Tag Archives: Novelle

Stefan Zweig – Der Amokläufer

Episode am Genfer See

Topalian&Milani hat es wieder gemacht. Der unabhängige Verlag aus Oberelchingen legt den nächsten herausragend gestaltete Novellenband aus dem Schaffen Stefan Zweigs vor. Ästhetischer Genuss und packendes Leseerlebnis in Einem.


Wer Stefan Zweig für einen überkommenen Schriftsteller hält, der uns heute nichts mehr zu sagen hat, der sieht sich schon im Vorwort des Buchs entschieden eines Besseren belehrt. Denn dieses Vorwort ist ein Vortrag namens Die geistige Einheit Europas, den Zweig am 27. August 1936 in Rio de Janeiro hielt. Darin äußerte sich der überzeugte Europäer mit folgenden Worten, die heute aktueller denn je erscheinen:

Die geistige Einheit unserer Welt?? Welch ein absurdes Thema! Spreche ich da nicht über ein Phantom? Existiert sie wirklich? Hat sie existiert? Wird sie je realisierbar sein?

Leider, ich gestehe es, ist nicht mehr sichtbar im gegenwärtigen Augenblick, diese moralische Einheit unserer Welt – im Gegenteil, selten war die Atmosphäre der Welt (insbesondere unseres alten Europas) so vergiftet von Misstrauen, Uneinigkeit und Angst. Mit Unruhe nimmt man jeden Morgen die Zeitung zur Hand, mit einem Seufzer der Erleichterung legt man sie nieder, wenn nichts besonders Gefährliches sich ereignet hat (…). Das Misstrauen gegen die Nachbarn ist heute bei vielen Völkern und gerade den kultiviertesten nach und nach zu einer theologischen Erscheinung geworden, überall schließen sich die Grenzen ängstlich ab (…).

Zwei, Stefan: Die geistige Einheit Europas in Zweig, Stefan: Der Aokläufer, S. 5

Man könnte meinen, Stefan Zweig würde heute die Separationsbewegungen, den Brexit, den Rechtsdrift und das Erstarken des Populismus auf dem europäischen Kontinent zusammenfassen und beschreiben. Dabei sind seine leider immer noch gültigen Worte doch schon über 80 Jahre alt.

Ein hellsichtiger Analyst

Zweig erwies sich ja stets als sehr hellsichtiger Analystik von Zeit und Gesellschaft. Seine Erzählungen und vor allem seine Autobiografie Die Welt von gestern zeugen davon. Häufig durchzieht ein Gefühl von unwiderbringlichem Verlust, Melancholie und Nostalgie seine Erzählungen, die man auch als präzise politische Kommentare lesen kann.

Sinnig von Herausgeber Florian L. Arnold zusammengestellt sind die im Buch vereinten Novellen Der Amokläufer und Episode am Genfer See. Sie rücken beide Menschen ins Zentrum, die auf der Flucht sind. Mal sind es erlebte Geschichten, die sie nicht loslassen, mal der Krieg, der sie vor sich hertreibt. In klarer, eleganter Sprache setzt Zweig die beiden unterschiedlichen Erzählungen in Szene.

So dreht sich die Geschichte in Der Amokläufer um einen Arzt, der einem anderen Schiffspassagier auf einer Überfahrt seine Geschichte erzählt. Und in Episode am Genfer See ist man Gast in einem kleinen Dorf an ebenjenem Genfer See. Fischer entdecken eines Morgens auf einem Floß einen verwilderten Mann, dessen Geschichte unter den Dorfbewohnern Diskussionen auslöst. Wie mit dem offensichtlichen Flüchtling verfahren? Humanität walten lassen oder amtliche Wege beschreiten? Ähnlich wie unsere Gesellschaft heute scheint auch das Dorf mit dem Schicksal eines Geflüchteten nicht wirklich umgehen zu können

Doch nicht nur die Erzählungen sind große Kunst – auch die Gesamtgestaltung dieses Bandes ist es. Der Weg, der mit dem ersten Novellenband eingeschlagen wurde, wird hier konsequent weitergegangen. Diesmal stammen die Illustrationen von Michael Hahn, der für die beiden Erzählungen zwei ganz unterschiedliche Stile gefunden hat.

