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Colum McCann – Twist

Schicksale, die wie Kabelstränge verdreht und entdreht werden. Sie flicht Colum McCann in seinem neuen Roman Twist, das die fragilen Verbindungen zwischen Menschen und Nationen besieht und dafür tief abtaucht, bis hinab auf den Meeresgrund.


Mit seinen Romanen hat sich Colum McCann einen Ruf als Autor erschrieben, der sich genau ansieht, was Menschen trennt und sie verbindet. Mal beschäftigte er sich mit der Kluft, die sich zwischen Israelis und Palästinensern auftut und die fast unüberwindlich scheint (Apeirogon), mal lässt er in einem Roman einen Seiltänzer über den Abgrund zwischen den Wolkenkratzern in New York balancieren (Die große Welt).
Im Roman Transatlantik war das Verbindende schon im Titel angelegt, hier schickte er von 1845 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gleich dreimal Menschen zu ganz verschiedenen Zeitpunkten zwischen McCanns Heimat Irland und den USA hin und her.

Nun mit Twist also ein neuer Roman, der abermals das Verbindende besieht. Das Ganze findet diesmal aber nicht wie in Transatlantik über der Erde statt, im aktuellen Roman liegt die Verbindung deutlich tiefer, genauer gesagt am Grunde des Ozeans. Denn dort sind jene Glasfaserkabel verlegt, die das Internet und damit die verschiedenen digitalen Netze zwischen den Kontinenten verbinden.

Das Geheimnis der Tiefseekabel

Einst beschrieb Stefan Zweig in der Erzählung Das erste Wort über den Ozean in seinen Sternstunden der Menschheit den Moment der Verlegung des ersten Telegrammkabels zwischen den USA und Europa. Nun, gut 150 Jahre später seit jener Pionierleistung haben sich zwar die Kabelarten geändert, die Abhängigkeit von jener fragilen Infrastruktur ist aber geblieben, wie nicht nur jüngst die Angriffe der russischen Schattenflotte auf diese Tiefseekabel zeigten.

Das muss auch der recht erfolglose Schriftsteller und Journalist Fennell feststellen, der auf Geheiß seiner Redakteurin den Weg nach Kapstadt antritt, wo er eine Reportage über Conway schreiben soll. Dieser ist auf einem spezialisierten Schiff für die Reparatur dieser Tiefseekabel zuständig und soll im Mittelpunkt von Fennells Reportage stehen, für die er zumindest anfänglich nicht allzu viel Begeisterung aufbringen kann.

Ich interessierte mich nicht für Kabel. Jedenfalls anfangs nicht. In dem einzigen Artikel, den ich am Ende schrieb, hieß es, ein Kabel bliebe so lange ein Kabel, bis es gebrochen sei, danach verwandle es sich, wie wir alle, in etwas anderes.
Eines kalten Herbstnachmittags rief mich Sachini an, meine Redakteurin bei einem Online-Magazin, für das ich gelegentlich arbeitete. Sie sprach in langen, verschlungenen Sätzen. Sie war auf einen Bericht über einen Kabelbruch in Vietnam gestoßen und hatte überrascht herausgefunden, dass beinahe die gesamte interkontinentale Information der Welt durch zerbrechliche Röhren auf dem Meeresgrund floss. Wir anderen glaubten zumeist, dass die Cloud in der Luft beheimatet sei, sagte sie, aber über Satelliten laufe nur ein kleiner Bruchteil des Internetverkehrs. Die im Schlick liegenden Kabel auf dem Meeresgrund seien schneller, billiger und weitaus effektiver. Gelegentlich brächen sie, und verteilt über verschiedene Häfen der Welt gebe es eine kleine Flotte von Schiffen, die dann mit der Reparatur beauftragt würden und oft Monate auf See verbrachten. Sachini fragte, ob ich der Geschichte nachgehen wolle?

Colum McCann – Twist, S. 14

Auf den Spuren einer Nicht-Geschichte

Zunächst allerdings sieht alles eher nach einer Nicht-Geschichte aus. Deutlich interessanter als der widerwillige Kabelexperte scheint Conways Frau Zanele zu sein, die schon kurz nach Fennells Ankunft in Südafrika von dort nach England aufbricht, wo sie mit anderen Schauspielerinnen Becketts Warten auf Godot neuinterpretieren will.

