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Maria Messina – Das Haus in der Gasse

In dieses Haus möchte man wirklich nicht einziehen. Mit großem Geschick für psychologische Schwingungen und Konflikte inszeniert Maria Messina in Das Haus in der Gasse das problembehaftete Zusammenwohnen höchst unterschiedlicher Menschen in einem düsteren Haus irgendwo in einer sizilianischen Stadt. Es ist nichts weniger als die Wiederentdeckung einer vergessenen italienischen Autorin!


Sie zählt zu den vergessenen Autorinnen der italienischen Literaturgeschichte: Maria Messina. Früh konnte sie den Kritiker Giuseppe Antonio Borgese mit ihren Erzählungen begeistern, viel Ruhm war ihr aber nach den schriftstellerischen Erfolgen zeit ihres Lebens nicht beschert. Nicht einmal biografische Eckdaten oder Details ihres Lebens haben sich erhalten, wie Christiane Pöhlmann in ihrem kenntnisreichen Nachwort zu Das Haus in der Gasse ausführt.

So war lange Zeit der funktionale 1. Januar des Jahres 1944 als Sterbedatum von Marina Messina festgelegt, ehe sich nach einem Fund der Sterbeurkunde der 19. Januar als wirkliches Todesdatum von Messina datieren ließ. Kaum ein Fitzelchen von Information über die Schriftstellerin hatte Bestand. Das im toskanischen Pistoia aufbewahrte Archiv der Schriftstellerin war durch einer Bombardierung zerstört worden. Und so verlieren sich die Spuren Maria Messinas in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, der zum Zeitpunkt ihres Todes schon längst Chaos und auflösenden Strukturen über das ganze Land gebracht hatte. Nicht einmal ein gravierter Grabstein erinnerte lange Zeit an die Autorin aus dem Süden Italiens.

Die vergessene Maria Messina

Maria Messina - Das Haus in der Gasse

Erst der ebenfalls in Sizilien geborene Autor Leonardo Sciascia sorgte für eine Wiederentdeckung der Autorin – die allerdings auch nicht von langer Dauer war. Auch die Welle der (Wieder)Entdeckung der feministischen Literatur in Italien sorgte allenfalls für ein kurzer Strohfeuer, das die Werke Maria Messinas für die die damaligen Leser*innen zu entfachen wussten. Denn nicht nur, dass Messina aufgrund ihrer kaum zu greifenden Biografie wenig Interesse weckte und schon gar nicht als markantes Vorbild taugte – auch ihr Werk selbst entzog sich griffigen Schlagwörtern und Parolen, die der damalige Zeitgeist bevorzugte, wie Pöhlmann im Nachwort ausführt.

Denn bewusste Botschaften, klare Einordnungen und eindeutige Figurenzeichnungen gibt es in Das Haus der Gasse nicht. Vielmehr erweist sich Maria Messina als Meisterin für Psychologie in ihren Figuren und erzählt eine Geschichte, die weniger in einer konkreten Zeit und Ort verhaftet ist, als vielmehr das Allgemeine im menschlichen Zusammenleben herausarbeitet und in den Mittelpunkt stellt.

Das Zusammenleben im Haus in der Gasse

Schauplatz des 1921 entstandenen Romans ist das titelgebende Haus in der Gasse, irgendwo in einer italienischen Stadt nahe des Meeres. Hier lebt Don Lucio, ein von seiner Familie gefürchteter Pedant. Ob Pantoffel, Zitronenwasser, Pfeife zum Rauchen oder die Massage seines Kopfes – alles muss zur rechten Zeit erfolgen und darf nicht vom gewohnten Gang abweichen.

Einst ehelichte Don Lucio Antonietta, deren Vater sich mit Schulden überhäuft hatte, die er Don Lucio als Gesandten des Barons, zurückerstatten musste. Aus diesem Schuldverhältnis ergab sich ein – natürlich – regelmäßiger Kontakt mit Don Lucio, dem auch bald der Antrag für die junge Antonietta erwuchs. Schon kurz nach dem Auszug Antonietta brach das restliche familiäre Gefüge zuhause zusammen. Der Vater starb, die Familie verstreute sich in alle Winde, nur die jüngere Nicola brauchte Obdach, das sie ebenfalls im Haus in der Gasse fand.

