen rührt die Begegnung.

Beziehungen und Freundschaften im Frauenchor

Anna Katharina Hahn - Der Chor (Cover)

Aber auch andere Damen rücken ins Zentrum des Romans, dessen Gravitationszentrum Alice ist. So haben Animositäten und die skeptischen Betrachtungen anderen Frauen genauso ihren Platz, wie Hahn gekonnt auch ihre Protagonistin Alice in das Bedürfnis nach Nähe und Anerkennung verstrickt. Mal aktiv in Form von mütterlichen Instinkten für Sophie und deren Leben, mal passiv in Form von mütterlicher Nähe, die sie selbst bei Lena sucht.

Dies ist überzeugend gezeichnet, da Hahn ein großes Gespür für Ambiguitäten und Widersprüche auszeichnet. Welche Formen weibliche Freundschaft und Abneigung haben kann, das untersucht Hahn in Der Chor eingehend. Zudem ist ihr Roman das fein gezeichnete Porträt ganz unterschiedlicher Frauen, deren Geschichte tatsächlich immer wieder mit „Geschichte“ übertitelten Rückblenden kurz erzählt wird, um dann mit der Gegenwart verschmolzen zu werden.

In der zweiten Hälfte verliert der Roman dann etwas seinen zuvor so ruhigen Rhythmus, wenn die Faszination für Sophie überhandnimmt. Dann wechselt das Ganze in ein schon fast hektisches Allegro zwischen einem Ausflug nach Paris, einem Todesfall und überraschender Enthüllungen. Das zuvor so wohlgeordnete Nebeneinander zwischen Alice und ihrem Mann gerät aus der Bahn, Geheimnisse und Unausgesprochenes drängt zwischen die Figuren und sogar die verlässliche Statik der Chormitgliedschaft gerät ins Wanken. Die literarische Harmonie des Beginns weicht einem polyphonen, manchmal schon etwas verwirrenden Stimmen- und Handlungsgewirr.

Stuttgart vom Kessel bis zum Killesberg

Nicht alles löst sich zufriedenstellend auf, es bleiben kleine Leerstellen wie die des Zerwürfnisses zwischen Alice und ihrer ehedem besten Freundin und Mitsängerin Marie. Auch bezüglich der genauen Beziehung und der Entwicklung zwischen Alice und ihrem Mann Fred bleiben offene Fragen. Stattdessen konzentriert sich Der Chor merklich auf die Frauenfreundschaften – oder etwas neutraler formuliert: die Beziehungen der Frauen untereinander und deren Dynamiken.

Das gelingt Anna Katharina Hahn sehr gut, die ihren schwäbischen Chor mitsamt seiner Mitglieder aus der gesamten Stuttgarter Stadtgesellschaft hier ein genau beobachtetes, in Teilen sogar fast hyperrealistisches Denkmal setzt. Zwischen Schicksalen, sozialen Biografien und einer Stuttgartrundfahrt vom Kessel bis hinauf zu den Oberschichtswohnung am Hang liefert die Stuttgarter Autorin ein polyphones Bild von (weiblichen) Beziehungen im 21. Jahrhundert.


  • Anna Katharina Hahn – Der Chor
  • ISBN 978-3-518-43160-3 (Suhrkamp)
  • 283 Seiten. Preis: 25,00 €
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Ulrike Draesner – Die Verwandelten

Eine Familie, ebenso kompliziert und verwinkelt wie das 20. Jahrhundert. Ulrike Draesner in ihrem neuen Großroman Die Verwandelten über deutsch-polnische Familienbande, den Lebensborn und die Nachwirkungen der Kriegsgräuel des Zweiten Weltkriegs.