Nicht nur sie wartet im Stück auf jenen Gast, dessen Erscheinen ausbleibt, auch eine berichtenswerte Story in Kapstadt scheint auszubleiben. Ein Schleier der Lethargie legt sich über Fennell, der erst durch einen Felssturz zerrissen wird. Denn jene Verschiebung von Erdmassen wirkt auch unterirdisch fort und beschädigt die Kabel vor der Küste Afrikas und sorgt dort für einen großflächigen Ausfall sämtlicher Kommunikationsstruktur. Und so hat Fennell plötzlich doch eine Geschichte, als er mit an Bord ist, als die Mannschaft ausrückt, um den Schaden zu beheben, der nicht nur die afrikanische Welt zusehends ins Chaos stürzt.

Rätselhafte Menschen, verdrehte Schicksale

Twist ist ein Roman, der drei Menschen ins Zentrum stellt, die alle auf ihre eigene Art und Weise unnahbar bleiben. Da ist Conway, der zu Fennell auf Distanz geht und den der Journalist nicht richtig zu greifen bekommt (worüber der Journalist bis heute grübelt; ein Umstand, über den er uns schon zu Beginn des Romans in Kenntnis setzt).

Aber auch Fennell bleibt konturlos, obschon er uns als Ich-Erzähler an seinen eigenen Abgründen und Schmerzen teilhaben lässt. Und Zanele als dritte im Bunde ist nicht nur durch ihr baldiges Entweichen nach England für Fennell ein faszinierendes Rätsel – auch Conways Schiffscrew scheint der Anziehung der Schauspielerin erlegen zu sein und Teile der Crew haben wie auch Fennell selbst eine Obsession für die enigmatische Frau entwickelt.

Diese drei Figuren bringt Colum McCann in Kapstadt nun zusammen und verdrillt ihre drei Lebenswege zunächst wie die Stränge im Inneren eines isolierten Kabels. Schon kurz darauf aber entdrillt der irische Schriftsteller diese drei Schicksale wieder und isoliert die Figuren zunehmend voneinander. Aus dieser Bewegung der Eng- und dann Fortführung zieht Twist seinen Reiz.

Nachdem der Roman am Ende den titelgebenden Twist auch nicht schuldig bleibt, wird das Buch mit seinen Figuren immer mehr zu einem Rätsel. Denn plötzlich wechselt eine der Figuren die Seiten – und als außenstehender Beobachter steht man wieder vor einem Rätsel, das der Roman nicht auflösen kann und das auch gar nicht will. Mit dieser Verschiebung in der Betrachtung der Figuren und ihr erratisches Verhalten erinnert der Roman an andere, ebenfalls in maritimen Umfeld angesiedelte Romane wie Emma StonexDie Leuchtturmwärter oder Mariette Navarros Über die See, die ebenfalls ein Stück weit auf Uneindeutigkeit und die Ungewissheit setzen.

Fazit

Es liegt etwas leicht Verschobenes, Zwielichthaftes über diesem ganzen Roman, der von unseren Abhängigkeiten und Verstrickungen genauso wie von Einsamkeit erzählt. So etwas muss man mögen – Colum McCann kann es aber auf alle Fälle erzählen, denn der Roman weiß durch die Bildsprache und die Komposition einer Rückschau überzeugen. Trotz des Blicks zurück zweifelt Fennell und wir mit ihm daran, was man da eigentlich gesehen hat. Das macht in meinen Augen den Reiz dieses von Thomas Überhoff ins Deutsche übersetzten Romans aus.


  • Colum McCann – Twist
  • Aus dem Englischen von Thomas Überhoff
  • ISBN 978-3-7632-7672-1 (Büchergilde Gutenberg)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff

Ein Schiff, ausgelegt für zweitausend Passagiere, belegt nur mit einer Handvoll Menschen, die ihre Kabinen kaum verlassen dürfen. Ausgewiesene Personen allesamt, die im neuen Russland unter Trotzki keinen Platz mehr haben. Und unter ihnen die junge Anouk, die einem Schriftsteller namens Michael Köhlmeier in Das Philosophenschiff ihre Lebensgeschichte erzählt und so die Erfahrungen nach der Oktoberrevolution in Russland noch einmal lebendig werden lässt.


