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Richard Russo – Von guten Eltern

Zurück in North Bath. In seinem mittlerweile dritten Roman, der in der fiktiven US-amerikanischen Kleinstadt angesiedelt ist, lässt Richard Russo Kinder sich mit ihren Eltern auseinandersetzen, treffen ganz unterschiedliche Bewohnerinnen und Bewohner von North Bath aufeinander und zerplatzen manch große Erwartungen. Wieder gelingt Russo mit Von guten Eltern eine tolle Sezierung des Kleinstadt-Bürgertums und damit auch der amerikanischen Seele, die diesmal allerdings etwas braucht, bevor sie in Fahrt kommt.


Nachdem der Kölner Dumont-Verlag zuletzt Backlist-Pflege betrieb und mit Mohawk den Debütroman aus dem Schaffen Richard Russos veröffentlichte, gibt es nun mit Von guten Eltern wieder einen neuen Roman zu lesen, den das Thema des Kleinstadtromans mit dem Frühwerk aus dem Jahr 1986 verbindet.

Auch wenn mit knapp vierzig Jahren viel Zeit zwischen den Romanen vergangen ist, so teilen das erste und das neueste Werk über die Zeit hinweg viele Dinge miteinander. So ist es die Form des Kleinstadtromans, die Russo auch hier wieder aufgreift und mit der er zum inzwischen dritten Mal zurückkehrt in das kleine fiktive Städtchen North Bath, das sich weiterhin im Niedergang befindet.

Bekannte Figuren in bekannter Umgebung

Mittlerweile ist das Städtchen sogar soweit heruntergewirtschaftet, dass es vor der Eingemeindung mit ewigen Rivalen, dem ungleich prosperierenderen Schuyler Springs, steht. Allen voran Charice Bond, die Freundin des im zweiten North-Bath-Romans Ein Mann der Tat im Mittelpunkt stehende Polizeichef Douglas Raymer, ist von diesen Neuerungen betroffen, soll sie doch neue Polizeichefin in Schuyler Springs werden.

Richard Russo - Von guten Eltern (Cover)

Sie ist wie auch Douglas Raymer eine der zentralen Figuren, die Russo hier über vier Tage hinweg aufeinander treffen, sich verstehen und missverstehen lässt. Daneben gesellt sich eine weitere Riege typischer Russo-Figuren zu dem Ganzen, etwa der aus dem ersten North Bath-Roman Ein grundzufriedener Mann bekannte Donald „Sully“ Sullivan, der aber schon kurz nach Beginn des Romans stirbt, woraufhin sein Sohn Peter den Platz seines Vaters einnimmt.

Auch ein Dinner als Bühne der großen und kleinen Dramen des Lebens spielt wieder eine Rolle, das hier allerdings nicht auf den Namen Mohawk-Dinner hört. Geführt wird es von Janey, die wiederum mit einem Polizisten liiert ist, über den diesmal auch das Thema der Polizeigewalt in den Roman hineinfindet.

Von Kindern und ihren Eltern

Neben solchen Themen ist es vor allem das Thema der generationalen Konflikte und Verhaltensmuster, das Richard Russo in diesem Roman interessiert. Denn nicht nur Peter Sullivan kämpft darum, sich von dem väterlichen Erbe zu emanzipieren, um dann dem Schicksal doch nicht wirklich entkommen zu können.

Die Diner-Besitzerin Janey findet sich gleich in Sandwich-Position zwischen Sorgen um ihre Tochter Tina und ihre Mutter Ruth. Und selbst, wenn da keine Eltern präsent sind wie im Falle des nun abdankenden Polizeichefs Douglas Raymer, dann sind auch da Prägungen, die dieser dann eben durch die mittlerweile verstorbene Lehrerin Miss Beryl erfährt. Ihrer Erziehung und einem programmatischen Buchgeschenk in Form von Charles DickensGroße Erwartungen wird dem Polizeichef an diesem besonderen Wochenenden nicht entkommen können.

Prägungen

Prägungen, vorgelebte Rollenmuster und vergebliche Versuche der Emanzipierung durchziehen Von guten Eltern. Bis diese Muster dann so wirklich zur Geltung kommen, vergeht hier einige Zeit, die Russo für seine Exposition benötigt. Und statt sich auf eine Figur zu konzentrieren, entscheidet sich Russo diesmal für einen multiperspektivischen Erzählansatz, in dem ein halbes Dutzend an Figuren gleichberechtigt nebeneinandersteht und immer wieder die Handlung der anderen Kapitel unterbricht, ehe zu Interferenzen zwischen den Erzählungen kommt.

