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Arno Frank – Ginsterburg

Hoffnung auf Größe, die wie Seifenblasen platzt. In seinem neuen Roman Ginsterburg zeichnet Arno Frank über eine Dekade hinweg den Weg Deutschlands in die Dunkelheit nach. Mit den Mitteln eines Kleinstadtromans erzählt er von den Jahren 1935 bis 1945, als auch in der fiktiven Kleinstadt die große Politik einschlug und Konsequenzen forderte.


Auf den ersten Seiten ist es ein Zirkus, der Einzug hält in der Kleinstadt Ginsterburg und der den Bewohnern und Bewohnerinnen dieser Stadt Abwechslung verheißt. Doch seine besseren Tage liegen schon lange hinter dem Zirkus. Ein Motorradfahrer, der vor jeder Steilwandfahrt sein Gefährt warten und reparieren muss, ein indischer Tiger, dessen Hauptbeschäftigung nurmehr der Schlaf ist, eine betagte Wahrsagerin, ein Seifenblasenzauberer, viel mehr hat der Zirkus nicht mehr aufzubieten.

Dennoch lässt sich der junge Lothar von der verheißungsvollen Magie der Artisten in der Stadt einnehmen und folgt den mit Rauch gefüllten Seifenblasen staunend, die als Ankündigung des Spektakels in den Himmel entschweben, ohne zu zerplatzen.

Dies wird so ziemlich das Einzige sein, das auf den folgenden 420 Seiten nicht zerplatzt. Denn in seinem neuen Roman blickt Arno Frank tief hinein in die dunklen Jahren Deutschlands, als Scharlatane, Blender, Karrieristen und Verführer das „Dritte Reich“ ausriefen und mit der Unterstützung der Bevölkerung das Land abermals in Tod und Leiden stürzten.

Ginsterburgs Weg ins Verderben

Arno Frank - Ginsterburg (Cover)

Auch in Ginsterburg lässt sich diese Entwicklung nachvollziehen. Dafür wählt Arno Frank einen dreiteiligen Erzählansatz, indem er zunächst vom Jahr 1935 in Ginsterburg erzählt, gefolgt von Sprüngen in die Jahre 1940 und 1945. Zunächst scheint noch alles geregelt, der junge Lothar singt im Kirchenchor, seine Mutter Merle bietet als Buchhändlerin neben erwünschten Büchern wie Barb – eine deutsche Frau auch Ricarda Huch an und begeistert sich als Leserin für die Bücher Friedells, Remarque oder Alice Behrend. Der steile Walter betreibt ein Kino und Blumengroßhändler Gürckel hat sein Geschäftsfeld weit über seinen Blumengroßhandel ausgedehnt und ist zum NSDAP-Kreisleiter und zum Bürgermeister der Stadt im Schatten des mit Gargoyle-Wasserspeiern geschmückten Münsters aufgestiegen.

Hier schon zeigen sich die ersten Anzeichen, des bald folgenden Kriegs. Die Zwillinge des Bürgermeisters paradieren in ihren Nazi-Uniformen, auf Merles Schaufenster werden in Ermangelung von nennenswerten jüdischen Geschäften Hakenkreuze geschmiert, wer kann, ist schon geflohen oder hat Suizid begangen, wie der Chefradakteur des Ginsterburger Boten, für den auch Eugen von Wieland schreibt, der außerdem mit Merle eine Affäre pflegt.

Der schon in seinem letzten Roman Seemann vom Siebener erprobte Ansatz des multipersonalen Erzählens findet auch in Ginsterburg wieder Anwendung. Immer wieder begegnen sich die Figuren im kleinen Städtchen, suchen sie ihren eigenen Vorteil oder das kleine Glück und entwickeln sich über die zehn Jahre. Merles Sohn Lothar etwa wird vom scheuen und verträumten Jungen zu einem vielgerühmten Kampfflieger, Gürckel wird von seiner Frau für einen Nazi-Goldfasan verlassen, nur damit sie später hochherrschaftlich zu ihm zurückfindet, während er sich in der Zwischenzeit das kleine Ginsterburger Schloss mit Tiepolo-Kunst angeeignet hat.