Alles beginnt eigentlich recht überschaubar in diesem an Themen wie auch Seiten satten Roman, der uns mitnimmt in ein abgelegenes Institut in Hamburg, in das Kinga Schücking per ICE anreist. Die alleinerziehende Rechtsanwältin will dort einen Vortrag über den Lebensborn, das „Zuchtprogramm“ der Nationalsozialisten, halten. Ungewollte oder uneheliche Kinder wurden in diesem Programm aufgezogen und an „arische“ Familien vermittelt. Auch Kinga selbst ist die Nachfahrin eines Lebensborn-Kindes. Ein Erbe, das sie bis heute nicht losgelassen hat, und das sowohl ihr berufliches als auch privates Leben bestimmt.

Besonders groß ist die Überrarschung, als Kinga dort in Hamburg beim Smalltalk nach dem Vortrag auf Doro stößt, die sich als polnische Verwandte von Kinga entpuppt. Die genauen Verflechtungen zwischen der ebenfalls auf einen polnischen Namen hörenden Kinga und Dorota entwirrt (beziehungsweise manchmal auch verwirrt) UIrike Draesner nun auf den folgenden gut 550 Seiten.

Eine Familie zwischen Deutschland und Polen

Dabei geht die Professorin für Literarisches Schreiben weit in der Vergangenheit zurück und lässt immer wieder unterschiedliche Frauen der Familie Schücking beziehungsweise der Familie Valerius zu Wort kommen. Durch diese in unterschiedlichen Tonlagen gehaltenen Erinnerungen entsteht ein dichtes und nicht immer einfach zu überblickendes Bild der Kriegswirren und deren Nachwirkungen, die sich in ganz unterschiedlicher Form manifestierten.

Ulrike Draesner - Die Verwandelten (Cover)

So ist Kingas verstorbene Mutter Alissa ein Lebensbornkind, das aber auch auf den Namen Gerhild hörte und vom regimetreuen und ideologisch sehr wendigen Ehepaar Gerda und Gerd adoptiert wurde. Diese waren zwar mit dem familieneigenen Konservenunternehmen zu Reichtum gelangten, die Elternschaft blieb ihnen allerdings verwehrt, obschon sich Gerda als fleißige Propagandistin des arischen Familienideals erwies.

So war es ein Lebensbornkind, auf das die beiden zurückgriffen – Alissa Gerhild, die eigentlich aus Wrocław stammte, besser bekannt noch unter dem Namen Breslau. Sie war das Ergebnis einer unehelichen Liaison des glühenden Shakespearefans und Theaterdirektors Marolf Valerius mit dessen Dienstmädchen – ein Fakt, den sich Kinga und wir mit ihr erst langsam erschließt.

Über den Familienstamm der Valerius‘ findet die polnische Seite der Familie ins Buch, auf deren Seite ebenfalls Umbenennungen und Identitätswechsel stattfanden, um die Kriegsgräuel und die Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zu überstehen.

Geschichte aus Frauenperspektive

Allmählich verfestigt sich das Bild einer deutsch-polnischen Familie, in der es stets die Frauen waren, die auf ganz unterschiedliche Art und Weise ihre Generationen über die Runden brachten, sich anpassten und sich selbst mit großer Härte behandelten, um die Zeiten zu überleben. Gewalt, Lieblosigkeit und Lügen waren dabei in allen Jahrzehnten die Mittel, derer sich die Frauen bedienen mussten, wie Ulrike Draesner in ihrem Roman zeigt. Dabei ist es kein chronologischer Erzählbogen, der Die Verwandelten ausmacht. Vielmehr sind es viele kleine Fragmente und Erinnerungssplitter, die sich allmählich zu einem großen Familienbild der Bagasche zwischen Oder und Isar verfestigen.

Bei der Lektüre dieses ambitionierten Werks hilft ein Blick auf das hintere Vorsatzblatt des Buchs ungemein. Denn hier ist die komplizierte Familiengeschichte der Valerius‘ und Schückings visualisiert, ebenso wie sich ein Dramatis Personae und ein Verzeichnis polnischer Begriffe im abschließenden Teils des Buchs findet. Es sind Hilfestellungen, die die Lektüre von Die Verwandelten erleichtern und die komplizierte Reise durch die Zeit und das familiäre Geflecht hindurch etwas durchschaubarer machen.

