Vom Ein-Personen-Theaterstück zum Roman. Suzie Miller legt mit Prima Facie die Umformung ihres erfolgreichen Schauspiels in Prosa vor und erzählt engagiert von sexuellem Missbrauch und den Fehlern im Rechtssystem, die die Beweis- und Prozessführung erschweren. Prosa, die ihre Herkunft als Bühnenstück nicht ganz verleugnen kann – und die aber dennoch eine eigene erzählerische Form findet.
Prima Facie hat eine spannende Entstehungsgeschichte hinter sich. So war die Australierin Suzie Miller lange Zeit als Strafverteidigerin tätig, ehe sie mit Prima Facie ein Bühnenstück schrieb, das gleich fünfmal für den prestigeträchtigen englischen Theaterpreis der Olivier Awards nominiert wurde und schließlich eine Auszeichnung als bestes neues Stück erhielt. Dazu noch ein Olivier Award für die Schauspielerin Jodie Comer, die in dem furiosen Solo Anklägerin, Gericht, Opfer und Verteidigung zugleich spielt und die für die Broadway-Adaption gleich auch noch einen Tony-Award erhielt.
Viel Vorschusslorbeeren also für das Stück, das von Australien über das Londoner Westend bis nach Amerika seinen Siegeszug antrat – und das auch hierzulande auf den Spielplänen der Theater zu finden ist, etwa im Münchner Residenztheater.
Nun also eine Buchversion, für die Autorin Suzie Miller nun ein langer Entstehungsprozess ihres Stoffs zu einem Ende kommt, wie sie im Nachwort ihres Romans schreibt. Denn dem Theaterstück ging ein langer Schreibprozess voraus, ehe Miller die theatrale Version dann in einen Roman zurückverwandelte, den es jetzt dank der Übersetzerin Katharina Martl und des Kjona-Verlags auch auf Deutsch zu lesen gibt.
Vom Theaterstück zum Buch
Statt dem intensiven 90-Minuten Stück arbeitet Suzie Miller in ihrem Stück mit vielen Rückblenden, die die erste Hälfte des Buchs bestimmen. In Damals und Vorher betitelten Rückblenden lernen wir die Strafverteidigerin Tessa Ensler kennen.
Selbst aus der englischen Arbeiterklasse stammend, hat sie sich mit viel Willen und Talent emporgearbeitet zu einer der besten jungen Strafverteidigerinnen, die am Old Bailey genannten Strafgerichtshof in London ihren Dienst tun. Ihre Mutter und ihren Bruder hat sie ebenso wie ihre Kindheit in einer tristen Wohnanlage im Norden von London längst hinter sich gelassen.
Nach einem Jura-Studium in Cambridge ist sie nun Teil einer Kanzlei, in der talentierte junge Rechtsanwält*innen ihrem Tagesgeschäft nachgehen und sich gegenseitig pushen. Zum Unverständnis ihrer Mutter ist die Freilassung von Beklagten nun das Tageswerk von Tessa. Genaue Vorbereitungen auf Prozesse mit messerscharfen Zeugenvernehmungen vor Gericht bestimmen Tessas Alltag. Oftmals gelingt es der jungen Anwältin mit ihrer ausgefeilten Vernehmungstechnik, eine Freilassung oder eine Einstellung der Prozesse zugunsten ihrer Mandanten zu erwirken.
Die Frage der Schuld
Ob jemand schuldig ist, das interessiert Tessa nicht, besser gesagt will sie es gar nicht wissen, um ihren Job gut zu machen
Selbst wenn ich zu wissen glaube, was mein Mandant getan oder nicht getan hat, hat er noch immer das Recht, seine Geschichte vor Gericht zu bringen, das Recht, angehört zu werden. Sobald du anfängst, deinen Mandanten zu verurteilen, bist du am Arsch. Du verlierst dein Fundament. Das Rechtssystem ist verloren. Du bist verloren.
Suzie Miller – Prima Facie, S. 75
In Prozessen um sexuellen Missbrauch nimmt sie die Zeuginnen gnadenlos ins Verhör. Mit spitzfindigen Fragen sät sie bei den Jurys höchst erfolgreich Zweifel an deren Glaubwürdigkeit. Wenn es der Sache dient, hat Tessa keine großen Skrupel, ihre Geschlechtsgenossinen in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen, wenn es der Sache und ihren Mandaten dient.