Große Geschichte in der Kleinstadt

Im Kleinen erzählt Arno Frank, was sich im Großen in diesen Jahren überall in Deutschland abspielte. Bereicherung, Hass und Hetze, Verfolgung Andersdenkender, Mitläufer und privater Widerstand, Verlobung, Tode und Schlachten, all diese Facetten greift Ginsterburg auf

Nicht alles ist dabei ganz rund. Der zu Beginn groß eingeführte Zirkus verschwindet abgesehen von kleinen rekurrierenden Momenten aus der Handlung, auch die auf den Seiten eingeführte Vorschau auf die Tode von einigen Figuren gibt Arno Frank als Stilmittel schnell auf und beachtet diese Form des Erzählens im Folgenden kaum. Hier liegt sicher noch etwas erzählerisches Potential, das Arno Frank in einer etwas stringenteren Form mit weiteren Romanen noch ausschöpfen könnte.

Ihm fehlt in einigen Passagen auch etwas die Konsequenz für die Folgen des Bösen, die Eva Menasse in Dunkelblum an den Tag legte, in dem sie das Dunkle der Schuld schmerzhaft hell ausleuchtete. Wenn dann aber die Brandbomben auch auf Ginsterburg fallen, dann ist man mit den kleineren Mängeln versöhnt und beobachtet atemlos die Folgen dessen, was die Kleinstadt über die Jahre zuvor mit ihrem Verhalten heraufbeschworen hat.

Auch lobenswert ist der Umstand, dass sich Arno Frank über die Sprache Gedanken gemacht hat, mit der er sein Personal sprechen lässt. Hier gibt es noch das Fräulein, Heranwachsende hecken Bubenstücke aus und man kommt direktemang zur Sache. Das verleiht Ginsterburg auch sprachlich eine Authentizität, die die Fiktion dieser Kleinstadt ein ganzes Stück weit wieder vergessen macht und die auch über die schreckliche Künstlichkeit des KI-generierten Covers hinweghilft.

Fazit

Das Platzen von Träumen, das Fallen von Bomben, die Zerstörung aller Illusionen – das beschreibt Arno Frank auf lesenswerte Art und Weise und zeigt sich damit als Schriftsteller noch einmal ein ganzes Stück gereift. Interessant montiert und sprachlich authentisch ist Ginsterburg ein Lehrstück über die Kräfte des Bösen und die Konsequenzen, die diesen folgen, egal ob in der Kleinstadt Ginsterburg oder im Großen. Das macht dieses Buch unbedingt lesens- und diskussionswert!


  • Arno Frank – Ginsterburg
  • ISBN 978-3-608-96648-0 (Klett Cotta)
  • 432 Seiten. Preis: 26,00 €
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Richard Russo – Von guten Eltern

Zurück in North Bath. In seinem mittlerweile dritten Roman, der in der fiktiven US-amerikanischen Kleinstadt angesiedelt ist, lässt Richard Russo Kinder sich mit ihren Eltern auseinandersetzen, treffen ganz unterschiedliche Bewohnerinnen und Bewohner von North Bath aufeinander und zerplatzen manch große Erwartungen. Wieder gelingt Russo mit Von guten Eltern eine tolle Sezierung des Kleinstadt-Bürgertums und damit auch der amerikanischen Seele, die diesmal allerdings etwas braucht, bevor sie in Fahrt kommt.


Nachdem der Kölner Dumont-Verlag zuletzt Backlist-Pflege betrieb und mit Mohawk den Debütroman aus dem Schaffen Richard Russos veröffentlichte, gibt es nun mit Von guten Eltern wieder einen neuen Roman zu lesen, den das Thema des Kleinstadtromans mit dem Frühwerk aus dem Jahr 1986 verbindet.