Da gerät der zu untersuchende Suizid, der sich in einem heruntergekommenen Hotel zugetragen hat, das auf den schön ironischen Namen Sans Souci hört, fast zur Nebensache.

Alles das sind erzählerische Entscheidungen, die mich nicht so einfach durch die Seiten fliegen ließen, wie es Russo bei seinen anderen Bücher durchaus schon gelungen ist. Natürlich ist auch hier viel Wärme für seine schrulligen Figuren, guter Sinn für Humor und Skurrilität, aber durch die Fülle an Personal fehlt Von guten Eltern manchmal etwas von dieser Leichtigkeit, die Richard Russos Schreiben sonst kennzeichnet.

Fazit

Als Fortführung seines North-Bath-Zyklus ist Von guten Eltern auch ohne Kenntnis der anderen beiden Bände sehr gut zu lesen, gibt es doch innerhalb der vier Tage viel Abwechslung, Chaos und Turbulenzen. Aber über das Niveau der ersten beiden, ganz großartigen Bände, kommt Russos dritte Stippvisite in der fiktiven Kleinstadt nicht hinaus. So haben sich meine großen Erwartungen an das Buch ein Stück weit zerschlagen.

Das ist überhaupt nicht schlimm, sind diese vorher genannten Werke von Richard Russo doch in der oberen Liga amerikanischer Gegenwartsliteratur angesiedelt. Und auch dieser Roman bewegt sich wieder im Spannungsfeld der üblichen Figuren und Kleinstadtdramen – aber wirklich Überraschendes für seine Fans und Afficionados weiß Richard Russo hier leider nicht aufzubieten.


  • Richard Russo – Von guten Eltern
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-6813-1 (Dumont)
  • 576 Seiten. Preis: 28,00 €
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Karel Poláček – Die Bezirksstadt

Als die Uhren noch etwas anders gingen. In Die Bezirksstadt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nimmt uns der heute schon fast völlig vergessene Karel Poláček mit und zeigt ein beschauliches böhmisches Städtchen, das von der Nachricht des Kriegs schließlich aus seinem Schlummer gerissen wird.


Irgendwo in Böhmen steht sie, Die Bezirksstadt. Von der Hautpstadt Prag ist sie ebenso weit weg wie der Alltag dort von der Hektik unserer Tage. Ein Buchhändler mit Dackel, zwei verfeindete Krämer, vor den Toren ein Armenhaus, ein Friseur und ein Apotheker, bei dem sich abends die in Capes gehüllten Stadtoberen zu einem Gläschen Likör versammeln. Das sind die Einwohner und Institutionen, die die namenlose Bezirksstadt in Poláčeks Roman aus dem Jahr 1936 kennzeichnen.

Man könnte glatt von Beschaulichkeit sprechen – aber in den Augen der Bewohner*innen wäre das mehr als falsch. Denn es tut sich einiges dort im Lauf der beschriebenen Handlung, die im Jahr 1913 einsetzt und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs reicht.

Willkommen in der Bezirksstadt

Da brennt ein Etablissement vor den Toren der Stadt nieder, da wird geheiratet (und kurz darauf die Flucht vor dem eigenen Ehemann gen Prag angetreten), die Krämer intrigieren gegeneinander, wie es Goscinny und Uderzo in ihrem kleinen gallischen Dorf schöner nicht hätten in Bilder bannen können, da wird ein rauschendes Fest gegeben, wenn sich der lokale Abgeordnete ankündigt.

Karel Poláček - Die Bezirksstadt (Cover)

Karel Poláček spannt einen großen Bogen in seinem Roman auf, der zugleich einen präzisen Schnitt durch die böhmische Kleinstadtgesellschaft kurz nach der Jahrhundertwende darstellt. Vom Bettler bis zum Abgeordneten, vom Lehrer bis zum Studente reicht das Panoptikum an Figuren und Lebenswelten.

Der 1892 geborene Poláček zeigt in Die Bezirksstadt den grassierenden Antisemitismus, die Fortschrittsfeindlichkeit alter Eliten genauso wie die sich wandelnde Mode und den Aufbruchsgeist junger Menschen, was des Öfteren zu explosiven Szenen führt, etwa wenn der Kaufmann Štědrý seinen Sohn, der in der fernen Stadt studiert, für dessen geckenhafte Auftreten nach jüngster Mode maßregelt.