Immer und ewig einander gleich und bedrückend verstrichen die Stunden im Haus in der Gasse.

Maria Messina – Das Haus in der Gasse, S. 149

Und so verstricken sich im Laufe des Romans nun die Figuren gegenseitig in Neid, Rivalität und Begehren. In der stets untergründig bedrohlichen und angstgesättigten Atmosphäre des Hauses wachsen die Kinder von Don Lucio und Antonietta heran. Nicola übernimmt ebenfalls Betreuung und Hausarbeiten und bewegt sich im Spannungsfeld der Eheleute, während Don Lucio sie begehrt, im Gegensatz zu seinen Gefühlen für seine Schwägerin seine Kinder aber mit Distanz und Härte erzieht.

Neid, Rivalität, Enge und Kälte

Eindrücklich schildert Maria Messina das komplizierte Miteinander aus Anziehung und Abstoßung, Kälte und aufflackernder Liebe. Mit viel Gespür für psychologische Schwingungen, Rivalität und Verbrüderung beziehungsweise Verschwesterung inszeniert sie den Alltag der Familie, der sich wenig spektakulär ausnimmt, dafür umso eindringlicher die weiblichen Perspektiven im Haushalt unter einem despotischen Hausherren schildert.

Man verlässt das Haus so gut wie nie, Spaziergänge oder Ausflüge ans nahegelegene Meer gibt es nicht, sie sind Don Lucio verhasst. Alles was Freude bringt, ist in diesem Haushalt verpönt. Liebe und Wärme findet sich so gut wie gar nicht, nur die Enge umgibt Messinas Figuren. Folglich wirbeln die Gedanken Nicolas auch durcheinander, als ihre Schwester Don Lucio ein Mädchen gebärt:

Warum musste es in diesem traurigen Haus zur Welt kommen?

Aber als sie die rosigen, fest geschlossenen Fäustchen betrachtete, bekam sie auch mit dem Eindringling Mitleid.

Wenn es nur ein Junge wäre, sagte sie sich. Sein Los wäre einfacher. Frauen sind zum Dienen und zum Leiden geboren. Zu nichts anderem.

Maria Messina – Das Haus am Ende der Gasse, S. 76

Die Selbstaufgabe, Kasteiung und Verleugnung jeglicher eigenen Ansprüche oder Entfaltung von Frauen unter einer patriarchalen Herrschaft, sie nimmt Maria Messina in diesem Roman so gnadenlos und zeitlos in den Blick, dass sich Das Haus in der Gasse auch in unseren Tagen frei von Staub und Sentiment liest.

Hoffentlich eine dauerhafte Entdeckung

Dass Maria Messina nun in einer dritten Welle der Wiederentdeckung endlich der verdiente Ruhm und postume Bekanntschaft zukommt, das bleibt zu hoffen, schreibt doch hier eine Autorin mit genauem Blick für die Anhängigkeiten von Frauen und dem komplizierten Miteinander von Menschen, grundiert von tiefgreifendem psychologischen Gespür für Zwischenmenschliches.

Zumindest der herausgebende Verlag der Friedenauer Presse unter Christian Döring und Christiane Pöhlmann, die nicht nur als Autorin des Nachworts fungiert, sondern auch die vorliegende, sehr präzisen Übersetzung durch Ute Lipka durchgesehen hat, haben ihren Verdienst zweifelsohne erbracht.

Jetzt ist es an den Leserinnen und Lesern, diese Autorin neu zu entdecken. Im Jahr, in dem Italien das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, stehen die Zeichen dafür gut – es wäre allen Beteiligten von Herzen zu wünschen!

Ein Hinweis sei an dieser Stelle auch noch zum Beitrag der Kulturzeit gegeben, in der sich die Literaturkritikerin Ursula März dem Werk nähert und Hinweise gibt, warum Maria Messina so gründlich vergessen wurde.