Dann kommt das Buch nach seiner sehr langen Exposition in der zweiten Hälfte des Romans aber doch noch zum Wendepunkt einer bitteren Pointe, die zuvor sorgsam vorbereitet wurde. Denn Tessa widerfährt das, was sie bei anderen jungen Frauen stets anzuzweifeln wusste – sie wird von einem Kollegen vergewaltigt, nachdem alles zuvor nach einem aufregenden Flirt ausgesehen hatte. Und plötzlich findet sich Tessa auf der anderen Seite im Gerichtssaal wieder und wird von der Strafverteidigerin zur Zeugin der Anklage, die nun selbst unter juristischen Beschuss genommen wird.
Dass Prima Facie ein Theaterstück war, das vermittelt sich vor allem in der zweiten Hälfte des Buchs. Minutiös beschreibt Suzie Miller die Mechaniken des Prozesses, den sie ähnlich wie ihr schreibender Kollege Ferdinand von Schirach qua beruflichem Vorleben inwendig kennt.
Schuld und Bühne
Die Vorbereitungen des Prozesses gegen Tessas Vergewaltiger, die Vernehmung Tessas als Zeugin, die Anwesenheit von Familie und Beklagtem im Gerichtssaal, all das schildert Suzie Miller nahezu in Echtzeit. Der Gerichtssaal wird hier zur Bühne, auf der noch so viel mehr als alleine Tessas Fall verhandelt wird.
Denn Prima Facie findet im Rechtsmittel des Voire Dire, einer Spezialität des englischen Prozessrechts, zum Höhepunkt. Nachdem sich Tessa nun einmal selbst der erniedrigenden Vernehmung und den unverschämten Suggestionen eines Kronanwalts unterziehen musste, kann sie nicht mehr an sich halten und nutzt das Rechtsmittel, um so über die Vernehmungsfragen hinaus selbst Stellung zu ihrem Fall zu nehmen. Sie hält einen eigentlich zwar spontanen, und doch bühnenreifen, flammenden, höchst emotionalen und zugleich intellektuell durchdrungen Monolog, für den die Jury aus dem Saal geschickt wird, um nicht beeinflusst zu werden.
All die Erfahrungen auf beiden Seiten der Missbrauchsprozesse, das gerade Erlebte, das schreiende Unrecht, dass jede dritte Frau in England sexuellen Missbrauch erlebt hat, aber nur jede zehnte einen solchen Übergriff überhaupt zur Anzeige bringt, all das fließt in diese zentrale Szene ein, die dem Roman schon fast auch etwas Aktivistisches gibt.
Hier meint man selbst im Publikum zu sitzen, wenn Tessa aus dem Zeugenstand heraus das patriarchal geprägte Rechtssystem, die Unmöglichkeit einer klaren Beweisführung und den falschen Umgang mit den Opfern solcher Übergriffe anprangert. Hätte es Suzie Miller geschafft, der ersten Hälfte auch ein wenig der Dringlichkeit dieses Appells zu verleihen, hätte Prima Facie noch ein Stück mehr gewonnen.
Fazit
So tritt in Prima Facie stilistisch und gestalterisch alles hinter den klaren Höhepunkt des Romans im Gerichtssaal zurück. Etwas weniger subtil als beispielsweise Ian McEwan in Kindeswohl wird auch in Prima Facie der Gerichtssaal zur Bühne für die ganz großen gesellschaftlichen Fragen, unseres Miteinanders und der Lücken im Rechtssystem. Trotz der vielen Rückblenden sticht das Buch auf der Ebene der Sprache nicht wirklich hervor, da es Suzie Miller nicht ganz gelingt, einen eigenen Sound zu kreieren, sondern in einer stilistisch recht uniformer Schilderung der Vorgänge und der Figurenzeichnung zu verharren.
Davon abgesehen ist das Buch wirklich engagiert und legt seinen Finger in eine Wunde unseres Rechtssystems. So schärft die schreibende Anwältin Suzie Miller zusammen mit einigen anderen Werken in letzter Zeit das Bewusstsein für das, was sexueller Missbrauch und seine Aufarbeitung für Betroffene bedeuten kann – nicht nur vor dem Hintergrund des skandalösen Freispruch Harry Weinsteins in den USA vor wenigen Tagen.
- Suzie Miller – Prima Facie
- Aus dem Englischen von Katharina Martl
- ISBN 978-3-910372-21-4 (Kjona)
- 352 Seiten. Preis: 25,00 €