Es sind Szenen von großer Komik, mit der Poláček sein etwas hinterwäldlerisches Dorfpersonal liebevoll karikiert. Familien, in der die Lektüre von Jules Vernes Fünf Wochen im Ballon zu sinnstiftenden Angelegenheit wird, die Streitereien und rituellen Beleidigung der Männer, die eigenwilligen Bettler*innen, die dann immer wieder vom jähzornigen Verwalter Wagenknecht gepiesackt werden, und so weiter und so fort.

Humorvoller Roman, trauriges Schicksal seines Verfassers

Es ist ein großer Spaß, Die Bezirksstadt mit ihrem Clash of Cultures und ihrem Clash of Minds zu lesen. Der Spaß bekommt allerdings eine bittere Note, wenn man vom Schicksal Karl Poláčeks erfährt, das der Übersetzer und Herausgeber Antonín Brousek im Nachwort des Romans schildert.

Er erfuhr den Antisemitismus, den er in seinem Buch so kongenial demaskiert, am eigenen Leibe. Als jüdischer Redakteur würde er während des Zweiten Weltkriegs mit einem Schreibverbot belegt. Später kam er ins Konzentrationslager in Theresienstadt, wo er sich mit dem Schreiben von Sketchen und einem Fortsetzungswerk eines seiner großen Romanerfolge hervortat. Doch die Zeit dort unter jüdischer Selbstverwaltung im Lager fand sein Ende, als Poláček und seine Frau ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Seine Frau wurde unmittelbar nach der Musterung an der Rampe dort ermordet, Poláček selbst wurde im Jahr 1945 dann auf einem Todesmarsch erschossen.

Das Jüdische in seinem Schreiben, seine literarischen Erfolge und seinen Nachruhm beleuchtet Brousek in seinem Nachwort genau. Er erzählt vom vielfältigen literarischen Schaffen des tschechischen Autors, in dem Die Bezirksstadt eine herausragende Rolle einnimmt. Die biographischen Ursprünge und der Berührungspunkte in diesem Werk arbeitet der Übersetzer genauso heraus, wie er das fiktive Städtchen und dessen angebliche Kulturlosigkeit noch einmal unter eine genaue Leselupe nimmt.

Fazit

Mit Die Bezirksstadt holen der Reclamverlag und der Herausgeber Antonín Brousek einen hierzulande völlig unbekannten Autor aus unserem tschechischen Nachbarland zurück ans Licht der Öffentlichkeit. Es ist mit Karel Poláček ein Autor mit einem großen Gespür für Land und Leute zu entdecken, der in Die Bezirksstadt gekonnt von den kleinen und großen Dramen des Lebens, von Bettlern, Abgeordneten und Kaufleuten erzählt – eben dem, was das Leben dort in dem verschlafenen Städtchen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs so ausmachte. Eine wirkliche Entdeckung und ein grandioser Kleinstadtroman!


Hinweis: das Buch ist leider nur noch antiquarisch erhältlich. Die hier angegebene ISBN bezieht sich auf die E-Book-Ausgabe des Titels.

  • Karel Poláček – Die Bezirksstadt
  • Herausgegeben und aus dem Tschechischen übersetzt von Antonín Brousek
  • ISBN 978-3-15-961396-3 (Reclam)
  • 384 Seiten. Preis: 20,99 €
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Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens

Was kannst du anderes sein, wenn es doch nichts gibt, wohin du zurückkehren kannst?

Terézia Mora – Muna

In ihrem neuen Roman seziert Terézia Mora die eine Hälfte einer toxischen Liebe – und die Hälfte des Lebens ihrer Heldin. Beeindruckende Lektüre, die ganz tief hineingeht in ein Beziehungsgefüge und einer Anziehung nachspürt, für die es keine rationale Erklärung gibt.


M. Otto, so ist ein Foto signiert, das der Schülerin Muna bei ihrer ersten Redaktionssitzung eines kleinen Untergrundmagazins ins Auge fällt. Sie, die sie eigentlich Redakteurin werden möchte, findet nach einem absolvierten Praktikum bei der Zeitung ihres Heimatstädtchens Jüris Aufnahme beim Dreimannbetrieb des Magazins, wo sie Texte beisteuern soll und zum ersten Mal der Fotografien des mysteriösen M.Otto ansichtig wird. Hinter dem Pseudonym des Fotografen verbirgt sich Magnus Otto, der als Lehrer am Französischen Gymnasiums arbeitet.