Manchmal ist es zu viel des Guten, etwa wenn Draesner neben den über hundert Jahre umspannenden Familien- beziehungsweise Frauenverästelungen im zwanzigsten Jahrhundert dann auch noch ein unbemanntes, drohnenähnliches Bohrobjekt in den Wurmloch genannten Zwischenteilen losschickt, das sich einmal durch die deutsche und polnische (Erd-)Geschichte und Tektonik wühlt. Es sind Kapitel, in denen einmal mehr Draesner Begeisterung für die Erdgeschichte über das Anthropozän hinaus aufscheint, die aber in meinen Augen verzichtbar gewesen wären, auch wenn sie die voluminösen drei Hauptteile unterbrechen und gliedern.

Sprache in ihrer ganzen Ausprägung

Ulrike Draesner ist ja eine Meisterin der Sprache. Stets sucht sie nach einer eigenen Form für ihre Erzählungen und ringt ihren Untersuchungsgegenständen unzählige Sprachbilder und Spracheinfälle ab. So umspielte sie in der Biographie des Dada-Mitbegründers Kurt Schwitters ebenjene Dada-Poesie oder fand in Kanalschwimmer zu einem englisch-deutschen Sprach- und Bewusstseinsstrom passend zur Überquerung des Ärmelkanals. Auch in Die Verwandelten ist unverkennbar die Sprachkünstlerin Draesner am Werk, die ihre Frauen mit unterschiedlichen Draesner-Sound in Sachen Sprachmelodien und Mustern ausstattet. Zudem ist allen Kapiteln eine Form konkreter Poesie voranstellt, die mal erkennbarer, mal kaum chiffrierbar erscheint.

Großartig geraten ihr etwa die Passagen der in einem Pflegeheim liegende Gerda, Kingas Großmutter, die sich in ihren Erinnerungen verliert und dabei immer wieder zwischen Pflegebedürftigkeit im Altenheim und eigener Wendigkeit zur Zeit des „Dritten Reichs“ hin und herwandert. Auch die Beschreibungen der Vertreibung im Osten, die Gewalt vor allem gegen Frauen, das Leid und die Not – all das schildert Draesner plastisch und eindringlich erfahrbar.

Und doch war es mir angesichts des anspruchsvollen Gesamtumfangs von fast 600 Seiten neben allen geschichtlichen Rückblicken und Sprüngen auf sprachlicher Ebene dann die Frequenz ihrer sprachschöpferischen Kraft etwas zu viel des Guten. So hätte ich auf das ein oder andere originelle Kompositum oder Sprachbild der Lyrikerin verzichten können, sorgten diese in ihrer Fülle doch eher für ein Gefühl der sprachlichen Übersättigung und waren für mich eher Ausdruck eines gewissen Manierismus denn eine wirklich zielführende Flankierung des Inhalts.

Mittelteil einer Trilogie

Die Verwandelten ist das Mittelstück von Ulrike Draesners geplanter Trilogie über familiäre Verflechtungen zwischen Polen und Deutschland, die sie mit Sieben Sprünge vom Rand der Welt begann. Ohne dieses erste, vor neun Jahren erschienene Werk gelesen zu haben, sind es doch die Themen der Vertreibung, des deutsch-polnischen Erbes und der familiären Verflechtungen über die Generationen hinweg, die sich als Themenfelder dieser Trilogie herauszukristallisieren scheinen.

Persönlich bin angesichts dieses fordernden Familienromans nun erst einmal überwältigt und werde mir bei Gelegenheit zu einem späteren Zeitpunkt einmal den Auftakt der Trilogie vornehmen. Unabhängig davon zolle der Autorin Respekt für ihre schier unerschöpfliche Sprachkraft und Genauigkeit, mit der sich Draesner in ihre fiktive Großfamilie hineinspürt und die deutsch-polnischen Geschichte ebenso genau untersucht, wie es die Drohne in ihrem Roman mit den Gesteinsschichten dort im Untergrund tut.