Einen guten, wenn auch etwas windigen Ruf als Schriftsteller als Schriftsteller habe er, Michael Köhlmeier. Stets sei sein Umgang mit Realität und Fiktion etwas eigen – was ihn zum perfekten Kandidaten für ihr Vorhaben mache, ihm ihre Lebensgeschichte zu erzählen. So eröffnet es ihm die fast hundertjährige Architekturprofessorin Anouk Perleman-Jacob, die Köhlmeier zu ihrem Geburtstag in ihre Villa nach Hietzing eingeladen hat, wo sich zahlreiche höhergestellte Persönlichkeiten einfinden, darunter sogar der Vizekanzler der Alpenrepublik.

Eine russische Scheherazade

Er möge am nächsten Tag noch einmal zu ihr nach Hause kommen, dann werde sie ihm die Geschichte erzählen. So lockt die 1908 in St. Petersburg geborene Frau den Schriftsteller zu sich, der tatsächlich auf eine Heimreise nach Vorarlberg verzichtet und sich so in einer fast an eine Scheherazade erinnernden Erzählung der betagten Dame wiederfindet.

Denn einst wurden ihre Eltern von Trotzki aus Russland ausgebürgert. Er ein renommierter Architekt, sie eine Ornithologin, beide mit Sympathien für die Bolschewiki – und dann die Tochter, die zusammen mit den Eltern im Alter von nur 14 Jahren aus Russland ausreisen musste.

Zusammen mit einer Handvoll andere kritischen Stimmen wurde die Familie in St. Petersburg auf ein Schiff gebracht, welches die unliebsamen Denker*innen aus dem neuen Russland nach der Oktoberrevolution entfernen sollte. Dort fand sich Anouk Perleman-Jacob in einer wirklich gespenstischen Atmosphäre wieder. Denn den Passagier*innen war es untersagt, sich längere Zeit außerhalb der Kabinen aufzuhalten, der Service auf dem eigentlich für zweitausend Gäste ausgelegten Schiff blieb unsichtbar. Doch bei ihren heimlichen Streifzügen stieß das junge Mädchen dann auf einen ganz besonderen Gast, wovon sie dem lauschenden Schriftsteller in einigen Etappen erzählt.

Vom Entgleisen linker Ideen

Das Philosophenschiff ist ein Roman, der vom Entgleisen linker Ideen erzählt. Lenin, Trotzki und später Stalin, das totalitäre Denken der Machthaber und die omnipräsente Furcht, die unter ihrer Herrschaft zunehmend um sich griff und in der schon so etwas Harmloses wie ein Gedicht Grund für eine Verhaftung oder gar Exekution sein konnte, all das scheint in den Erinnerungen Anouk Perleman-Jacobs auf.

Michael Köhlmeier - Das Philosophenschiff (Cover)

Die beklemmende und schon fast kafkaeske Atmosphäre der Familie vor der Deportationen und danach dann auf dem antriebslosen Schiff im Finnischen Meerbusen, die Verzweiflung der Menschen, Suizide und die ständig lauernde Gefahr, all das sind Erinnerungen, die Köhlmeier und seine Auftraggeberin gemeinsam durchwandern.

Durch die Klammer der Scheherazade erlebt diese Rekapitulation der damaligen Zustände, die aus der brutalen Geschichte Russlands erwuchsen, noch eine weitere Ebene. Denn Köhlmeier befasst sich während seiner nachmittäglichen Unterhaltungen mit der greisen Dame auch mit deren Hintergrundschichte und ihrem Umfeld.

Dieses hält ebenso wie seine eigene Geschichte Anknüpfungspunkte zu linkem Terrorismus und den entgleisten linken Ideen bereit. So umweht die Freundin, Betreuerin und ehemalige Studentin Anouk Perleman-Jacobs die Fama von Terrorismus in den USA – und auch Köhlmeiers Bekannter aus Studentenzeiten sympathisierte als Mitglied des KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschlands) einst mit linken Diktatoren wie Stalin oder Pol Pot. Dieser Bekannte erlebte dann sogar die Androhung einer Liquidation am eigenen Leib – womit sich wieder der Bogen zu den Geschehnissen in Russland unter Trotzki schließt, waren Attentate und staatliche Exekutionen doch ein Merkmal jener Zeit nach der Oktoberrevolution.