Eine Faszination namens Magnus

Schon diese ersten Fotos lösen in Muna eine große Neugier und Faszination aus. Die Statuen, die auf den Fotos zu sehen sind, befinden sich an versteckten Plätze ihrer ostdeutschen Heimatstadt Jüris – und Muna beschließt, die Orte aufzusuchen, um dem Fotografen so näherzukommen. Doch nicht nur die Kunst Magnus Ottos fasziniert sie – auch die Person selbst ist es, die vom ersten Moment an im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht.

Terézia Mora - Muna oder Die Hälfte des Lebens (Cover)

Muna, die als Tochter einer stark dem Alkohol zuneigenden Schauspielerin mit Engagement am Theater Jüris ohne Vater aufwächst, sucht in Magnus einen Seelenverwandten, dem sie in der Folge immer wieder begegnen wird. Nach einem Suizidversuch ihrer Mutter so gut wie alleine auf der Welt, projiziert sie ihren Wunsch nach Bindung auf Magnus.

Während sie der Schule entwächst und später zum Studium nach Berlin aufbricht, nach dem Mauerfall dort und in vielen weiteren Städten, darunter London, Wien und später auch in Basel leben wird, ist Magnus stets präsent, ob anwesend oder abwesend.

So beginnen die beiden eine Beziehung – oder vielleicht sollte man besser von einer Affäre sprechen. Magnus verschwindet aus ihrem Leben, um Muna dann wieder bei einer anstrengenden Theateraufführung in Berlin zufällig zu begegnen, wo er ebenfalls im Publikum sitzt. Sie probieren, an ihre Beziehung/Affäre anzuknüpfen, doch die Zeichen stehen dafür nicht gut. So antwortet Magnus auf das Begehren Munas mit Rückzug und Flucht – entzieht sich ihr immer wieder – und begegnet ihrem Wunsch nach Nähe auch mit Gewalt, was Muna in ihrem Wunsch aber nicht abschreckt.

Liebe, Gewalt, Anziehung und Abstoßung

Um ihrem akademischen Freund auf Augenhöhe zu begegnen, strebt Muna derweil ebenfalls eine akademische Karriere an, studiert, arbeitet in einem Verlag in Wien für die Wiederentdeckung vergessener Autorinnen, versucht eine Dissertation voranzutreiben – und doch ist die Beziehung von Magnus und Muna eine, die nie auf Augenhöhe stattfinden wird.

Das seziert Terézia Mora in ihrem Roman ganz deutlich. Eng ist man dran an der Erzählerin Muna, die sich nach Magnus verzehrt, ihn an sich binden möchte und so auch nie wirklich von ihm loskommt – er ist eine Hälfte ihres Lebens, dem sie auch eine ganze Hälfte ihres ganzen Lebens schenken wird.

Immer wieder beherrschen Gedanken an ihn ihre Überlegungen, lenken sie von ihrem eigenen Vorankommen ab und verheißen ihr die Illusion einer Zukunft, die es so nicht geben wird.

Schläge, Aggression, schließlich sogar körperlicher Abbau und ein gefährlich naher Schritt an den Abgrund des Wahnsinns – all das löst dieser Magnus in Muna aus, womit man eigentlich alle Anzeichen einer toxischen Beziehung beisammen hat. Es ist eine gefährliche Beziehung, die Muna zwar nicht guttut, von Terézia Mora aber absolut nachvollziehbar und plausibel geschildert wird.

Eine toxische Beziehung

Wie kommt es zu einer solchen Beziehung, in der man selber nicht mehr für sein Glück entscheidend ist, sondern der Gegenüber? Was bleibt, wenn man sein Leben auf ein Gegenüber ausgerichtet hat, das den eigenen Erwartungen und Hoffnungen immer wieder zuwiderläuft? Das sind Überlegungen, die hinter Terézia Moras Muna oder Die Hälfte des Lebens aufscheinen.

Die Welt Munas mitsamt dem Aufwachsen im kleinbürgerlichen Jüris hinter dem Eisernen Vorhang, der Aufbruch nach Berlin und das gemeinschaftliche Leben in einer Villa, der akademische und literarische Betrieb, all das ist treffend und sehr genau gezeichnet. Der zentrale Punkt des Romans aber – also die Motivation der Anziehung Munas hin zu Magnus – bleibt dabei leer.