  • Maria Messina – Das Haus in der Gasse
  • Aus dem Italienischen von Ute Lipka
  • Durchgesehen und mit einem Nachwort versehen von Christiane Pöhlmann
  • ISBN 978-3-7518-8017-6 (Friedenauer Presse)
  • 210 Seiten. Preis: 22,00 €

Maike Albath – Bitteres Blau

Von Ermanno Rea bis Elena Ferrante, vom Overtourism bis zu Roberto Savianos Anklage gegen die Gomorrha: in ihrem Buch Bitteres Blau schließt uns die italophile Literaturexpertin Maike Albath die vielgestaltige Stadt nicht nur literarisch auf. Ihr gelingt eine wunderbare Einführung in das Wesen Neapels, die zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse gerade recht kommt. Schließlich ist Italien in diesem Jahr das Gastland der Messe und Albaths Buch die beste Vorbereitung auf Land und Leute am Golf von Neapel.


Wer eintauchen möchte in die vielfältige literarische Landschaft Italiens, für den sind die Werke von Maike Albath ein wunderbarer Führer und Wegbegleiter. Schließlich beschäftigte sie sich in ihren allesamt im Berenberg-Verlag erschienenen Büchern eingehend mit der Literaturszene des Landes, und das vom Süden in Sizilien bis hin in den Norden nach Turin.

Nachdem sie uns schon die Hauptstadt Rom aufschloss, ist es nur konsequent, sich nun endlich Neapel zu widmen. Schließlich prägend die Autorinnen und Autoren, die dieser Stadt entstammen, bis heute das Bild der italienischen Literatur.

Neapel und seine Gesichter

Fast am Ende widmet sich Maike Albath DER Autorin, die zuletzt Neapel wieder auf die literarische Landkarte hob, und das sogar weltweit. Die Rede ist von Elena Ferrante, um die sich – durch geschicktes Marketing und enthusiastische Leserstimmen bestärkt – das sogenannte Ferrante-Fieber entspann. Wer war die Autorin, die über Neapel und die Frauen in dieser Stadt schrieb? Die Kulturberichterstattung rätselte, die Bücher florierten und wurden vielfach gelesen, besprochen und empfohlen.

Maike Albath - Bitteres Blau (Cover)

Die Entstehung dieses Ferrante-Fiebers zeichnet Albath in einem ihrer zahlreichen im Buch versammelten Feuilletons nach, ebenso wie sie auch auf das Werk, dessen Bezüge und das Rätselraten um das Pseudonym Elena Ferrante eingeht. Gelungen schafft sie es, die Faszination dieser Autorin zu schildern und die wiederkehrende Motive und Fragen im Schaffen Ferrantes nachzuzeichnen, von Meine geniale Freundin bis hin zu Das lügenhafte Leben der Erwachsenen.

Aber nicht nur mit großen Namen der Gegenwart beschäftigt sich Maike Albath in ihren Texten. Auch die hierzulande so gut wie unbekannten Autorinnen und Autoren stellt sie auf den vorhergehenden Seiten ihres Buchs in den Mittelpunkt.

Matilde Serao, Curzio Malaparte und Elena Ferrante

Es sind Texte, die als Einführung in die Geschichte Neapels ebenso gut funktionieren, wie sie Türöffner in die Welt der Literat*innen in dieser Stadt sind. Hierzulande unbekannte Namen wie der von Ermanno Rea, der zunächst als Fotograf, dann als Autor zum Chronisten der Stadt Neapel wurde oder die produktive Kolumnistin und Autorin von über 70 Romanen, Matilde Serao, der Albath in der Kapitelüberschrift die Zuschreibung eines Vesuvs in Menschengestalt verpasst. Sie lassen sich in Bitteres Blau entdecken, ebenso wie ihr Buch zur Entdeckung von hierzulande nur semibekannten Namen wie Curzio Malaparte oder Domenico di Starnone einlädt.

In der ärmsten Stadt Italiens sind die Übergänge zwischen Gegenwart und Vergangenheit stets ebenso fließend wie die zwischen Jenseits und Diesseits. Und auch die Texte von Albath selbst sind es.