Zudem ist das Buch neben den beiden vorangesetzten kurzen Texte Zweigs auch mit mit schönem Vorsatzpapier, einem Nachwort von Herausgeber Arnold und einem Quellenverzeichnis versehen. So geht vorbildliche editorische Arbeit, die das Bibliophile nicht vergisst.

Ein echter Band für Zweig-Liebhaber und für Freunde gut gestalteter Bücher. Zeitlose Prosa in hervorragender Gestaltung!

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Carys Davies – West

Wann habt ihr das letzte Mal für eine Sache gebrannt? Eine Sache, für die ihr alles stehen und liegen gelassen habt? Eine Sache, die es euch wert war, alle Annehmlichkeiten hinter euch zu lassen? Eine Sache, die andere abgetan haben und euch belächelt haben?

Selbst nach einigem Nachdenken komme ich auf kein Anliegen oder kein Ding, für die ich so gebrannt hätte oder es mir vorstellen könnte. Ganz anders da der Maultierzüchter Cy Bellmann. Er ist nach der Lektüre eines Zeitungsartikel völlig entflammt. Im Westen der USA, dem großen unbekannten Land, wurden gigantische Knochen entdeckt, so heißt es. Diese Meldung lässt Bellmann keine Ruhe, und so begibt er sich auf eine Reise, auf der er alles hinter sich lässt, was ihm einmal etwas bedeutet hat.

Unterwegs gen Westen

Sie ihn dir genau an, Bess, diesen einfältigen Menschen, meinen Bruder John Cyrus Bellman. Einen größeren Dummkopf wirst du nie wieder zu Gesicht kriegen. Wenn man mich fragt, zählt er ab heute zu den Verlorenen und Verrückten. Erwarte nicht, ihn jemals wiederzusehen, und wink ihm bloß nicht hinterher, sonst glaubt er am Ende noch, du wolltest ihm deine besten Wünsche mit auf die Reise geben. Und jetzt komm ins Haus, mein Kind, mach die Tür hinter dir zu und vergiss ihn.

Davies, Carys: West, S. 9

In der Folge strickt Carys Davies eine Novelle, die Bellmann bei seinem Zug in den Westen beobachtet. Unterstützung bekommt er bei seiner Reise von einem jungen Indianer, der den etwas irreführenden Titel Alte Frau aus der Ferne trägt. Diese beiden reisen unbeeindruckt von Schnee, Hitze, Dürre und sonstige Unbill immer weiter gen Westen.

Derweil harrt seine Tochter Bess daheim aus, die Cy Bellmann der Obhut seiner Schwester überantwortet hat. Doch diese Obhut ist mehr als trügerisch. Denn nicht nur Bellman sieht sich Gefahren ausgesetzt – auch Bess daheim ist bedroht. Und so schafft es Carys Davies, immer wieder zwischen diesen beiden Strängen hin- und herzuwechseln, um sie in einem filmreifen Duell münden zu lassen.

Die Aussparungen ergeben das Bild

West ist ein Buch, das mit Aussparungen arbeitet. Wie im Zeitraffer fasst sie die Reise Bellmans zusammen, die Jahreszeiten folgen rasch aufeinander. Auch Bess‘ Geschichte wird eher in Schlaglichtern denn in einer wirklichen Sequenz erzählt. Wer ein Breitwandpanorama und süffig erzählte amerikanische Entdeckergeschichte lesen möchte, der wird West nicht wirklich bestrickend finden. Für solche Leser*innen empfehle ich lieber das grandiose Butcher’s Crossing von John Williams.