Das ist die große Stärke dieses Romans, der auf einfache Antworten und Charakterisierungen verzichtet. Der sich entziehende Magnus, der Gewaltexzess in der Beziehung der beiden, Muna, deren Verehrung von Magnus‘ und deren Hinterherlaufen geradezu an eine hündische Verehrung grenzt, das alles wird durch Munas Erzählperspektive ungefiltert erzählt und lässt manchmal einen möglichen korrigierenden Eingriff durch die Leser*innen notwendig erscheinen, der freilich ausbleiben muss. Es ist ein Roman, der all der weiblichen Selbstermächtigung, die in letzter Zeit verstärkt auf dem Buchmarkt präsent war, entgegenläuft und so einen ganz eigenen Ton entwickelt.

All das macht aus Muna oder Die Hälfte des Lebens eine wirklich eindrückliche Angelegenheit, was auch die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises folgerichtig erscheinen lässt.


  • Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens
  • ISBN 978-3-630-87496-8 (Luchterhand)
  • 448 Seiten. Preis: 25,00 €
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Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen

Australien, unerschöpfliche Quelle der Kriminalliteratur. Mit Hayley Scrivenor präsentiert der Eichborn-Verlag eine weitere Autorin aus Down Under, der mit ihrem Debüt Dinge, die wir brennen sahen ein ordentlicher, aber keinesfalls hitziger Krimi gelingt.


Dirt Town. So wird das kleine australische Städtchen Durton von seinen Bewohnern, besonders der Jugend geheißen. Wenig ist hier los auf dem australischen Land. Doch dann verschwindet die Schülerin Esther Bianchi auf dem Nachhauseweg von der Schule – und die Sorge ist groß.

Für die Suche nach der Schülerin werden auch die Detective Sergeant Sarah Michaels und ihr Kollege, Detective Constable Wayne Smith hinzugezogen. Eigentlich befinden sie sich nach der Bearbeitung eines anderen Falles auf dem Rückweg nach Sidney. Doch nun kommt alles anders. Am 30. November 2021 kommen sie nach Durton, vier Tage später wird ein im Boden vergrabener Fund entdeckt werden. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen schildert Hayley Scrivenor dabei aus verschiedenen Perspektiven.

Eine Krimi mit vielen Perspektiven

Hayley Scrivenor - Dinge, die wir brennen sahen (Cover)

Das macht diesen nach bekannten Strickmuster erzählten Krimi etwas variabel und ist wohl die größte Besonderheit des ansonsten konventionellen Stücks Kriminalliteratur. So wird die Polizeiarbeit aus der personalen Perspektive Sarahs erzählt, die neben der Ermittlung noch an der Trennung von ihrer Partnerin laboriert. Involvierte Kinder treten in Form der Schulfreundin Veronica „Ronnie“ Thompson und Lewis Campbell im Roman auf.

Während Ronnie aus der Ich-Perspektive auf ihr Verhältnis zur verschwundenen Esther blicken darf, kommt Lewis ebenso wie Sarah in der personalen Erzählform zu Wort. Daneben gibt es noch ein „Wir“, das chorisch erzählt auf die Geschehnisse im Ort blickt und sich immer wieder in die Erzählung einmischt.

Das ist klug gewählt, wäre der Krimi bei Verwendung einer einzigen Erzählperspektive doch reichlich fad, denn in Bezug auf die Motive bietet Dinge, die wir brennen sahen nicht viel Neues.

Die beiden Schüler*innen wissen mehr, als sie auf den ersten Blick zugeben. Sarah und ihr Kollege müssen sich in der Schule und den Familien umhören. Spuren gibt es wenig, dafür steht bald die Presse vor der Tür. Das sind alles Motive, die man aus anderen Krimis oder Fernsehfilmen schon dutzendfach kennt und die in ihrer Erzählweise außer des multiperspektivischen Erzählansatzes nicht wirklich überraschen. Dass hier zwei queere Beziehungen gestreift werden, ist zwar angesichts des Pridemonth und dessen Eintreten für queere Repräsentation eine nette Erzählidee und verdient Lob. Viel erwächst daraus nicht, außer dass zwei Personen durch ihr queeres Begehren in Gewissenskonflikte gestürzt werden.