Was die bekannte Nusscreme der Firma Ferrero mit dem Overtourism in Neapel zu tun hat, lässt sich aus ihrem Buch ebenso erfahren wie der morbide erscheinende Brauch der „Heiligen Seelen im Fegefeuer“. Bei diesem adoptieren Bewohner des Viertels Sanita einzelne Totenschädel aus den unter dem Viertel gelegenen Katakomben, reinigten sie und pflegten sie als Symbol einzelner Seelen, die noch im Limbus des Fegefeuers verharren mussten. Ein paganer Ritus, der die in Neapel besonders ausgeprägte Faszination für das Jenseits untermauert, wie Albath in ihrem Buch zeigt.

Verwischte Grenzen

Bitteres Blau verwischt die Grenzen zwischen Soziologie, Literaturgeschichte, Porträts, urbanen Erkundungen und Gesellschaftsanalyse. Bestes Beispiel ist Albaths Feuilleton über Roberto Saviano. In diesem schildert sie seine schriftstellerische Karriere, die mit Enthüllungen über die Camorra begann und die ihm seine Freiheit kostete und ständigen Polizeischutz bescherte. Darüber hinausgehen widmet sie sich aber auch den von Saviano adressierten Problemen des Organisierten Verbrechens, das nicht nur Neapel die Stadtviertel durchdrungen hat.

Immer wieder gelingen ihr in ihren Texten Querbezüge, etwa wenn sie im letzten Kapitel des Buchs die Buchhandlung Dante & Descartes und ihren Besitzer Raimondo di Maio porträtiert. Diesem gelang nicht nur das Kunststück, als einziger in Italien einen Gedichtband von Louise Glück im Portfolio zu haben, als diese den Literaturnobelpreis errang. Auch war und ist die Buchhandlung unter di Maio ein literarischer Taktgeber und Kommunikationsort, den unter anderem auch Roberto Saviano nutzte, um von dort Fahnen zu verschicken und der dort auch Kenntnis von der Bedrohung seines Lebens erhielt, den die zuvor abgesendeten Fahnen und das schlussendlich gedruckte Buch über die Camorra fortan für ihn bedeuten sollte.

Fazit

So webt Maike Albaths einen kenntnisreichen und neugierig machenden Teppich voller Geschichte, Geschichten und Verweisen, der in seiner Vielgestaltigkeit der mindestens ebenso vielgestaltigen Stadt Neapel Rechnung trägt. Bitteres Blau macht Lust, die Gassen Neapels zu erkunden und tiefer in das literarische Gewirr und Durcheinander dieser Stadt einzutauchen, durch das Maike Albath hier so kundig zu führen weiß!


  • Maike Albath – Bitteres Blau: Neapel und seine Gesichter
  • ISBN 978-3-949203-90-9 (Berenberg)
  • 352 Seiten. Preis: 26,00 €

Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben

Was ist nicht schon alles über die Ewige Stadt geschrieben worden. Als Ziel der Grand Tour, Magnet für Touristen, Bildungsreisende und Künstler*innen seit jeher ist eine schon eine unmöglich zu überblickende Fülle an Büchern über die italienische Hauptstadt geschrieben worden. Braucht es da noch ein weiteres Buch über die Faszination Rom? Unbedingt, wenn der Verfasser des Ganzen Golo Maurer heißt.

Denn er legt mit Rom – Stadt fürs Leben einen persönlichen Blick auf jene Stadt vor, die ihn ebenso begeistert, wie sie ihn mit ihren Eigenheiten manchmal schier den Verstand zu kosten scheint. Aber selbst alle Verzweiflung ist hier doch auch nur eine etwas geartete Form von Rom-Liebe, an der er seine Leserinnen und Lesers enorm vergnüglich und sprachlich burlesk teilhaben lässt und mit der er auf den Spuren von Ferdinand Gregorovius wandelt.