Hier gehören die Aussparungen auch zum erzählerischen Konzept, die den Leser*innen viel Raum für die eigene Fantasie lassen. Auch sprachlich ist West eher reduziert – die blumigen und bunten Panoramen, die das Cover verspricht, löst das Buch so nicht ein. Carys Davies ist eher eine Freundin von nüchterner Klarheit (Übersetzung durch Eva Bonné)

Auch gelingt es der Britin nicht wirklich, die Motivation ihres Helden für die Reise nachvollziehbar zu schildern. Sie ist damit aber auch in guter Gesellschaft. Auch anderen Aufbruchsromanen wie Stefan aus dem Siepens Das Seil oder Lukas BärfußHagard ist dieses Problem zu eigen. Kann man eine solche innere Flamme, die einen zu extremen Taten treibt, nachvollziehbar und literarisch adäquat schildern?

West gelingt es auf alle Fälle nicht, das steht für mich fest. Dass eine einzige kleine Randnotiz in einer Zeitung Bellmans Reise auslöst, das wirkt im Gesamtkontext des Buchs etwas unglaubwürdig und überzogen. Eine Reisemotivation, die sich aus Knochenfunden speist? Um das glaubwürdig zu belegen, blickt Carys Davies zu wenig in ihre Figuren hinein.

Fazit

Doch auch so unterhielt mich West gut, das für mich wirklich eher eine Novelle denn ein Roman ist. Ein Buch, das einen DER amerikanischen Urmythen anhand eines Einzelschicksals noch einmal beleuchtet. Begeisterungsstürme konnte das Buch aufgrund der oben geschilderten Mängel nicht auslösen, aber eine schöne Lektüre für Zwischendurch ist das Buch allemal!


Weitere Besprechungen des Buchs von Carys Davies gibt es unter anderem bei letusreadsomebooks, Esthers Bücher und Hauke Harders Leseschatz.

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Stefan Zweig – Vergessene Träume

Nach Zweigs bekanntem Miniaturenband Sternstunden der Menschheit widmet sich Band Zwei der Salzburger Ausgabe nun den Erzählungen des jungen Stefan Zweig aus den Jahren 1900-1911.

Dabei präsentiert dieser Sammlungsband verschiedene Erzählungen aus Jugendjahren, die schon in der Anlage das ganze literarische Wirken in sich tragen oder vorzeichnen. Möchte man die Ursprünge von Zweigs Themen und Erzählkosmos finden – Vergessene Träume liefert aufschlussreiche Einblicke.

Auch das Nachwort der Herausgeber Elisabeth Erdem und Klemens Renoldner bestätigt diesen Eindruck. Es zeigt sich in diesem Band, wie Zweig schon als Maturant an seinen Novellen arbeitet und zwischenmenschliche und historische Themen im Gewand der kurzen Erzählungen bearbeitet.

Am bekanntesten aus dieser jugendlichen Schaffensperiode dürfte die Erzählung sein, die den Schluss dieses Bandes bildet: Brennendes Geheimnis erzählt die Geschichte einer sommerlichen Affäre zwischen einem alleinstehenden adligen Hotelgast und einer Dame, die ebenfalls im Hotel weilt, allerdings mit Kind. Aus Sicht des Kindes beleuchtet Zweig die Romanze, die sich zwischen Mann und Frau entspinnt – und zeigt auch gesellschaftlichen Umbrüche und Codes, die vom Kind nicht verstanden werden.

Neben einigen Novellen, die aus kindlicher Perspektive bestimmte Sachverhalte aufgreifen, gibt es auch andere Erzählungen, die als Vorabeiten zu späteren Werken gelten können. So zeigt Das Kreuz etwa die Bearbeitungsform der historischen Miniatur, einer Form, zu der Zweig immer wieder zurückkehren wird (man denke nur an seine Sternstunden der Menschheit). Auch ist die jüdische Identität auch ein Thema, das sich schon in den jugendlichen Arbeiten Zweigs wiederfindet (Im Schnee oder Die Wunder des Lebens)

Erzählungen mit großer thematischer Vielfalt

Vergessene Träume zeigt eine erstaunliche Vielfalt an schöpferischen Themen, derer Zweig sich annimmt. Über dessen Werke hinaus lassen sich auch Brücken zu anderen Autoren und Werken schlagen, so erinnert beispielsweise die Erzählung Ein Verbummelter an Herman Hesses Unterm Rad. Bis hinein in die Gegenwart reichen die Spuren, die Zweigs Oeuvre hinterlassen hat. So ist es die Erzählung Scharlach, die an Robert Seethalers Der Trafikant denken lässt. Überhaupt sind schon diese Erzählungen aus Anfangstagen ein Beweis, wie aktuell und stilistisch lesenswert Zweigs Prosa ist.