Auch wenn mit knapp vierzig Jahren viel Zeit zwischen den Romanen vergangen ist, so teilen das erste und das neueste Werk über die Zeit hinweg viele Dinge miteinander. So ist es die Form des Kleinstadtromans, die Russo auch hier wieder aufgreift und mit der er zum inzwischen dritten Mal zurückkehrt in das kleine fiktive Städtchen North Bath, das sich weiterhin im Niedergang befindet.

Bekannte Figuren in bekannter Umgebung

Mittlerweile ist das Städtchen sogar soweit heruntergewirtschaftet, dass es vor der Eingemeindung mit ewigen Rivalen, dem ungleich prosperierenderen Schuyler Springs, steht. Allen voran Charice Bond, die Freundin des im zweiten North-Bath-Romans Ein Mann der Tat im Mittelpunkt stehende Polizeichef Douglas Raymer, ist von diesen Neuerungen betroffen, soll sie doch neue Polizeichefin in Schuyler Springs werden.

Richard Russo - Von guten Eltern (Cover)

Sie ist wie auch Douglas Raymer eine der zentralen Figuren, die Russo hier über vier Tage hinweg aufeinander treffen, sich verstehen und missverstehen lässt. Daneben gesellt sich eine weitere Riege typischer Russo-Figuren zu dem Ganzen, etwa der aus dem ersten North Bath-Roman Ein grundzufriedener Mann bekannte Donald „Sully“ Sullivan, der aber schon kurz nach Beginn des Romans stirbt, woraufhin sein Sohn Peter den Platz seines Vaters einnimmt.

Auch ein Dinner als Bühne der großen und kleinen Dramen des Lebens spielt wieder eine Rolle, das hier allerdings nicht auf den Namen Mohawk-Dinner hört. Geführt wird es von Janey, die wiederum mit einem Polizisten liiert ist, über den diesmal auch das Thema der Polizeigewalt in den Roman hineinfindet.

Von Kindern und ihren Eltern

Neben solchen Themen ist es vor allem das Thema der generationalen Konflikte und Verhaltensmuster, das Richard Russo in diesem Roman interessiert. Denn nicht nur Peter Sullivan kämpft darum, sich von dem väterlichen Erbe zu emanzipieren, um dann dem Schicksal doch nicht wirklich entkommen zu können.

Die Diner-Besitzerin Janey findet sich gleich in Sandwich-Position zwischen Sorgen um ihre Tochter Tina und ihre Mutter Ruth. Und selbst, wenn da keine Eltern präsent sind wie im Falle des nun abdankenden Polizeichefs Douglas Raymer, dann sind auch da Prägungen, die dieser dann eben durch die mittlerweile verstorbene Lehrerin Miss Beryl erfährt. Ihrer Erziehung und einem programmatischen Buchgeschenk in Form von Charles DickensGroße Erwartungen wird dem Polizeichef an diesem besonderen Wochenenden nicht entkommen können.

Prägungen

Prägungen, vorgelebte Rollenmuster und vergebliche Versuche der Emanzipierung durchziehen Von guten Eltern. Bis diese Muster dann so wirklich zur Geltung kommen, vergeht hier einige Zeit, die Russo für seine Exposition benötigt. Und statt sich auf eine Figur zu konzentrieren, entscheidet sich Russo diesmal für einen multiperspektivischen Erzählansatz, in dem ein halbes Dutzend an Figuren gleichberechtigt nebeneinandersteht und immer wieder die Handlung der anderen Kapitel unterbricht, ehe zu Interferenzen zwischen den Erzählungen kommt.

Da gerät der zu untersuchende Suizid, der sich in einem heruntergekommenen Hotel zugetragen hat, das auf den schön ironischen Namen Sans Souci hört, fast zur Nebensache.