Ein Debütroman mit Luft nach oben

Viele der Figuren, die Dinge, die wir brennen sahen bevölkern, bekommen nicht einmal solche inneren Konflikte zugestanden, sondern bleiben Staffage. Es gebricht Hayley Scrivenors Debüt stellenweise an der Nuancierung ihress Personals. Der Detective Constable bleibt dabei genauso blass wie etwa der Familientyrann der einfach böse ist, indem er seine Familie tyrannisiert und mit Drogen dealt. Auch andere Figuren können hier aus der Kulisse der australischen Kleinstadt nicht wirklich hervortreten und die schlussendliche Überführung des Täters wird auch eher pflichtschuldig abgehandelt. Ein bisschen Drogenschmuggel, ein bisschen Geheimnisse, ein bisschen klassische Ermittlungsarbeit, ein bisschen Spannung – aber auch nicht viel mehr.

Und obschon es so klingen könnte: Dinge, die wir brennen sahen ist beileibe kein schlechter Krimi. Aber von der australischen Gluthitze und den brennenden Dingen, die die deutsche Version des im Original schlicht Dirt Town lautenden Titels verspricht, von all dem findet sich im Krimi leider wenig. Das lässt dieses Buch zwar zu einem soliden, aber keinesfalls rundum überzeugenden Werk geraten.

Das fällt besonders auf, weil es in Down Under ja ein gutes Dutzend anderer Autor*innen gibt, die vormachen, wie so etwas aussehen kann, heißen sie Garry Disher, Candice Fox, Peter Papanathasiou oder Jane Harper In diese Riege schaffte es Hayley Scrivenor mit Dinge, die wir brennen sahen leider noch nicht. Ihr wäre es zu wünschen, dass sie in ihren kommenden Büchern den Mut beweist, sich von herkömmlichen Motiven und Plotanlagen wegzubewegen, um ihre Stimme im Konzert der anderen Krimiautor*innen etwas unverkennbarer werden zu lassen. Mit dem multiperspektivischen Erzählstil ist ein Ansatz ja schon vorhanden, diese könnte Scivenor noch gut ausbauen, um dann einen wirklich hitzigen Roman vorzulegen, in dem es dann auch mal wirklich brennen darf.


  • Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8479-0115-0 (Eichborn)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €
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Arno Frank – Seemann vom Siebener

Ein Tag im Freibad, der zum Brennglas aufs Leben wird. Arno Frank inszeniert in Seemann vom Siebener das Freibad als Wimmelbild und erzählt von Träumen, Tod und dem Wagnis, sich vom Sprungbrett in die Tiefe zu stürzen. Großartige Lektüre, nicht nur für den Sommer!


„Ich will den Seemann nicht vom Einer machen.“

„Sondern?“

Wortlos mache ich mit dem Daumen eine Aufwärtsbewegung.

„Vom Dreier? Respekt!“

Ich schüttele den Kopf: „Nicht vom Brett…“

„Vom Fünfer?“ Er packt mich an der Schulter und dreht meinen Oberkörper, sodass er mir direkt ins Gesicht sehen kann: „Bist du irre?“

Ich schüttele den Kopf, versuche ein Lächeln und schiebe sanft seine Hand von meiner Schulter: „Ich mache einen Seemann vom Siebener“.

Arno Frank – Seemann vom Siebener, S. 126

Es ist geradezu ein prototypisches Schwimmbad, welches Arno Frank in seinem Roman Seemann vom Siebener skizziert und das Erinnerungen an die eigene Kindheit weckt: Eine Liegewiese, Betonplatten, eine alte Linde, die Schatten spendet. Der Schwimmbad-Kiosk, ein Feld mit überlebensgroßen Schachfiguren, eine rote Pilzdusche im Kinderschwimmbereich – und vor allem ein echter Zehn-Meter-Sprungturm.

Das Freibad als Bühne des Lebens

Arno Frank - Seemann vom Siebener

So sieht es aus, das irgendwo in der Pfalz gelegene Freibad, das bei Arno Frank zur Bühne für die größeren und kleineren Dramen des Lebens wird. Wir schreiben Freitagmorgen bei bestem Wetter, es ist der letzte Freitag in den Sommerferien. Dem Freibad steht also ein Besucheransturm bevor, doch hiervon merken die Kassiererin Renate und Bademeister Kiontke, eine Art Faktotum des Bads, früh am Morgen noch wenig. Die Wassertemperatur wird per Kreide auf die Tafel aufgebracht, das Morgenmoderationsteam im Radio treibt seine Scherze – die meisten Gäste sind aber noch zuhause, wovon Arno Frank durch die multiperspektivische Erzählweise seines Romans berichtet.