Die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse erscheint mir folgerichtig, obschon es Die Verwandelten einem nicht wirklich leicht macht und schnell für ein Gefühl der Überforderung sorgen kann. Aber dafür ist Literatur ja auch da und Ulrike Draesner beherrscht diese Kunst wahrhaftig.


  • Ulrike Draesner – Die Verwandelten
  • ISBN 978-3-328-60172-2 (Penguin)
  • 608 Seiten. Preis: 26,00 €
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Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht

Drei Generationen Frauen, ein stattliches Anwesen am See und ein Todesfall – beziehungsweise gleich mehrere. Davon handelt Annika Reichs neuer Roman Männer sterben bei uns nicht, die darin eine Welt mit auffällig abwesenden Männern zeichnet.


Als ich die erste tote Frau entdeckte, war ich noch keine zehn Jahre alt und wollte angeln.

Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht, S. 9

Was für ein erster Satz, mit dem uns Annika Reich in ihre Geschichte lockt und der den Tod als zentrales Motiv ihres Buchs einführt.

Das Haus am See

Annika Reich - Männer sterben bei uns nicht (Cover)

Als die junge Luise am Ufer des stattlichen Herrenhauses (oder im vorliegenden Fall eigentlich eher Damenhauses) angeln möchte, entdeckt sie eine angeschwemmte Tote, die sich am Steg verkeilt hat. Es wird nicht die letzte Tote im Buch bleiben. Denn die ganze Handlung von Männer sterben bei uns nicht ist um eine Beerdigung herum gruppiert, nämlich die von Luises eigener Großmutter.

Diese führte im stattlichen Haus am See das Regiment, hielt als Matriarchin die Fäden zusammen und bestimmte die Geschicke der Familie, bis in den Tod hinein. Für ihre Beerdigung hat sie der Haushälterin Justyna genaue Anweisungen hinterlassen, und so versammeln sich die Frauen ein letztes Mal, um der Großmutter die Ehre zu erweisen.

Im Laufe der mit Rückblenden gespickten Beerdigung ergibt sich allerdings ein sehr ambivalentes Bild. Denn mit mit all den rauschenden Feste, die sie im Herrenhaus am See gab, mit all der zur Schau getragenen Disziplin und den unverrückbaren Grundsätzen ist es nicht weit her.

Drei Generationen von Frauen

So wurde Luises Schwester Leni in der Kindheit kurzerhand in ein englisches Internat abgeschoben, Luises Mutter begreift den Tod der Schwiegermutter als Befreiung – und im Lauf der Geschichte tauchen immer mehr Personen und Geheimnisse auf, von denen Luise zunächst keine Ahnung hatte, passten sie einfach nicht ins Bild, das sich die Großmutter von ihrer Familie gemacht hatte und diese dann kurzerhand zur Seite schob. All das offenbart sich aber erst langsam in diesem Roman.

In meinem Schrankzimmer standen eine Palme und einer kleiner Tisch, auf dem mein eigener Schmuck lag und silberne Bilderrahmen mit Kinderfotos von Olga und mir. Ich hatte Großmutters Turm in meinem Schrankzimmer nachgebaut. Ich war die Erbin der Steine und des Anwesens, der toten, aussortierten und verschwundenen Frauen, ob ich es wollte oder nicht. Ich ging ins Wohnzimmer und setzte mich an meinen Schreibtisch, dann kniff ich die Augen zusammen wie eine schlechte Schauspielerin. Ich reagierte auf Großmutters Tod so, wie sie auf ihren Tod reagiert hätte. Wir weinten nicht.

Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht, S. 78

Das Schweigen und die Abwesenheit von Männern

In kurzen Kapiteln montiert Annika Reich ihre Geschichte, die aus der minutiös geschilderten Beerdigung und dem sich langsam entfaltenden Familienstammbaum besteht. Dabei ist der Tod ein Leitmotiv (im Lauf der Geschichte werden es neben der Toten in der Familie auch die Leichen zweier Frauen sein, die Luise angeschwemmt am Hausstrand findet) und insbesondere auch die Abwesenheit der Männer, über deren Verbleib sich die Großmutter und eigentlich die ganze Familie ebenso ausschweigt wie die Verstrickungen der Familie ins „Dritte Reich“.

Erst auf Seite 51, also nach einem verstrichenen Viertels des Romans, findet der erste Mann in Form des verstorbenen Großvaters im Roman Erwähnung. Männer sind in dieser Familie und diesem Roman wirklich nur eine Randerscheinung, wodurch hier ein Roman entsteht, der durchgängig aus weiblicher Perspektive auf die familiären Implikationen über drei Generationen hinweg blickt, die aber eben doch auch nicht frei von patriarchale Mechaniken und Mustern sind.

Das ist durch die erwähnte Doppelstruktur des Romans schnell zu lesen, doch alle Fragen, die Männer sterben bei uns nicht aufwirft, werden im Lauf des Romans nicht wirklich beantwortet. Es bleiben Leerstellen, viel Unausgesprochenes und Nicht-Aufgearbeitetes auch nach den 200 Seiten des Textes bestehen. Mir persönlich hätte ich noch etwas mehr Prägnanz, in sprachlicher und konzeptueller Hinsicht gewünscht, denn so bleibt für mich von dieser so gut wie rein weiblichen Familiensaga über das Ende der Geschichte hinaus das Gefühl einer gewissen Skizzenhaftigkeit bestehen, das Annika Reichs Buch umweht.

Fazit

Wer sich daran nicht stört, der bekommt mit Männer sterben bei uns nicht eine rein weibliche Familiensaga, das Porträt einer eisernen Lady in ihrem Haus am See und eine minutiös geschilderte und geplante Beerdigung zu lesen, die sich doch anders entwickelt, als vorhergesehen. Nicht nur am heutigen Weltfrauentag eine interessante Lektüre.


  • Annika Reich – Männer sterben bei uns nicht
  • ISBN 978-3-446-27587-4 (Hanser Berlin)
  • 208 Seiten. Preis: 23,00 €
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Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz

Kuba, Miami und Mexiko sind die Schauplätze von Gabriela Garcias Roman Von Frauen und Salz. Aber vielmehr als die einzelnen Schauplätze ist es das Dazwischen, das die junge Autorin interessiert und von dem sie eindrucksvoll zu erzählen weiß, indem sie ganz unterschiedliche Figuren im Laufe der anachronologisch erzählten Geschichte in ihrer ganzen Zerrissenheit und Sehnsucht nach dem Unerreichbaren schildert.


Im Kern ist Von Frauen und Salz eine feministische Familiensaga, wie es sie insbesondere seit Isabel Allendes Das Geisterhaus dutzendfach auf dem Markt gibt. Frauen aus verschiedenen Generationen stehen im Mittelpunkt solcher Romane und werden bei ihren Kämpfen für weibliche Selbstbestimmung und gegen herrschendes Unrecht und Gewalt inszeniert. Intergenerationalen Traumata und Widerstände, gegen die sie sich die Frauen erwehren müssen, sind dabei stets Thema und werden in solchen Sagas mal gelungener und mal weniger gelungen herausgearbeitet.

Das ist bei Gabriela Garcia nicht anders, wobei ihr Debüt in die Kategorie der gelungenen Bearbeitungen fällt, um dieses Urteil gleich vorwegzunehmen.

Ihr Roman setzt mit einem kurzen Kapitel ein, das Carmen im Jahr 201 in Miami zeigt. Nach wenigen Seiten springt Garcia dann eineinhalb Jahrhunderte zurück in der Zeit, nämlich ins Jahr 1866. Dort lernen wir María Isabel kennen, die als Tabakrollerin ihr Auskommen auf der Insel Kuba bestreitet.