Alles das sind erzählerische Entscheidungen, die mich nicht so einfach durch die Seiten fliegen ließen, wie es Russo bei seinen anderen Bücher durchaus schon gelungen ist. Natürlich ist auch hier viel Wärme für seine schrulligen Figuren, guter Sinn für Humor und Skurrilität, aber durch die Fülle an Personal fehlt Von guten Eltern manchmal etwas von dieser Leichtigkeit, die Richard Russos Schreiben sonst kennzeichnet.

Fazit

Als Fortführung seines North-Bath-Zyklus ist Von guten Eltern auch ohne Kenntnis der anderen beiden Bände sehr gut zu lesen, gibt es doch innerhalb der vier Tage viel Abwechslung, Chaos und Turbulenzen. Aber über das Niveau der ersten beiden, ganz großartigen Bände, kommt Russos dritte Stippvisite in der fiktiven Kleinstadt nicht hinaus. So haben sich meine großen Erwartungen an das Buch ein Stück weit zerschlagen.

Das ist überhaupt nicht schlimm, sind diese vorher genannten Werke von Richard Russo doch in der oberen Liga amerikanischer Gegenwartsliteratur angesiedelt. Und auch dieser Roman bewegt sich wieder im Spannungsfeld der üblichen Figuren und Kleinstadtdramen – aber wirklich Überraschendes für seine Fans und Afficionados weiß Richard Russo hier leider nicht aufzubieten.


  • Richard Russo – Von guten Eltern
  • Aus dem Englischen von Monika Köpfer
  • ISBN 978-3-8321-6813-1 (Dumont)
  • 576 Seiten. Preis: 28,00 €
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Karel Poláček – Die Bezirksstadt

Als die Uhren noch etwas anders gingen. In Die Bezirksstadt kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs nimmt uns der heute schon fast völlig vergessene Karel Poláček mit und zeigt ein beschauliches böhmisches Städtchen, das von der Nachricht des Kriegs schließlich aus seinem Schlummer gerissen wird.


Irgendwo in Böhmen steht sie, Die Bezirksstadt. Von der Hautpstadt Prag ist sie ebenso weit weg wie der Alltag dort von der Hektik unserer Tage. Ein Buchhändler mit Dackel, zwei verfeindete Krämer, vor den Toren ein Armenhaus, ein Friseur und ein Apotheker, bei dem sich abends die in Capes gehüllten Stadtoberen zu einem Gläschen Likör versammeln. Das sind die Einwohner und Institutionen, die die namenlose Bezirksstadt in Poláčeks Roman aus dem Jahr 1936 kennzeichnen.

Man könnte glatt von Beschaulichkeit sprechen – aber in den Augen der Bewohner*innen wäre das mehr als falsch. Denn es tut sich einiges dort im Lauf der beschriebenen Handlung, die im Jahr 1913 einsetzt und bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs reicht.

Willkommen in der Bezirksstadt

Da brennt ein Etablissement vor den Toren der Stadt nieder, da wird geheiratet (und kurz darauf die Flucht vor dem eigenen Ehemann gen Prag angetreten), die Krämer intrigieren gegeneinander, wie es Goscinny und Uderzo in ihrem kleinen gallischen Dorf schöner nicht hätten in Bilder bannen können, da wird ein rauschendes Fest gegeben, wenn sich der lokale Abgeordnete ankündigt.

Karel Poláček - Die Bezirksstadt (Cover)

Karel Poláček spannt einen großen Bogen in seinem Roman auf, der zugleich einen präzisen Schnitt durch die böhmische Kleinstadtgesellschaft kurz nach der Jahrhundertwende darstellt. Vom Bettler bis zum Abgeordneten, vom Lehrer bis zum Studente reicht das Panoptikum an Figuren und Lebenswelten.

Der 1892 geborene Poláček zeigt in Die Bezirksstadt den grassierenden Antisemitismus, die Fortschrittsfeindlichkeit alter Eliten genauso wie die sich wandelnde Mode und den Aufbruchsgeist junger Menschen, was des Öfteren zu explosiven Szenen führt, etwa wenn der Kaufmann Štědrý seinen Sohn, der in der fernen Stadt studiert, für dessen geckenhafte Auftreten nach jüngster Mode maßregelt.