Strenggenommen ist ja schon eigentlich fast alles über die Stadt am Tiber geschrieben worden, mit ihren Nebeneinander von Kirchen, Kunstwerken, dolce vita und sprezzatura. Alleine in diesem Herbst erscheinen dutzende Publikationen, die sich – besonders bedingt durch den Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse – mit dem Zauber Roms befassen. Auch Golo Maurer fügt sich in diese Riege an Titeln ein, ragt aber zugleich mit seinem persönlichen Blick auf die Stadt aus dieser Riege heraus.

Denn ihm gelingt mit Rom – Stadt fürs Leben eine großartige Einführung in das, was es heißt, Römer zu sein in einer Stadt, die mit ihren Eigenheiten von Zeit zu Zeit herausfordert, verzweifeln lässt, aber am Ende immer beglückt. Kundig und mit einem bewundernswerten Sinn für Sprache, Timing und Übertreibung lässt er uns alle an diesen Emotionen teilhaben, die die Ewige Stadt hervorzurufen im Stande ist.

Parolacce, ÖPNV und Marmortische

Golo Maurer - Rom - Stadt fürs Leben (Cover)

Dabei lässt Maurer bei seinem persönlichen Blick so gut wie nichts aus. Einführung ins Parolacce, den Gebrauch von Schimpfwörtern, über die Tücken des Öffentlichen Personennahverkehrs in der Hauptstadt bis hin zum Lebensgenuss, reichend vom Zauber der Marmortische in Trattorien bis hin zum Barbier.

Acht Kapitel nebst Vor- und Nachrede bilden den Korpus dieses Buchs, das beginnend mit dem Historie Roms und ihren Hügeln über Themen wie die römische Politik bis hin zu den „Römischen Idyllen“ führt. Darin beschreibt Maurer seinen eigenen Blick auf das Leben in Rom in einem sprachlich höchst eleganten und mit Humor punktenden Erzählstil.

Mal ist es die Verzweiflung, wenn der Bus Assoziationen zu Herman Melvilles Moby Dick weckt, gleicht schließlich das Ausharren nach dem legendären Wal an Bord der Pequod dem Warten auf der Haltestelle, wenn sich keine Sichtung des begehrten Fahrzeugs einstellen mag. Mal lässt er sich über die unerschütterliche Liebe der Italiener zum Plastik und dessen Nicht-Entsorgung aus. Sein Groll über das Land, in dem nicht nur die Zitronen blühen, sondern ebendiese gleich in Plastik eingestretcht werden, ist nicht nur durch den Blick des Deutschen auf die Eigenheiten der Römer höchst komisch.

Abrechnung und Hommage

Rom – Stadt fürs Leben ist so nicht nur eine Abrechnung und Hommage an das Leben in der Ewigen Stadt, es ist auch ein schönes Mittel, sollte man von einem akuten Anfall von Sehnsucht auf das Dolce Vita in der italienischen Hauptstadt heimgesucht werden. Man schlendert mit dem Autor durch die Trattorien oder wird bei einer wagemutigen Wanderung von Rom nach Neapel (die in Ton und Gestus an die großen Abenteuer der Grand Tour vergangener Zeiten gemahnt) sogar gefährlichen Raubtieren ansichtig.

Liest man Maurers Buch, mag man zwar von manchen Aspekten des Lebens dort auf den Hügeln Roms abgeschreckt sein – umso größer ist aber die Begeisterung für die Stadt, hat man dieses Buch beendet. Es weckt Sehnsucht und zeigt uns Deutschen auf, wie es gehen kann, mit der Kunst des schönen Lebens.

Unterhaltsam, sprachlich elegant, hochkomisch, ehrlich sind die Betrachtungen von Leben und Leben Lassen, vom Wandel in der Stadt und der Faszination für sie, die sich doch seit jeher erhalten hat und dies gewiss noch lange tun wird. Nicht nur im Zuge des Gastlandauftritts als Einführung in das römische Leben dieses modernen Gregorovius ist dieses Buch höchst lesenswert!