Sie lebt in Camagüey und behauptet sich als einzige Tabakrollerin unter einer ganzen Menge Männern. Während die spanischen Besatzungstruppen den revolutionären Umtrieben der Kubaner*innen ein Ende setzen wollen, erwartet María Isabel ein Kind, das sie mit einem jener kubanischen Revolutionäre gezeugt hat.

Von dieser Episode geht es wieder zurück nach Miami ins Jahr 2014, wo nun Jeanette im Mittelpunkt steht. Sie lebt in prekären Verhältnissen und beobachtet die Razzia der Einwanderungsbehörde bei ihrer Nachbarin. Diese wird von den Behörden festgenommen und weggebracht. An ihr Kind hat allerdings niemand gedacht. Und so nimmt Jeanette das Kind unter ihre Fittiche, um es wenig später dann doch den Einwanderungsbehörden zu melden und zu übergeben.

Eine anachronologische Familiensaga

Gabriela Garcia - Von Frauen und Salz (Cover)

Das sind die ersten drei kurzen Episoden in diesem Roman, die zeigen, dass Gabriela Garcia aus der klassischen Form der weiblichen Familiensaga hier etwas Eigenes macht. Denn statt auf einen linear erzählten Erzählfluss setzt sie lieber auf das Erzählen in Schlaglichtern, die mit der Chronologie brechen. Schlaglichter, die erst im Zusammenhang mit dem ganzen Buch eine logische Abfolge ergeben und die Beziehung der Frauen untereinander herausarbeiten.

Dabei sind die Hauptschauplätze von Von Frauen und Salz die Insel Kuba und Miami sowie das mexikanische Grenzland. An diesen Schauplätzen leben Garcias Frauen, denen aber immer ein permanentes Gefühl des Dazwischen und der Zerrissenheit eingeschrieben ist.

So sehnt sich die in Miami aufgewachsene Enkelin nach dem Kuba ihrer Großmutter oder die Tochter einer Migrantin aus El Salvador nach Amerika, wo sie aufgewachsen ist. Dessentwegen begbit sie sich in die Hände von Schleusern, um mit diesen über den Grenzfluss wieder nach Amerika zu gelangen und so die Sehnsucht nach einem besseren oder zumindest anderen Leben zu stillen.

Erzählen durch Schlaglichter

Fortführen lässt sich dieses Motiv der Zerrissenheit und Dissoziation über das geographische und psychische Spannungsfeld der Figuren hinein bis in die Umbrüche der Geschichte selbst. Dabei bildet die wechselvolle kubanische Geschichte den Schwerpunkt von Gabriela Garcias Erzählung.

Wie die spanischen Kolonialherren in den 1860 Jahren mit blutiger Macht regieren und trotzdem nicht vor den revolutionären Umbrüchen gefeit sind, das beschreibt sie ebenso wie die alte Ordnung unter dem kubanischen Präsidenten Fulgencio Batista, die knapp hundert Jahre später durch die Revolutionäre um Fidel Castro abgelöst wurde.

Auch hier setzt Garcia wie in der gesamten Komposition ihres Buch nicht auf umfassende Darstellung der Hintergründe der jeweiligen Umschwünge, sondern verdichtet diese Momente der Zeitgeschichte auf Schlaglichter, die ihr zur Schilderung der wechselvollen Geschichte genügen.

Fünf Frauen, 150 Jahre Geschichte

Dabei ist das Schöne an Von Frauen und Salz, dass dieses erzählerische Gesamtkonzept bei aller Knappheit aufgeht. Fünf Frauenschicksale und 150 Jahre amerikanisch-kubanischer Geschichte auf gerade einmal etwas mehr als 300 Seiten, das ist eigentlich deutlich zu knapp bemessen. Dass es trotzdem funktioniert, ist der klugen Auswahl entscheidender Kipppunkte im Leben der Frauen und der Geschichte insbesondere in Bezug auf Kuba zu verdanken.