Erinnerungen und wie man sich diese vom Leib hält

Neben solchen großen Bögen in einem doch recht schmalen Buch ist Das Philosophenschiff auch ein Buch über Erinnerungen und darüber, wie man sie sich vom Leib zu halten versucht. Denn das Gedächtnis, es ist ein „ineffektives Gerät“, wie Anouk Perleman-Jacob im Gespräch mit Köhlmeier feststellt, der auch selbst mit dem autofiktionalen Erzählrahmen die Grenzen zwischen Fakt und Wirklichkeit verwischt, ganz wie es die Architekturprofessorin von ihm behauptet hat.

Welche Erinnerungen lassen wir zu, mit welchen Behauptungen und imaginierten Wahrheiten schützen wir uns selbst? Das führt Köhlmeiers Roman hervorragend vor, auch wenn das Buch noch etwas mehr erzählerisches Fleisch auf den Rippen verdient hätte. So kennzeichnen Andeutungen, Abschweifungen und Exkurse etwa über Begehren oder Küchenbrutzeleien den Roman, der seine eigene Geschichte des Schiffs mit seiner besonderen Besatzung immer mal wieder aus den Augen zu verlieren droht, in meinen Augen dann aber doch noch die Kurve bekommt, bevor die Erzählung dann abbricht. Köhlmeier könne sich die übrigen Lücken in der Geschichte ja zusammenreimen könne, so die etwas schroffe Aussage der Architektin am Ende des Buchs.

„Nun ist meine Geschichte zu Ende. Den Rest können Sie sich zusammenreimen aus den Stücken, die ich Ihnen bereits erzählt habe. Wenn Ihnen das nicht genügt, fragen Sie Alice, sie gibt Ihnen gern Auskunft. Aber vergessen Sie nicht, wer Sie sind: Sie sind der, dem man glaubt, wenn er lügt, und nicht glaubt, wenn er die Wahrheit sagt.“

Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff, S. 221

Fazit

Ich hätte lieber noch von Anouk Perlemann-Jacob selbst diese Lücken gefüllt gesehen, aber auch so ist Das Philosophenschiff ein starker Roman über das, was passiert, wenn sich Ideen verselbstständigen und gute Theorien in besorgniserregende Praktiken kippen. Der Umgang mit Eliten und Erinnerungen, die gewaltgesättigte Vergangenheit Russlands, das Schiff und die Scheherazade, die Revolution und das junge Mädchen – all das sind Themen, die der österreichische Vielschreiber Michael Köhlmeier in diesem Roman voller doppelter Ebenen lesens- und nachdenkenswert umkreist.

Mehr Stimmen zu Das Philosophenschiff gibt es im NDR, bei der Frankfurter Rundschau, im SWR und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Michael Köhlmeier – Das Philosophenschiff
  • ISBN 978-3-446-27942-1 (Hanser)
  • 224 Seiten. Preis: 24,00 €

Stephanie Bishop – Der Jahrestag

Menschliche Beziehungen, insbesondere die Ehe, sie können durchaus komplex sein. Stephanie Bishop stellt in ihrem Roman Der Jahrestag eine solche Beziehung in den Mittelpunkt und blickt ganz tief hinein in ein kompliziertes Gefüge aus Nähe und Abstoßung, großer Entwicklungsbogen inklusive.


Es hätte die Gelegenheit sein sollen, um die angespannte Beziehung wieder in sprichwörtlich ruhigeres Fahrwasser zu führen. Zusammen mit ihrem Mann Patrick will die Schriftstellerin Lucie anlässlich des bevorstehenden Hochzeitstags eine Schiffsreise von Australien nach Japan unternehmen. Dabei plant sie als Überraschung einen Zwischenstopp in den USA ein. Denn Lucie, die unter ihrem Zweitnamen Joy-Beth alias J.B. Blackwood publiziert, hat es nach Jahren des unterdurchschnittlichen literarischen Erfolgs mit ihrem neuesten Buch geschafft. Sie ist für einen großen, prestigeträchtigen Preis nominiert und soll diesen in den Staaten erhalten.