  • Golo Maurer – Rom – Stadt fürs Leben
  • ISBN 978-3-498-00380-7 (Rowohlt)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €

Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald

Der Wald als Ort der Zuflucht, die italienische Autorin Maddalena Vaglio Tanet greift in ihrem Debüt In den Wald auf dieses Motiv zurück, um von der psychischen Erschütterung einer Lehrerin und der Reaktion ihres Umfelds darauf zu erzählen.


Schon seit der Romantik ist der Wald das Motiv, das für Zuflucht, Geborgenheit, aber auch Gefahr und Entgrenzung steht. Immer wieder haben Autor*innen diesen Ort in seiner Vielschichtigkeit inszeniert. Martin Suter ließ beispielsweise vor über zwanzig Jahren in seinem Bestseller Die dunkle Seite des Mondes den Schweizer Banker Urs Blank halluzinogene Pilze probieren. Daraufhin floh der soignierte und erfolgreiche Anwalt in den Wald, wo er das Überleben lernte. Oder auch der Schriftsteller Rye Curtis war es, der vor Kurzem seine Heldin Cloris nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der nordamerikanischen Wälder zum Überleben verdammte.

Immer wieder greifen Schriftsteller und Schriftstellerinnen auf die Möglichkeit zurück, ortsfremde Figuren in der Umgebung des Waldes auszusetzen, damit sie überleben, sich ihrer eigenen Geschichte stellen oder einen neuen Blick aufs Leben gewinnen.

Flucht in den Wald von Piemont

Im Falle im Falle von Maddalena Vaglio Tanets Debüt ist es eine Lehrerin, die im Wald überleben muss, auch wenn sie das eigentlich gar nicht will.

Statt in die Schule ging die Lehrerin in den Wald.

In einer Hand hielt sie die Zeitung, die sie gerade gekauft hatte, in der anderen die lederne Aktentasche mit den Heften, den korrigierten Aufgaben, den Kugelschreibern und sorgfältig angespitzten Bleistiften. Ohne zu zögern, verließ sie die Straße, als wäre der Wald von Anfang an ihr Ziel gewesen. Ihre flachen Schuhe traten auf einen Teppich aus braunen, glänzenden Blättern, die ihr wie ein Feld aus rohen Innereien erschienen.

Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald, S. 11

Zugegeben keine wirklich gute Ausrüstung, um im Wald zu überleben, selbst bei sommerlichen Temperaturen. Der Auslöser für diesen scheinbar so irrationalen Schritt oder besser Gang besteht in einem Ereignis, von dem sie aus der Zeitung erfahren hat. Denn eine Schülerin Silvias, so der Name der Lehrerin, hat Selbstmord begangen. Aus einem Fenster hat sich das elfjährige Mädchen in den darunter fließenden Wildbach Cervo stürzt.

Silvia gibt sich die Schuld an dieser Tragödie, hatte sie doch noch zuvor die mangelnde Präsenz der Schülerin im Unterricht bei den Eltern angemahnt. Doch nun, da das Mädchen tot ist, wird Silvia von schwersten Schuldgefühlen geplagt und will eigentlich nicht mehr sein.

Eine Tragödie und ihre Folgen

Maddalena Vaglio Tanet - In den Wald (Cover)

Im nahegelegenen bergigen Waldgebiet, der sich an das kleine piemontesische Dorf anschließt, sucht sie die Einsamkeit, die sie in einer zerfallenen Waldhütte findet. Derweil wird das Dorf nach der Hiobsbotschaft des Freitods der Schülerin nun auch vom Verschwinden der Lehrerin aufgewühlt. Silvias Cousin Anselmo macht sich ebenso wie der von asthmageplagte Schüler Martino auf die Suche nach der zweiundvierzigjährigen Frau.

In den Wald erzählt vom übermächtigen Wunsch des Verschwindens, der Scham und der Reue genauso wie vom Leben, das auch nach solch katastrophalen Ereignissen weitergeht, wie sie das piemontesische Dorf hier gleich zweifach heimsuchen im Sommer des Jahres 1970.