Zwar hätte die ein oder anderen Figur noch etwas mehr Profil vertragen, auch geht es manchmal doch etwas arg schnell mit den anachronologischen Sprüngen, aber doch entwickelt Garcias Geschichte Drive und eine große emotionale Wucht, wenn die Frauen mit ihren Entbehrungen und Leidensgeschichten von gewalttätigen Ehemännern bis zur Drogensucht gezeigt werden. Auch vermittelt die junge Autorin in Von Frauen und Salz gelungen, welche Bedeutung Literatur in ganz unterschiedlicher Ausprägung für Menschen haben kann. So ist es hier Victor Hugos Roman Die Elenden bzw. Les Misérables, der über Generationen weitergereicht wird und der immer wieder Hoffnung und Sinn spenden kann.

Fazit

So ist Von Frauen und Salz ein geradezu prototypischer feministischer Generationenroman, der vom Kampf gegen die Unterdrückung und das Patriarchat durch die Jahrzehnte hinweg erzählt. Durch die anachronologische Erzählweise und die Verdichtung des Materials auf entscheidende Kipppunkte hin bekommt die Prosa von Gabriela Garcia eine eigene Note und stellt die weibliche Widerstandskraft in den Mittelpunkt ihres Erzählens. Prosa mit feministischem und zeitgeschichtlichem Schlag, wie sie gerade im Trend liegt. Prosa, die aber auch unabhängig von aktuellen Moden durch die Themen und Erzählweise überzeugt.


  • Gabriela Garcia – Von Frauen und Salz
  • Aus dem Englischen von Anette Grube
  • ISBN 978-3-546-10011-3 (Claassen)
  • 304 Seiten. Preis: 22,00 €
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Elena Medel – Die Wunder

Mit Spanien als Gastland der diesjährigen Frankfurter Buchmesse gibt es ein literarisch vielfältiges Land zu entdecken, dessen Autorinnen und Autoren in loser Folge hier im Mittelpunkt stehen sollen. Zwei Beiträge zu Spanien erlesen gab es bereits. Nun ist mit Elena Medel eine junge Stimme zu entdecken, der mit ihrem Prosa-Debüt Die Wunder laut Suhrkamp-Verlag ein literarischer Sensationserfolg gelang, oder wie es die Zeitung El País formulierte: „Die beste Lyrikerin dieses Landes hat sich mit nur einem Buch in die beste Romanschriftstellerin dieses Landes verwandelt.“

Nun habe ich natürlich nicht die gesamte spanische Literaturszene gelesen und für einen Abgleich parat. Aber auch mit den bislang hier auf dem Blog vorgestellten Werken als Referenzgröße würde ich diese etwas steile These doch bezweifeln.


Die Wunder erzählt von zwei Frauen, deren Leben abwechselnd in Schlaglichtern vorgestellt werden. Da ist María, die als Alleinerziehende ihre Tochter Carmen in der Obhut ihres Bruders lässt und die neben ihrem Brotjob auch am politischen Kampf Interesse gefunden hat. Sie motiviert ihre Bekannten zu Protest und versucht eine Verbesserung ihrer prekären Stellung als Frau in der Gesellschaft herbeizuführen.

Die andere Frau ist Alicia, die Enkelin von María. Sie laboriert am Schmerz des Verlusts ihres Vaters. Dieser, dem Anschein nach ein erfolgreicher Geschäftsmann und Gastronom, begann von Schulden bedroht, Selbstmord. Diese Erfahrung des Verlusts prägt Alicias Leben seit Kindertagen und setzt sich in der Schule mit Mobbing und Ausgrenzung fort. Beide Frauen kämpfen mit der von der Gesellschaft ihnen zugedachten Rollen, müssen um ihr finanzielles Auskommen kämpfen und werden sich erst sehr spät im Buch überhaupt einmal wirklich begegnen.