Es sind Szenen von großer Komik, mit der Poláček sein etwas hinterwäldlerisches Dorfpersonal liebevoll karikiert. Familien, in der die Lektüre von Jules Vernes Fünf Wochen im Ballon zu sinnstiftenden Angelegenheit wird, die Streitereien und rituellen Beleidigung der Männer, die eigenwilligen Bettler*innen, die dann immer wieder vom jähzornigen Verwalter Wagenknecht gepiesackt werden, und so weiter und so fort.

Humorvoller Roman, trauriges Schicksal seines Verfassers

Es ist ein großer Spaß, Die Bezirksstadt mit ihrem Clash of Cultures und ihrem Clash of Minds zu lesen. Der Spaß bekommt allerdings eine bittere Note, wenn man vom Schicksal Karl Poláčeks erfährt, das der Übersetzer und Herausgeber Antonín Brousek im Nachwort des Romans schildert.

Er erfuhr den Antisemitismus, den er in seinem Buch so kongenial demaskiert, am eigenen Leibe. Als jüdischer Redakteur würde er während des Zweiten Weltkriegs mit einem Schreibverbot belegt. Später kam er ins Konzentrationslager in Theresienstadt, wo er sich mit dem Schreiben von Sketchen und einem Fortsetzungswerk eines seiner großen Romanerfolge hervortat. Doch die Zeit dort unter jüdischer Selbstverwaltung im Lager fand sein Ende, als Poláček und seine Frau ins KZ Auschwitz deportiert wurden. Seine Frau wurde unmittelbar nach der Musterung an der Rampe dort ermordet, Poláček selbst wurde im Jahr 1945 dann auf einem Todesmarsch erschossen.

Das Jüdische in seinem Schreiben, seine literarischen Erfolge und seinen Nachruhm beleuchtet Brousek in seinem Nachwort genau. Er erzählt vom vielfältigen literarischen Schaffen des tschechischen Autors, in dem Die Bezirksstadt eine herausragende Rolle einnimmt. Die biographischen Ursprünge und der Berührungspunkte in diesem Werk arbeitet der Übersetzer genauso heraus, wie er das fiktive Städtchen und dessen angebliche Kulturlosigkeit noch einmal unter eine genaue Leselupe nimmt.

Fazit

Mit Die Bezirksstadt holen der Reclamverlag und der Herausgeber Antonín Brousek einen hierzulande völlig unbekannten Autor aus unserem tschechischen Nachbarland zurück ans Licht der Öffentlichkeit. Es ist mit Karel Poláček ein Autor mit einem großen Gespür für Land und Leute zu entdecken, der in Die Bezirksstadt gekonnt von den kleinen und großen Dramen des Lebens, von Bettlern, Abgeordneten und Kaufleuten erzählt – eben dem, was das Leben dort in dem verschlafenen Städtchen kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs so ausmachte. Eine wirkliche Entdeckung und ein grandioser Kleinstadtroman!


Hinweis: das Buch ist leider nur noch antiquarisch erhältlich. Die hier angegebene ISBN bezieht sich auf die E-Book-Ausgabe des Titels.

  • Karel Poláček – Die Bezirksstadt
  • Herausgegeben und aus dem Tschechischen übersetzt von Antonín Brousek
  • ISBN 978-3-15-961396-3 (Reclam)
  • 384 Seiten. Preis: 20,99 €
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Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens

Was kannst du anderes sein, wenn es doch nichts gibt, wohin du zurückkehren kannst?

Terézia Mora – Muna

In ihrem neuen Roman seziert Terézia Mora die eine Hälfte einer toxischen Liebe – und die Hälfte des Lebens ihrer Heldin. Beeindruckende Lektüre, die ganz tief hineingeht in ein Beziehungsgefüge und einer Anziehung nachspürt, für die es keine rationale Erklärung gibt.