Maddalena Vaglio Tanet nutzt hierfür ein ganzes Ensemble an Figuren, die in kurzen Kapiteln immer wieder im Mittelpunkt stehen. Neben dem familiären und schulischen Umfeld der getöteten Schülerin und der verschwundenen Lehrerin ist es vor allem der junge Martino, der zusammen mit Silvia im Mittelpunkt steht. Denn dieser macht schon bald die zerfallene Hütte mitsamt der neuen Bewohnerin ausfindig. In einem Akt der Verkehrung wird der junge Schüler zum eigentlichen Versorger und Beschützer seiner Lehrerin, die dort in der aufgrund von Hunger und Durst schon bald zu delirieren beginnt.

Schüler und Lehrerin – und die Verkehrung der Rollen

Martino versorgt sie mit Nahrung und Trinken, wird zum häufigen Besucher der älteren Frau in der Hütte und hört ihr zu, die sie sich in Gedanken und Erinnerungen zu verlieren droht, während das Dorf langsam schon gar nicht mehr an das Überleben von Silvia glaubt.

Tanets Debütroman beruht dabei auf biografischen Details aus ihrer eigenen Familie, wie die Autorin im Nachwort ihres Romans schreibt. So gab es auch in Tanets Familie eine kinderlose Cousine, die als Lehrerin arbeitete. Auch sie blieb tagelang verschwunden, um später völlig verdreckt und nahezu verhungert wieder aufzutauchen. Die Frage, was mit der Frau geschehen war und was der Auslöser für ihre Flucht war, beschäftigte Tanet insbesondere, da die Hintergründe der Episode nie wirklich in der Familie thematisiert wurden.

Und so liegt nun mit In den Wald vor eine Art Antwortversuch oder Fantasie über die möglichen Hintergründe des damaligen Ereignisses vor. Der Roman ist düster, zeigt eine raue Natur, die wenig gemein hat mit italienischer Sommer-Idylle und präsentiert Figuren, denen man auch nicht wirklich in die Seele schauen kann und die zumeist so karg sind wie die Umwelt, die sie umgibt. Insofern greift Tanets Debüt tatsächlich jene Stimmung auf, die in ihr vor dem Verfassen des Buchs herrschte, was die Frage des Verschwindens anging.

Fazit

Wer dunklere Geschichten über das Überleben im Wald, die Versehrungen an Seelen und ihre Folgen schätzt, der bekommt mit In den Wald eine eindrückliche Geschichte aus dem Norditalien der 70er-Jahre präsentiert, die sich gut in die Riege der eingangs genannten Titel einfügt. Übersetzt wurde der Roman aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.


  • Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald
  • Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
  • ISBN 978-3-518-43198-6 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €

Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer

Bekenntnisliteratur eines Nachwuchs-Killers. In ihrem Debüt Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer lässt die italienische Autorin Francesca Maria Benvenuto einen jugendlichen Gefängnisinsassen zu Beginn der 90er-Jahre einen langen Brief schreiben. Er zeichnet darin das Bild von Gewalt, die immer wieder Gewalt gebiert.


Nisida ist eine kleine im Golf von Neapel gelegene Insel. Auf dieser Insel befindet sich ein Gefängnis für Fälle wie den Jugendlichen Zeno, der einen Brief für seine Lehrerin schreibt – und damit uns Einblicke in ein gewaltgesättigtes Milieu liefert, das keinen Raum für Entkommen lässt.

Benvenuto siedelt ihr Debüt zu Beginn der 90er Jahre an. Damit spielt Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer in einer Phase, als wirtschaftlicher Aufschwung und Tourismus für Neapel noch in weiter Ferne lagen. Während der Norden bereits prosperierte und Anschluss an die EU fand, lag der Süden brach. Gewalt, Korruption und mafiöse Strukturen, allen voran die Camorra, dominierten die Stadt. Liest man Benvenutos Roman, dann steht dem Leser diese Zeit rasch sehr plastisch vor Augen.

Ein Brief aus dem Gefängnis

Denn um ihren Roman zu erzählen, wählt die Italienerin den Kniff eines schriftlichen Geständnisses, das der junge Zeno auch vor uns ablegt. Gerade einmal fünfzehn Jahre und vier Monate alt ist er, und doch sitzt er schon mit vielen anderen Jugendlichen im Gefängnis – die Strafe für einen Mord, den er begangen hat.