Es sind nur kleine Ausrutscher, die die Lektüre manchmal stolpern. So liest sich die erste Erzählung Vergessene Träume durch die Überfrachtung an Adjektiven und Stilfiguren reichlich holprig. Manchmal ist der Ton schwülstig, ein ander Mal reichlich pathetisch. Hier zeigt sich auf interessante Art und Weise, wie Zweig zu seinem Ton fand und sich selbst ausprobierte. Auch ein großer Autor ist manchmal nicht vor Kitsch gefeit, das zeigt Vergessene Träume auf unterhaltsame Art und Weise.

Um die Erzählungen herum gruppiert sich – wie schon im ersten Band der Ausgabe – ein umfangreicher Editionsapparat mit Quellenangaben, Vermerken zur Versionshistorie und biographischen Bezügen. Auch die Urtexte werden, wenn vorhanden, stets mit angegeben. Eine ausführliche Bibliographie rundet den Appendix ab. Das ist vorbildlich gemacht und lässt schon einmal für den folgenden Band Drei der Salzburger Ausgabe hoffen!

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Graham Swift – Ein Festtag

Eine wunderbare Novelle hat Graham Swift mit Ein Festtag bzw. dem im englischen Original noch passenderen Titel Mothering Sunday geschaffen. Denn an jenem Muttertag im Jahr 1924 trägt sich ganz und gar Unerhörtes zu …

Der Muttertag war beziehungsweise ist Anlass für die gutbetuchten Familien auf dem englischen Land, den Hausangestellten freizugeben und zu einem Ausflug ins Grüne aufzubrechen. Im Hause Beechwood ist diesmal die Atmosphäre eine ganz besondere. Denn die Hochzeit der Sprösslinge zweier Clans steht kurz bevor. Auch das Gesinde ist von der Atmosphäre angesteckt – besonders aber die junge Hausangestellte Jane Fairchild, die hierfür auch einen speziellen Grund hat.

Denn seit Jugendjahren pflegt sie mit dem Bräutigam in spe eine Affäre, erst gegen Geld, später aus Gewohnheit. Und auch jener Muttertag ist eigentlich eine günstige Gelegenheit, die Bewohner sind aus den Herrenhäusern ausgeflogen und niemand stört die Zweisamkeit der beiden. So begibt sich Jane mit dem Rad zum Anwesen ihres Geliebten, um ungestörte Stunden mit ihm zu verbringen. Ein Muttertag nimmt seinen Lauf, der am Ende des Tages Janes ganzes weiteres Leben prägen wird.

Ein Festtag ist eher eine Novelle denn ein Roman. Schmale 144 Seiten umfasst das Buch und ist sehr reduziert. Kern ist die unerhörte Begebenheit der Affäre von Bräutigam und Hausangestellter, die nicht nur im Lichte der Jugend, sondern auch in der Retrospektive geschildert wird. Denn Janes hochbetagtes Ich kommt in der Novelle ebenfalls zu Wort, die jenes Geschehen im März 1924 reflektiert und nostalgisch Rückschau hält.

Graham Swift gelingt es in seinem Roman, eine stimmungsvolle und über allem schwebende Atmosphäre zu kreiern, die den Leser gefangen nimmt. Die Downton-Abbey-Atmosphäre wirkt wie aus der Zeit gefallen. Doch antiquiert ist das Buch keineswegs, vielmehr ist es stilistisch gut gearbeitet und von Susanne Höbel auch adäquat ins Deutsche übersetzt worden. Ein leichtes, fast schwebendes Buch über Begehren, Anziehung, Erotik und nicht zuletzt die Literatur selbst. Zu recht fand sich dieser Titel auch auf der SWR-Bestenliste!

 

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