Erst allmählich finden sie sich im Bad ein. Die schon demente ehemalige Lehrerin und zugleich Gattin des Schwimmbad-Erbauers, die Ich-Erzählerin, die der Plan eines Seemannsköpfer vom 7-Meter-Brett umtreibt. Josefine, der es nach Meinung einiger Badbesucher*innen besser zu Gesicht stehen würde, sich bei den Vorbereitungen der Trauerfeier denn beim Schwimmen im Bad zu betätigen.

Da ist Lennart, der nach Jahrzehnten der Absenz wieder in sein Heimatdorf zurückkehrt und im Freibad auf viele Jugenderinnerungen trifft. Die Kindergartengruppe mit ihrer Kindergärtnerin, der Kioskbetreiber und viele mehr. Wimmelbildgleich ergeben diese von jung bis alt reichenden Figuren an diesem Freitag einen Chor, der in verschiedenen Tonlagen und Stimmungen erzählt.

Leben und Tod, Sonne und Schatten

Da sind nicht ergriffene Chancen für die Liebe, da ist das Vergessen und zugleich Erinnerungen an die zurückliegende Partnerschaft, da sind Vorbehalte gegenüber Geflüchteten, da sind Bienenstiche und da ist Aufbruch. Bittersüß ist sie, diese Hommage an das Treiben im Freibad, die uns Arno Frank präsentiert.

Zwar strahlt die Sonne und das kühle Wasser verheißt Lebenslust, genauso sind aber auch die Schatten in Form von Tod, Suizid und Endlichkeit in diesem namenlosen Freibad präsent. Das ist großartig gemacht und in seiner Vielstimmigkeit ein Buch, das über eine platte Wie-schön-war-das-damals-im-Freibad-Verklärung weit hinausgeht, obwohl es sich natürlich für eine Lektüre im Bad empfiehlt. Aber über so kurze saisonale Dutzendware hinaus besitzt Seemann vom Siebener eben große Qualitäten, auch im literarischen Sinn.

Konnte mich Arno Frank mit seinem Debüt So, und jetzt kommst du, der Aufarbeitung seiner eigenen Biographie als Sohn eines Hochstaplers literarisch nicht wirklich überzeugen, muss ich doch feststellen, dass er sein erzählerisches Instrumentarium im Vergleich zu seinem Erstling deutlich geschärft hat. Souverän spielt er mit Motiven und Weiterführungen von Erzählfäden, bietet sein chorisch erzählter Episodenroman immer wieder kleine Aha-Momente, wenn zuvor Angeklungenes weitergeführt wird, wenn Menschen und Schicksale plötzlich ein Bild ergeben und selbst vermeintlich kleine Dinge auf Großes rückschließen lassen.

Ein Brennglas aufs Leben

Seine indirekten Porträts der Menschen, die Charakterisierung des Freibads als Brennglas der Gesellschaft, die genaue Schilderung aller Figuren im ganzen möglichen Altersspektrum, die Spannung ob des riskanten Sprungversuchs, die sich immer weiter steigert – und das alles innerhalb eines einzigen Tags inszeniert. Das wusste mir ausnehmend gut zu gefallen. Mal besitzt Seemann vom Siebener einen Hauch von „Tatsächlich… Liebe“, dann erinnert Franks Erzählung wieder an andere multiperspektivische Erzählprojekte wie etwa Robert Seethalers Das Feld.

Es ist ein Roman, aus dem man endlich lernt, dass es sich beim Sprungturm fälschlicherweise von einem Siebenmeter-Brett spricht, handelt es sich eigentlich einen 7,5-Meter hohes Brett. Zudem funktioniert das Buch aufgrund des detailliert beschriebenen Freibads wie eine Zeitkapsel, die eigene Erinnerungen an sonnendurchglühte Nachmittag mit Schwimmbad-Pommes, Slush-Eis und dem Hinfiebern auf die Freigabe des Sprungturms durch den Bademeister weckt.

Fazit

Seemann vom Siebener ist ein Roman für den Sommer – aber auch für weit darüber hinaus. Literarisch ambitioniert, groß in Sachen Emotionen und Kindheitserinnerung. So muss sie aussehen, die perfekte Freibadlektüre!


  • Arno Frank – Seemann vom Siebener
  • ISBN: 978-3-608-50180-3 (Tropen)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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