Mit diesem Preis und der ganzen Kreuzfahrt sollen die Wogen geglättet werden, die sich in letzter Zeit zwischen den beiden nicht nur in Sachen Alter weit auseinanderliegenden Partnern aufgetürmt haben. Denn während Lucie mit ihrem neuen und so ganz anderen Roman reüssiert, ist ihr Mann Patrick zunehmend ausgebrannt. Als Regisseur und Dozent feiert er immer größere Erfolge, was aber nicht ohne einen Tribut an seine Freizeit und seine Kraftreserven abgeht. Immer eingeengter fühlt er sich, was auch auf die Beziehung zu seiner Frau durchschlägt. Und nun also die Reise nach Japan, ein neuer Start, Zeit für Erholung und Zweisamkeit.

Ehemann über Bord

Stephanie Bishop - Der Jahrestag (Cover)

Doch damit ist es in Stephanie Bishops Roman nicht weit her. Denn während der Überfahrt kommt es zu einem großen Streit zwischen Lucie und Patrick. Inmitten eines Sturms geht ihr Mann über Bord und wird kurze Zeit darauf tot aus dem Meer gefischt. Eine Tragödie, die Lucie völlig aus der Bahn wirft, fällt doch der Moment ihres größten schriftstellerischen Triumphs mit dieser Tragödie zusammen, die aufgrund Patricks Prominenz für viel öffentliche Aufmerksamkeit sorgt.

Um wieder zu sich zu kommen, fliegt die Schriftstellerin zu ihrer Schwester in Australien, wo sie auf Ruhe und Abstand hofft. Während sie den Verlust zu verarbeiten sucht, erinnert sie sich in zunehmend Maße der komplexen Beziehung zu Patrick, die alles andere als leicht war. Der Beginn der Romanze zwischen ihr, der jungen Studentin, und ihm, dem arrivierten Dozenten, die unvergesslichen Momente, aber auch die erlittenen Verletzungen sind Thema der Rückschau, die uns Stephanie Bishop Stück für Stück serviert.

Je weiter Lucie in dieses Gespinst namens Ehe vordringt, umso desillusionierender wird das Ganze, bis sich sogar Fragen am Unfallverlauf Patricks stellen…

Die Sezierung einer Ehe

Ähnlich wie Lauren Groff in Licht und Zorn oder Claire Fuller in Eine englische Ehe ist auch Der Jahrestag ein Roman, der eine Ehe, deren Verlauf und Abgründe mit genauem Blick seziert und dekonstruiert. Stück für Stück zertrümmert die australische Professorin für Kreatives Schreiben die heile Welt von Lucie und Patrick und zeigt zwei facettenreiche Figuren im Ringen miteinander. In den richtigen Momenten nicht ganz konkret, dann wieder sehr detailliert und wenig schmeichelhaft ist diese Porträt Lucies, das Stephanie Bishop in Der Jahrestag zeichnet.

Besonders schön ist die Tatsache, dass Bishop diese genaue Introspektion der Ehe mit einer wirklichen Entwicklung ihrer Heldin zu verknüpfen weiß. So hält der über 450 Seiten lange Roman eine Schlusspointe bereit, der als in puncto Charakterentwicklung und Handlungsbogen die zuvor vielleicht etwas statisch erscheinende Innensicht hinter sich lässt. Souverän hält die Autorin die Fäden in der Hand und serviert ein intensives Ende, das in Verbindung mit der gekonnten Dekonstruktion dieser Ehe dafür sorgt, dass Der Jahrestag neben ähnlich gelagerten Romanen aufs Beste bestehen kann.