M. Otto, so ist ein Foto signiert, das der Schülerin Muna bei ihrer ersten Redaktionssitzung eines kleinen Untergrundmagazins ins Auge fällt. Sie, die sie eigentlich Redakteurin werden möchte, findet nach einem absolvierten Praktikum bei der Zeitung ihres Heimatstädtchens Jüris Aufnahme beim Dreimannbetrieb des Magazins, wo sie Texte beisteuern soll und zum ersten Mal der Fotografien des mysteriösen M.Otto ansichtig wird. Hinter dem Pseudonym des Fotografen verbirgt sich Magnus Otto, der als Lehrer am Französischen Gymnasiums arbeitet.

Eine Faszination namens Magnus

Schon diese ersten Fotos lösen in Muna eine große Neugier und Faszination aus. Die Statuen, die auf den Fotos zu sehen sind, befinden sich an versteckten Plätze ihrer ostdeutschen Heimatstadt Jüris – und Muna beschließt, die Orte aufzusuchen, um dem Fotografen so näherzukommen. Doch nicht nur die Kunst Magnus Ottos fasziniert sie – auch die Person selbst ist es, die vom ersten Moment an im Fokus ihrer Aufmerksamkeit steht.

Terézia Mora - Muna oder Die Hälfte des Lebens (Cover)

Muna, die als Tochter einer stark dem Alkohol zuneigenden Schauspielerin mit Engagement am Theater Jüris ohne Vater aufwächst, sucht in Magnus einen Seelenverwandten, dem sie in der Folge immer wieder begegnen wird. Nach einem Suizidversuch ihrer Mutter so gut wie alleine auf der Welt, projiziert sie ihren Wunsch nach Bindung auf Magnus.

Während sie der Schule entwächst und später zum Studium nach Berlin aufbricht, nach dem Mauerfall dort und in vielen weiteren Städten, darunter London, Wien und später auch in Basel leben wird, ist Magnus stets präsent, ob anwesend oder abwesend.

So beginnen die beiden eine Beziehung – oder vielleicht sollte man besser von einer Affäre sprechen. Magnus verschwindet aus ihrem Leben, um Muna dann wieder bei einer anstrengenden Theateraufführung in Berlin zufällig zu begegnen, wo er ebenfalls im Publikum sitzt. Sie probieren, an ihre Beziehung/Affäre anzuknüpfen, doch die Zeichen stehen dafür nicht gut. So antwortet Magnus auf das Begehren Munas mit Rückzug und Flucht – entzieht sich ihr immer wieder – und begegnet ihrem Wunsch nach Nähe auch mit Gewalt, was Muna in ihrem Wunsch aber nicht abschreckt.

Liebe, Gewalt, Anziehung und Abstoßung

Um ihrem akademischen Freund auf Augenhöhe zu begegnen, strebt Muna derweil ebenfalls eine akademische Karriere an, studiert, arbeitet in einem Verlag in Wien für die Wiederentdeckung vergessener Autorinnen, versucht eine Dissertation voranzutreiben – und doch ist die Beziehung von Magnus und Muna eine, die nie auf Augenhöhe stattfinden wird.

Das seziert Terézia Mora in ihrem Roman ganz deutlich. Eng ist man dran an der Erzählerin Muna, die sich nach Magnus verzehrt, ihn an sich binden möchte und so auch nie wirklich von ihm loskommt – er ist eine Hälfte ihres Lebens, dem sie auch eine ganze Hälfte ihres ganzen Lebens schenken wird.

Immer wieder beherrschen Gedanken an ihn ihre Überlegungen, lenken sie von ihrem eigenen Vorankommen ab und verheißen ihr die Illusion einer Zukunft, die es so nicht geben wird.

Schläge, Aggression, schließlich sogar körperlicher Abbau und ein gefährlich naher Schritt an den Abgrund des Wahnsinns – all das löst dieser Magnus in Muna aus, womit man eigentlich alle Anzeichen einer toxischen Beziehung beisammen hat. Es ist eine gefährliche Beziehung, die Muna zwar nicht guttut, von Terézia Mora aber absolut nachvollziehbar und plausibel geschildert wird.

Eine toxische Beziehung

Wie kommt es zu einer solchen Beziehung, in der man selber nicht mehr für sein Glück entscheidend ist, sondern der Gegenüber? Was bleibt, wenn man sein Leben auf ein Gegenüber ausgerichtet hat, das den eigenen Erwartungen und Hoffnungen immer wieder zuwiderläuft? Das sind Überlegungen, die hinter Terézia Moras Muna oder Die Hälfte des Lebens aufscheinen.

Die Welt Munas mitsamt dem Aufwachsen im kleinbürgerlichen Jüris hinter dem Eisernen Vorhang, der Aufbruch nach Berlin und das gemeinschaftliche Leben in einer Villa, der akademische und literarische Betrieb, all das ist treffend und sehr genau gezeichnet. Der zentrale Punkt des Romans aber – also die Motivation der Anziehung Munas hin zu Magnus – bleibt dabei leer.

Das ist die große Stärke dieses Romans, der auf einfache Antworten und Charakterisierungen verzichtet. Der sich entziehende Magnus, der Gewaltexzess in der Beziehung der beiden, Muna, deren Verehrung von Magnus‘ und deren Hinterherlaufen geradezu an eine hündische Verehrung grenzt, das alles wird durch Munas Erzählperspektive ungefiltert erzählt und lässt manchmal einen möglichen korrigierenden Eingriff durch die Leser*innen notwendig erscheinen, der freilich ausbleiben muss. Es ist ein Roman, der all der weiblichen Selbstermächtigung, die in letzter Zeit verstärkt auf dem Buchmarkt präsent war, entgegenläuft und so einen ganz eigenen Ton entwickelt.

All das macht aus Muna oder Die Hälfte des Lebens eine wirklich eindrückliche Angelegenheit, was auch die Nominierung für die Shortlist des Deutschen Buchpreises folgerichtig erscheinen lässt.


  • Terézia Mora – Muna oder Die Hälfte des Lebens
  • ISBN 978-3-630-87496-8 (Luchterhand)
  • 448 Seiten. Preis: 25,00 €
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Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen

Australien, unerschöpfliche Quelle der Kriminalliteratur. Mit Hayley Scrivenor präsentiert der Eichborn-Verlag eine weitere Autorin aus Down Under, der mit ihrem Debüt Dinge, die wir brennen sahen ein ordentlicher, aber keinesfalls hitziger Krimi gelingt.


Dirt Town. So wird das kleine australische Städtchen Durton von seinen Bewohnern, besonders der Jugend geheißen. Wenig ist hier los auf dem australischen Land. Doch dann verschwindet die Schülerin Esther Bianchi auf dem Nachhauseweg von der Schule – und die Sorge ist groß.

Für die Suche nach der Schülerin werden auch die Detective Sergeant Sarah Michaels und ihr Kollege, Detective Constable Wayne Smith hinzugezogen. Eigentlich befinden sie sich nach der Bearbeitung eines anderen Falles auf dem Rückweg nach Sidney. Doch nun kommt alles anders. Am 30. November 2021 kommen sie nach Durton, vier Tage später wird ein im Boden vergrabener Fund entdeckt werden. Die Zeit zwischen diesen Ereignissen schildert Hayley Scrivenor dabei aus verschiedenen Perspektiven.

Eine Krimi mit vielen Perspektiven

Hayley Scrivenor - Dinge, die wir brennen sahen (Cover)

Das macht diesen nach bekannten Strickmuster erzählten Krimi etwas variabel und ist wohl die größte Besonderheit des ansonsten konventionellen Stücks Kriminalliteratur. So wird die Polizeiarbeit aus der personalen Perspektive Sarahs erzählt, die neben der Ermittlung noch an der Trennung von ihrer Partnerin laboriert. Involvierte Kinder treten in Form der Schulfreundin Veronica „Ronnie“ Thompson und Lewis Campbell im Roman auf.

Während Ronnie aus der Ich-Perspektive auf ihr Verhältnis zur verschwundenen Esther blicken darf, kommt Lewis ebenso wie Sarah in der personalen Erzählform zu Wort. Daneben gibt es noch ein „Wir“, das chorisch erzählt auf die Geschehnisse im Ort blickt und sich immer wieder in die Erzählung einmischt.

Das ist klug gewählt, wäre der Krimi bei Verwendung einer einzigen Erzählperspektive doch reichlich fad, denn in Bezug auf die Motive bietet Dinge, die wir brennen sahen nicht viel Neues.

Die beiden Schüler*innen wissen mehr, als sie auf den ersten Blick zugeben. Sarah und ihr Kollege müssen sich in der Schule und den Familien umhören. Spuren gibt es wenig, dafür steht bald die Presse vor der Tür. Das sind alles Motive, die man aus anderen Krimis oder Fernsehfilmen schon dutzendfach kennt und die in ihrer Erzählweise außer des multiperspektivischen Erzählansatzes nicht wirklich überraschen. Dass hier zwei queere Beziehungen gestreift werden, ist zwar angesichts des Pridemonth und dessen Eintreten für queere Repräsentation eine nette Erzählidee und verdient Lob. Viel erwächst daraus nicht, außer dass zwei Personen durch ihr queeres Begehren in Gewissenskonflikte gestürzt werden.

Ein Debütroman mit Luft nach oben

Viele der Figuren, die Dinge, die wir brennen sahen bevölkern, bekommen nicht einmal solche inneren Konflikte zugestanden, sondern bleiben Staffage. Es gebricht Hayley Scrivenors Debüt stellenweise an der Nuancierung ihress Personals. Der Detective Constable bleibt dabei genauso blass wie etwa der Familientyrann der einfach böse ist, indem er seine Familie tyrannisiert und mit Drogen dealt. Auch andere Figuren können hier aus der Kulisse der australischen Kleinstadt nicht wirklich hervortreten und die schlussendliche Überführung des Täters wird auch eher pflichtschuldig abgehandelt. Ein bisschen Drogenschmuggel, ein bisschen Geheimnisse, ein bisschen klassische Ermittlungsarbeit, ein bisschen Spannung – aber auch nicht viel mehr.

Und obschon es so klingen könnte: Dinge, die wir brennen sahen ist beileibe kein schlechter Krimi. Aber von der australischen Gluthitze und den brennenden Dingen, die die deutsche Version des im Original schlicht Dirt Town lautenden Titels verspricht, von all dem findet sich im Krimi leider wenig. Das lässt dieses Buch zwar zu einem soliden, aber keinesfalls rundum überzeugenden Werk geraten.

Das fällt besonders auf, weil es in Down Under ja ein gutes Dutzend anderer Autor*innen gibt, die vormachen, wie so etwas aussehen kann, heißen sie Garry Disher, Candice Fox, Peter Papanathasiou oder Jane Harper In diese Riege schaffte es Hayley Scrivenor mit Dinge, die wir brennen sahen leider noch nicht. Ihr wäre es zu wünschen, dass sie in ihren kommenden Büchern den Mut beweist, sich von herkömmlichen Motiven und Plotanlagen wegzubewegen, um ihre Stimme im Konzert der anderen Krimiautor*innen etwas unverkennbarer werden zu lassen. Mit dem multiperspektivischen Erzählstil ist ein Ansatz ja schon vorhanden, diese könnte Scivenor noch gut ausbauen, um dann einen wirklich hitzigen Roman vorzulegen, in dem es dann auch mal wirklich brennen darf.


  • Hayley Scrivenor – Dinge, die wir brennen sahen
  • Aus dem Englischen von Andrea O’Brien
  • ISBN 978-3-8479-0115-0 (Eichborn)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €
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