Die Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft

Elena Medel - Die Wunder (Cover)

Die Wunder ist ein Buch, das seinen Finger in die Wunde legt und von der schwierigen Stellung der Frau in der spanischen Gesellschaft erzählt. Im Doppelporträt der beiden Frauen treten die Strukturen deutlich zutage, die zu prekären Lebensverhältnissen führen und ein Vorankommen der Frau verhindern, sei es Ende der 70er Jahre oder in der Gegenwart. Auch die Großstadt Madrid, in die beide Frauen unabhängig voneinander kommen, ist dabei nicht viel fortschrittlicher als die ländliche Umgebung, der sie eigentlich entfliehen wollen. Armut, Geldmangel und fatale Abhängigkeiten von Männern lauern überall.

Leider ist Die Wunder aber auch ein Buch, das sichtlich schwer am eigenen Gewicht und der Bedeutung trägt. Die Absätze stehen in monolithischen Blöcke, der Ernst und die Gravitas sind jeder Seite eingeschrieben. Dabei entwickeln die beiden Hauptfiguren zumindest für mein Empfinden auch kein wirklich spannendes Eigenleben, stattdessen blieb ich den Medels Frauen gegenüber merkwürdig distanziert und konnte keinerlei Bindung zu ihrer Lebenswelt und Problem aufbringen, auch wenn ich mich wirklich bemüht habe.

Die Sprache (Übersetzung aus dem Spanischen von Susanne Lange) ist recht uniform und austauschbar, die Dialoge oftmals von einem politischen Programm denn der glaubhaften Artikulation von Befindlichkeiten oder Eindrücken geprägt. Die schlaglichtartige Erzählweise, die sich auf Schlüsselmomente und -erlebnisse im Leben der Figuren konzentriert, konnte mich trotz einzelner starker Episoden (etwa die Verzweiflung Marias nach dem Auffinden der toten Seniorin, die ihr zur Pflege anvertraut war oder die Hängung Alicias durch eine Gruppe von Schüler*innen während der Schulzeit) über die ganze Länge des Buchs ebenfalls nicht wirklich mitreißen.

Fazit

In Bezug auf Elena Medels Buch lässt sich für mich einmal mehr die großartige Sentenz Goethes aus dem Schauspiel Torquato Tasso: Man merkt die Absicht und ist verstimmt. Hier tritt mir auch das Anliegen der Autorin, vom Kampf zwei Frauen in zwei Generationen gegen die herrschenden patriarchal geprägten Gesellschaftsstrukturen etwas zu sehr in den Vordergrund und drängt Figuren, Prosa, Sprache und den Plot zu sehr in den Hintergrund, als dass sich für mich Lesefreude eingestellt hätte.

Von einem aktivistischen Standpunkt aus ist Die Wunder sicher spannend zu lesen, für mich als Roman ist das Ganze leider nicht wirklich überzeugend, auch wenn ich mit dieser Meinung sicherlich in der Minderheit bin, wenn ich die begeisterten Stimmen des Guardian, von Hilary Mantel bis zur Buchhändlerin Maria-Christina Piwowarski nachverfolge.

Auch die Bloggerinnen Petra Reich und Sandra Falke sind angetan, ich selbst stehe eher etwas ratlos wie die Rezensentin Sylvia Staude in Frankfurter Rundschau vor dem Buch. Aber so ist es manchmal im Leben, ich bleibe dann lieber bei Sara Mesa und Jose Ovejero und freue mich auf den nächsten Titel bei Spanien erlesen, der mir persönlich auch wieder mehr zusagt.


  • Elena Medel – Die Wunder
  • Aus dem Spanischen von Susanne Lange
  • ISBN 978-3-518-43028-6 (Suhrkamp)
  • 221 Seiten. Preis: 23,00 €
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