Francesca Maria Benvenuto - Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer (Cover)

Um an Weihnachten wenigstens für zwei Tage Ausgang zu bekommen, schreibt er einen Brief, in dem er sein ganzes Leben darlegt. Seine Lehrerin im Gefängnis hat ihm dies als Bedingung abgerungen, damit sie beim Gefängnisdirektor ein gutes Wort für den Jungen einlegt, der über sich selbst sagt, dass er „geklaut, gedealt und sogar gemordet, aber nie gelogen habe“.

Und so berichtet er von seinem Werdegang, seinem Aufwachsen im Stadtteil Forcella in Neapel, wo die Hoffnungslosigkeit zuhause ist. Der Vater ebenfalls in einem Gefängnis einsitzend, die Mutter Prostituierte, die Schwester auch mit einer kurzen Zeit als Prostituierte, ein kärgliches Zuhause im beengten Souterrain eines Hauses. So sieht das Milieu aus, das dann auch Zenos Lebensweg bestimmt.

Ein jugendlicher Mörder

Zum Mord ist es in der Konsequenz des Lebens dort nur ein kleiner Schritt – und so sitzt er nun ein und hat Zeit, das Leben vor seiner Zeit im Gefängnis ebenso wie das Leben hinter Gittern zu schildern. Dies tut er in einem durchaus fehlerbehafteten und mündlichen Stil, da er eigentlich nur Neapolitanisch spricht und das Hochitalienisch seine Sache nicht ist. Übersetzerin Christine Ammann hat diesen besonderen Tonfall gut auch ins Deutsche hinübergerettet.

Jedenfalls heiß ich Zeno, was ein komischer Name ist.

Erstens, weil er mit Z anfängt, dem letzten Buchstaben im Alfabet.

Ich hätt mir nen andern gegeben, der einem Angst einjagt, wie Rambo oder was Amerikanisches.

Oder einen, der mit A anfängt, dem ersten Buchstaben, der sich im Alfabet für den allertollsten hält.

Aber ihr habt gesgt, Professoressa, Zena ist ein schöner Name.

So heißt ein berühmter Typ in einem Buch, habt ihr gesagat. Der ununterbrochen raucht, genau wie ich, und einfach nicht aufhörn kann, obwohl er eigentlich will.

Der arme Typ ist ja noch schlimmer dran als ich.

Ich versuchs nicht mal, weil mit ner Zigarette ist man wer, sonst wüsst ich gar nicht, wo ich die Hände hintun soll. Ich rauch, seit ich elf bin.

Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer,. S. 11

Die Sprache

So entsteht durch dieses Geständnis das Bild eines verletzlichen Jungen zwischen großer Mackerpose, Gewaltneigung, Angst, Orientierungslosigkeit und der Sehnsucht nach einem anderen Leben.

Ein Bild der Hoffnungslosigkeit

Nicht einmal Bildung oder religiöse Zuwendung können aber an den Umständen und der Hoffnungslosigkeit der Jugendlichen in Neapel und hinter Gitter etwas ändern. Weder der Unterricht, der ihnen auf Nisida erteilt wird, noch der öffentlichkeitswirksame Besuch des Papstes bringen Besserung, im Gegenteil.

Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer ist ein fast hoffnungsloser Roman, der insbesondere mit seinen letzten Seiten noch einmal eine ganz eigene Wucht entfaltet und die Hoffnungslosigkeit des kompletten Systems, in dem Zeno aufgewachsen ist, zeigt.

Dass es mit Neapel nach den im Roman beschriebenen Ereignissen wieder aufwärts ging, ist der Trost der Geschichte. Für Zeno kommt dieses Trost allerdings zu spät, wie Benvenuto mit dieser bitteren Geschichte eindrucksvoll zeigt.


  • Francesca Maria Benvenuto – Dieses Meer, dieses unerbittliche Meer
  • Aus dem Italienischen von Christine Ammann
  • ISBN 978-3-95614-601-5 (Kunstmann)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €