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Henning Sußebach – Anna oder: Was von einem Leben bleibt

Ja was ist es, das von einem Leben bleibt? Spuren, Fotos, Vermächtnisse geben Hinterbliebenen eine Ahnung davon, wer der Mensch war, der da gegangen ist. Was aber, wenn der Tod einer Person schon fast hundert Jahre zurückliegt, niemand mehr lebt, der der Toten je begegnet ist und sich so gut wie nichts erhalten hat, das einen Eindruck von der Person geben könnte, die einst gelebt hat?

In seinem Buch Anna oder: was von einem Leben bleibt macht sich Henning Sußebach daran, das Leben seiner 1932 verstorbenen Urgroßmutter zu rekonstruieren, um sie so auch stellvertretend für andere Menschen dieser Generation wenigstens ein Stück weit dem Vergessen zu entreißen. Was er dabei zutage fördert, ist die Biografie einer resilienten Frau, deren Leben von jenem Fortschritt kündet, der die Gesellschaft erst deutlich später erreichen sollte.


Kein Tagebuch, nur ein paar Notizbücher, Fotos, Briefe, Kaffeeservice, Verlobungsring und ein paar weitere Hinterlassenschaften, mehr hat sich nicht erhalten an Spuren von Anna, der Urgroßmutter des Journalisten Henning Sußebachs. Ausgehend von diesen kümmerlichen Spuren begibt er sich auf die Mission, wenigstens in Ansätzen ihr Leben und die Lebenswelt zu rekonstruieren, in der sich diese Frau bewegt hat. Dies tut er immer auch mit dem Blick von heute, der um die Probleme und eigenen Unzulänglichkeiten der Interpretation vergangener Zeiten und vergangener Leben weiß.

Anna lebte in heute schwer fassbaren, unübersichtlichen Zeiten, womöglich zu wirr und widersprüchlich für ein klares Bild, das die Jahre überdauert. Sie war Bürgerin von vier Staaten. Königreich Preußen, Norddeutscher Bund, Deutsches Kaiserreich, Weimarer Republik. Sie durchlebte Währungsreformen, Börsencrashs und Inflation. Sie war Zeugin, als ein großer Krieg den Kontinent verheerte, als Monarchien stürzten und eine junge Demokratie um ihre Existenz kämpfte. Sie erlebte mit, wie die Industrialisierung einigen Wohlstand brachte und andere ins Elend rutschen ließ. Sie las von Männern, die sich in wackligen Fluggeräten an die Eroberung des Himmels machten. Sie sah die ersten Autos fahren. Sie hörte, wie plötzlich Stimmen von Radiowellen übertragen wurden.
Anna war dabei, als die Welt sich weitete, die Räume für eine Frau wie sie aber eng blieben.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 8 f.

Auf den Spuren der eigenen Urgroßmutter

Henning Sußebach - Anna oder: was von einem Leben bleibt (Cover)

Anhand einiger Fotos und den biografischen Spuren fühlt sich Sußebach in das Leben seiner Urgroßmutter ein, das nicht nur von zeitlichen Umbrüchen gekennzeichnet war, sondern in dem sie auch selbst den Zerfall von sicher Geglaubtem erfuhr.

So arbeitete sie in jungen Jahren als Lehrerin im tiefsten Sauerland und trat mit 20 Jahren diesen Dienst im Dörfchen Cobbenrode an, in dem sie als alleinstehende Frau die stete Verfügung durch die Männer des Dorfs erfahren haben muss. Aber durch Heirat und stete Arbeit brachte es die 1867 geborene Frau zur angesehenen Besitzerin des wenige Jahre zuvor errichteten Postamtes, dessen Betreiberin sie wurde. Während in den Ländern Europas langsam eine Frauenbewegung erstarkte und Rechte für sich einforderte, war davon in Cobbenrode noch wenig zu merken.

Und doch setzt sich Anna gegen viele Widerstände durch, die es privat wie auch gesellschaftlich zu dieser Zeit zu überwinden gab – und die auch heute noch nicht ganz verschwunden sind. Eine Ehe, die nur nach 90 Tagen ihr tragisches Ende fand, danach eine unkonventionelle Partnerwahl, auch der Aufstieg zur selbstständigen Unternehmerin, die als Postbevollmächtige die Poststation des Dorfs betrieb – mit all dem zeigte sich Anna als widerstandsfähig und selbstermächtigend, was ihr Leben auch über hundert Jahre nach ihrem Tod so interessant und geradezu zu einem Vorbild macht, was die unbeirrte Verfolgung des eigenen Lebensweges anbelangt.

Fortschritt und Widerstandskraft

Aufstieg und private Schicksalsschläge vermengen sich im Leben Annas, die doch nie aufgibt und sich von Widerständen nicht aufhalten lässt, wie Henning Sußebach in seinem Buch zeigt.

Auch der Zeitkontext spielt eine wichtige Rolle. So bettet der für die Wochenzeitung Die Zeit tätige Journalist das Leben und die wichtigen Schritte in Annas Leben immer wieder in das jeweilige historische Zeitgeschehen ein. Er blickt auf die parallel zum Leben Annas stattfindenden Entwicklungen weltweit, die auch einen Fortschrittsgeist atmen, bei der wie in der übrigen Geschichtsschreibung für Frauen aber nicht viel Platz ist.

1878 – weit außerhalb von Annas Radius bedeutet das:
In Berlin werden zwei Attentate auf Kaiser Wilhelm I. verübt. (…)
In New Jersey an der Ostküste der Vereinigten Staaten arbeitet der Erfinder Thomas Alva Edison an Glühbirnen für elektrisches Licht. In Paris stellt ein Bildhauer den Kopf einer Freiheitsstatue vor, die Frankreich dem Verbündeten jenseits des Atlantiks schenken will.
Ein Baron bricht auf, um als erster Seefahrer das Polarmeer nördlich des russischen Kaiserreichs zu durchfahren, die Nordostpassage.
Im Osmanischen Reich beginnt der Archäologe Carl Humann mit Ausgrabungen auf dem Burgberg der antiken Stadt Pergamon.
Männer, Männer, Männer.

Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt, S. 31 f.

Ergänzt um Dokumente wie die damals geltende Schulordnung in Cobbenrode oder Auszüge aus Schulbüchern entsteht ein dichter, reflektierter Text, der den Geist jener Zeit gut vermittelt. Auch bricht der Text die Männerzentrierung der Geschichtsschreibung auf und zeigt mit dem exemplarischen Blick auf das vergessene Leben von Anna, wie viel Tiefe, Kraft und Fortschrittsgeist auch an Orten und in Leben von heute vergessenen Personen zu finden ist, die die Geschichtsschreibung sonst eher übersieht und wo man es kaum erwartet. Zudem entdeckt Sußebach seine Urgroßmutter als Quelle dessen, was heute unter dem Wort der „Resilienz“ firmiert.

Fazit

Anna oder: was von einem Leben bleibt setzt dem Leben Annas ein Denkmal und zeigt, was wir durch das Vergessen und Nicht-mehr-Erinnern an Personen der Geschichte drei oder vier Generationen vor uns eigentlich verlieren. Sein liebevoller und bedachter Blick auf die eigene Urgroßmutter entreißt diese wirklich dem Vergessen und zeigt sie als widerstandskräftige, bereits damals emanzipierte und unkonventionelle Frau

Nicht zuletzt ist Sußebachs Buch auch eine Einladung zur Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte und zum Blick auf die Leistungen und Leben der eigenen Vorfahren. Dass sich diese Beschäftigung lohnen kann, das unterstreicht Anna oder: was von einem Leben bleibt auf eindrucksvolle Art und Weise!


  • Henning Sußebach – Anna oder: was von einem Leben bleibt
  • ISBN 978-3-406-83626-8 (C. H. Beck)
  • 205 Seiten. Preis: 23,00 €
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Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald

Der Wald als Ort der Zuflucht, die italienische Autorin Maddalena Vaglio Tanet greift in ihrem Debüt In den Wald auf dieses Motiv zurück, um von der psychischen Erschütterung einer Lehrerin und der Reaktion ihres Umfelds darauf zu erzählen.


Schon seit der Romantik ist der Wald das Motiv, das für Zuflucht, Geborgenheit, aber auch Gefahr und Entgrenzung steht. Immer wieder haben Autor*innen diesen Ort in seiner Vielschichtigkeit inszeniert. Martin Suter ließ beispielsweise vor über zwanzig Jahren in seinem Bestseller Die dunkle Seite des Mondes den Schweizer Banker Urs Blank halluzinogene Pilze probieren. Daraufhin floh der soignierte und erfolgreiche Anwalt in den Wald, wo er das Überleben lernte. Oder auch der Schriftsteller Rye Curtis war es, der vor Kurzem seine Heldin Cloris nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der nordamerikanischen Wälder zum Überleben verdammte.

Immer wieder greifen Schriftsteller und Schriftstellerinnen auf die Möglichkeit zurück, ortsfremde Figuren in der Umgebung des Waldes auszusetzen, damit sie überleben, sich ihrer eigenen Geschichte stellen oder einen neuen Blick aufs Leben gewinnen.

Flucht in den Wald von Piemont

Im Falle im Falle von Maddalena Vaglio Tanets Debüt ist es eine Lehrerin, die im Wald überleben muss, auch wenn sie das eigentlich gar nicht will.

Statt in die Schule ging die Lehrerin in den Wald.

In einer Hand hielt sie die Zeitung, die sie gerade gekauft hatte, in der anderen die lederne Aktentasche mit den Heften, den korrigierten Aufgaben, den Kugelschreibern und sorgfältig angespitzten Bleistiften. Ohne zu zögern, verließ sie die Straße, als wäre der Wald von Anfang an ihr Ziel gewesen. Ihre flachen Schuhe traten auf einen Teppich aus braunen, glänzenden Blättern, die ihr wie ein Feld aus rohen Innereien erschienen.

Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald, S. 11

Zugegeben keine wirklich gute Ausrüstung, um im Wald zu überleben, selbst bei sommerlichen Temperaturen. Der Auslöser für diesen scheinbar so irrationalen Schritt oder besser Gang besteht in einem Ereignis, von dem sie aus der Zeitung erfahren hat. Denn eine Schülerin Silvias, so der Name der Lehrerin, hat Selbstmord begangen. Aus einem Fenster hat sich das elfjährige Mädchen in den darunter fließenden Wildbach Cervo stürzt.

Silvia gibt sich die Schuld an dieser Tragödie, hatte sie doch noch zuvor die mangelnde Präsenz der Schülerin im Unterricht bei den Eltern angemahnt. Doch nun, da das Mädchen tot ist, wird Silvia von schwersten Schuldgefühlen geplagt und will eigentlich nicht mehr sein.

Eine Tragödie und ihre Folgen

Maddalena Vaglio Tanet - In den Wald (Cover)

Im nahegelegenen bergigen Waldgebiet, der sich an das kleine piemontesische Dorf anschließt, sucht sie die Einsamkeit, die sie in einer zerfallenen Waldhütte findet. Derweil wird das Dorf nach der Hiobsbotschaft des Freitods der Schülerin nun auch vom Verschwinden der Lehrerin aufgewühlt. Silvias Cousin Anselmo macht sich ebenso wie der von asthmageplagte Schüler Martino auf die Suche nach der zweiundvierzigjährigen Frau.

In den Wald erzählt vom übermächtigen Wunsch des Verschwindens, der Scham und der Reue genauso wie vom Leben, das auch nach solch katastrophalen Ereignissen weitergeht, wie sie das piemontesische Dorf hier gleich zweifach heimsuchen im Sommer des Jahres 1970.

Maddalena Vaglio Tanet nutzt hierfür ein ganzes Ensemble an Figuren, die in kurzen Kapiteln immer wieder im Mittelpunkt stehen. Neben dem familiären und schulischen Umfeld der getöteten Schülerin und der verschwundenen Lehrerin ist es vor allem der junge Martino, der zusammen mit Silvia im Mittelpunkt steht. Denn dieser macht schon bald die zerfallene Hütte mitsamt der neuen Bewohnerin ausfindig. In einem Akt der Verkehrung wird der junge Schüler zum eigentlichen Versorger und Beschützer seiner Lehrerin, die dort in der aufgrund von Hunger und Durst schon bald zu delirieren beginnt.

Schüler und Lehrerin – und die Verkehrung der Rollen

Martino versorgt sie mit Nahrung und Trinken, wird zum häufigen Besucher der älteren Frau in der Hütte und hört ihr zu, die sie sich in Gedanken und Erinnerungen zu verlieren droht, während das Dorf langsam schon gar nicht mehr an das Überleben von Silvia glaubt.

Tanets Debütroman beruht dabei auf biografischen Details aus ihrer eigenen Familie, wie die Autorin im Nachwort ihres Romans schreibt. So gab es auch in Tanets Familie eine kinderlose Cousine, die als Lehrerin arbeitete. Auch sie blieb tagelang verschwunden, um später völlig verdreckt und nahezu verhungert wieder aufzutauchen. Die Frage, was mit der Frau geschehen war und was der Auslöser für ihre Flucht war, beschäftigte Tanet insbesondere, da die Hintergründe der Episode nie wirklich in der Familie thematisiert wurden.

Und so liegt nun mit In den Wald vor eine Art Antwortversuch oder Fantasie über die möglichen Hintergründe des damaligen Ereignisses vor. Der Roman ist düster, zeigt eine raue Natur, die wenig gemein hat mit italienischer Sommer-Idylle und präsentiert Figuren, denen man auch nicht wirklich in die Seele schauen kann und die zumeist so karg sind wie die Umwelt, die sie umgibt. Insofern greift Tanets Debüt tatsächlich jene Stimmung auf, die in ihr vor dem Verfassen des Buchs herrschte, was die Frage des Verschwindens anging.

Fazit

Wer dunklere Geschichten über das Überleben im Wald, die Versehrungen an Seelen und ihre Folgen schätzt, der bekommt mit In den Wald eine eindrückliche Geschichte aus dem Norditalien der 70er-Jahre präsentiert, die sich gut in die Riege der eingangs genannten Titel einfügt. Übersetzt wurde der Roman aus dem Italienischen von Annette Kopetzki.


  • Maddalena Vaglio Tanet – In den Wald
  • Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki
  • ISBN 978-3-518-43198-6 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Louise Kennedy – Übertretung

Übertretungen gibt es im Debütroman der irischen Autorin Louise Kennedy jede Menge. Mal von Nordirland in den Süden der irischen Republik, mal gibt in Sachen Grenzen des Berufsethos. Sogar ins Totenreich treten hier einige über – das sollte aber nicht allzu sehr überraschen, schließlich spielt Kennedys Erzählung zur Hochzeit der Troubles 1975 in Belfast.


Schon seit langem beweist der in Göttingen ansässige Steidl-Verlag große Hingabe, was die Pflege und Entdeckung irischer Autoren angeht. Sebastian Barry, Claire Keegan oder Edna O’Brien sind nur ein paar große Namen aus dem eindrucksvollen Portfolio an literarischen Stimmen von der grünen Insel. Mit Louise Kennedy gesellt sich nun ein weitere Stimme zu dieser illustren Riege. Sie arbeitete über dreißig Jahre lang als Köchin in Dublin und Beirut, ehe sie 2021 mit einem Kurzgeschichtenband hervortrat, der den illustren Titel The End of the World is a Cul de Sac trug. Nun gibt es mit Übertretung den ersten Roman der Irin zu lesen.

Dieser spielt im Jahr 1975. Im Kino läuft Chinatown und in den Straßen Belfasts explodiert die Gewalt.

Der Nordirland-Minister erklärt, die Welle von Morden, die sich derzeit im Westen der Stadt ereigne, sei Teil einer internen republikanischen Fehde, und bekräftigt, der Waffenstillstand mit der IRA habe auch weiterhin Bestand.

Die Protestant Action Force hat die Verantwortung für die Erschießung von zwei Männern in einer Bar im Belfaster Stadtteil New Lodge übernommen.

Bye Bye Baby ist noch immer auf Platz 1 der Charts.

Louise Kennedy – Übertretung, S. 120

Die Troubles in Belfast

Es ist eine brutale Welt, in der sich die junge Lehrerin Cushla Lavery bewegt. Ihr Bruder Eamonn betreibt in der Vorstadt Belfasts einen Pub und wird von Cushla unterstützt, wann immer es geht. Neben dem Unterricht ist sie aber vor allem bei der Betreuung ihrer alkoholkranken Mutter gefordert. Die Fehden der Troubles in den 70er Jahren bekommen die Laverys dabei hautnah mit, denn als katholische Minderheit leben sie in einem überwiegend protestantisch geprägten Viertel (eine Ausgangslage, die auch Adrian McKinty für seine Reihe um den katholischen Bullen Sean Duffy nutzt).

Louise Kennedy - ÜBertretung (Cover)

Zu allem Überfluss übertritt Cushla dann auch noch privat gleich in zweifacher Hinsicht Grenzen. So unterstützt sie einen jungen Schüler, dessen Familie von den Nachbarn ausgegrenzt und schikaniert wird, wobei sie die Rolle als objektive Lehrkraft schon recht bald verlässt, um ihrem Schützling beizustehen.

Und dann ist da auch noch der mehr als doppelt so alte Michael Agnew, in den sich Cushla Hals über Kopf verliebt. Er ist im Gegensatz zu ihr Protestant, verdient als Anwalt sein Geld und ist verheiratet. Cushla beginnt mit ihm wider besseren Wissens eine Affäre und ist schon bald enorm verliebt in den Anwalt, der sie doch immer nur dann sieht, wann es ihm gerade in den Kram passt. Doch davon lässt sich Cushla nicht irritieren und begleitet ihn sogar bei einer Reise in den Süden nach Dublin, um bei ihm zu sein. Doch die Zeiten sind gewaltgesättigt – und Cushla wird die privaten und politischen Konflikte schon bald am eigenen Leib zu spüren bekommen.

Konflikte im Land, Konflikte im Privaten

Übertretung von Louise Kennedy ist ein Buch, das die Gewalt und Atmosphäre der Troubles gekonnt heraufbeschwört. Ähnlich wie zuletzt auch Kenneth Brannagh in seinem Kinofilm Belfast blickt sie aus privater Perspektive auf jenen brutalen Konflikt und spürt den Auswirkungen des brutalen Bürgerkriegs im privaten nach. Entzweite Familien, die Religion oder die Einstellung gegenüber der irischen Republik, all das entschied über Wohl und Wehe und wird in Louise Kennedys Buch spürbar. So braucht es auch viel Heimlichkeit und Maskerade, damit die Liaison des verheirateten Protestanten und der kinderlosen Katholikin nicht publik wird und damit ein potentielles Anschlagsziel für Fantatiker wird.

Zudem erzählt Übertretung auch von der Emanzipation einer jungen Frau und den patriarchalen Rollenmustern, von denen sich Cushla langsam befreit. Die Verachtung ihrer Mutter und ihres Bruders aufgrund einer potentiellen Affäre, die Abwertung der Frau im katholisch geprägten Milieu der Vorstadt Belfasts, das sind Themen, die Kennedys Debüt behandelt und das ihr Werk darüberhinaus in meinen Augen auch mit einem Werk ihrer irischen Landsfrau Anna Burns verbinden.

Wie diese in Milchmann aus der Perspektive eines jungen Mädchens auf die gesellschaftlichen Mechanismen der eingeforderten Tugendhaftigkeit von jungen Frauen blickt, so tut es ihr Louise Kennedy hier gleich, die ebenfalls von einer Gesellschaft erzählt, die es Frauen alles andere als leicht macht.

Das sorgte in Großbritannien bereits für einen Nr. 1- Bestseller sowie zahlreiche Nominierungen für Kennedys Debütroman. So fand sich Übertretung auf den Shortlists des Women’s Prize for Fiction, des Debütpreises des British Book Award und des Waterstones Debut Fiction Prize und errang den Literaturpreis des Observer für den besten Debütroman des Jahres 2022. Man mag den Jurys nach der Lektüre des Romans nur beipflichten!

Fazit

Man muss bewundernd auf diese grüne Insel namens Irland blicken, dass diese so viele großartige Erzähltalente hervorbringt. Mit Louise Kennedy ist dank des Steidl-Verlags nun die nächste Schriftstellerin zu entdecken, die sich mit Übertretung irgendwo zwischen Anna Burns und Adrian McKinty einsortiert. Ihr Porträt der jungen Cushla, ihr Eintreten für ihren ausgegrenzten Schüler, ihre Affäre und die Emanzipation in der patriarchalen Gesellschaft , die Schilderung der Lebensumstände im Belfast der 70er zur Hochzeit der Troubles – all das ist wirklich gut erzählt und verdient eine große Empfehlung!


  • Louise Kennedy – Übertretung
  • Aus dem Englischen von Claudia Glenewinkel und Hans-Christian Oeser
  • ISBN 978-3-96999-259-3 (Steidl)
  • 320 Seiten. Preis: 25,00 €
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