Fazit

Die Verzweiflung einer Frau, der Kampf um Abstand von Erlebtem und die Aufrechterhaltung einer wie auch immer gearteten Ordnung, all das sind Themen, mit denen sich dieser von Kathrin Razum aus dem Englischen übersetzten Roman beschäftigt. Ein genauer Blick auf ein kompliziertes Verhältnis, ein großer Handlungsbogen, ein Ehemann über Bord – Der Jahrestag hält psychologisch fein ausgearbeitete Unterhaltung bereit, die für mein Empfinden durchaus etwas mehr Aufmerksamkeit auf dem Buchmarkt verdient hätte. Neben den schon erwähnten Autorinnen Claire Fuller und Lauren Groff reiht sich Stephanie Bishop als souveräne Erzählerin hervorragend ein!


  • Stephanie Bishop – Der Jahrestag
  • Aus dem Englischen von Kathrin Razum
  • ISBN 978-3-423-28346-5 (dtv)
  • 464 Seiten. Preis: 26,00 €

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord

35 Jahre ist eigentlich noch kein Alter für eine Midlifecrisis. Und doch fühlt Henry Preston Standish in sich den Drang, aus seinem geregelten Leben mit Job, Frau und Kind auszubrechen. Und so findet sich der distinguierte Gentleman an Bord der S. S. Arabella wieder, wo es in Herbert Clyde Lewis‚ Roman Gentleman über Bord zu einem verhängnisvollen Zwischenfall kommt.


Als Henry Preston Standish kopfüber in den Pazifischen Ozean fiel, ging am östlichen Horizont gerade die Sonne auf. Das Meer war so still wie eine Lagune, das Wetter so mild und die Brise so sanft, dass man nicht umhinkam, sich auf wunderbare Art traurig zu fühlen. In diesem Teil des Pazifiks vollzog sich der Sonnenaufgang ohne großes Tamtam: Die Sonne setzte lediglich ihre orangefarbene Kuppel auf den fernen Saum des großen Kreises und schob sich langsam, aber beständig nach oben, bis die matten Sterne mehr als genug Zeit hatten, mit der Nacht zu verblassen.

Tatsächlich dachte Standish gerade über den gewaltigen Unterschied zwischen dem Sonnenaufgang und dem Sonnenuntergang nach, als er den unglücklich Schritt machte, der ihn in die See beförderte.

Was für ein Auftakt für diesen Roman, der nach seinem Erscheinen 1937 nun erstmals auf Deutsch zu entdecken ist. Von Honolulu auf Hawai bis nach Panama soll die Reise führen, zu der sich Henry Preston Standish berufen fühlt.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 13

Ein Mann in der Midlifecrises – und im Pazifik

Herbert Clyde Lewis - Gentleman über Bord (Cover)

Eigentlich führt er eine Bilderbuchexistenz, wie sie sich viele andere Menschen nicht nur in den Dreißiger Jahren in Amerika erträumten. Als Eigner einer Börsenmaklerfirma muss er sich um sein Auskommen keinerlei Gedanken machen. Seine Frau Olivia hat er drei Monate nach dem Kennenlernen geheiratet und zusammen mit ihr zwei Kinder. Man lebt in einer Vierzimmerwohnung am Central Park und hat sich sehr komfortabel eingerichtet im begüterten Leben dort in New York.

Und doch ist da diese Leere in ihm, die er nun nach sieben Jahren Ehe mit der Schiffsreise von Hawai bis zum Panamakanal füllen möchte.

Viele Tage an Bord der Arabella, in Gesellschaft einer kleinen Reisegruppe und einer ebenso handverlesenen Besatzung, so sieht es der Plan eigentlich vor. Doch dann ist dann ist es ausgerechnet ein Ölfleck, der das Unglück auslöst, das Standish mitten hinein in den Pazifik befördert. In einer schon fast slapstickhaften Nummer rutscht Standish in dieser Öllache aus, als wäre es eine Bananenschale. Er fasst nicht mehr Tritt und so heißt es schon auf den ersten Seiten des Buchs Gentleman über Bord.

Gentleman über Bord

Männer vom Schlage Henry Preston Standishs stürzten nicht einfach so von einem Schiff mitten in den Ozean. So etwas machte man schlichtweg nicht, das war alles. Es war eine blöde, kindische, ungezogene Tat, und wenn Standish jemanden hätte um Verzeihung bitten können, dann hätte er es getan. Die Leute daheim in New York wussten, dass Standish ein ausgeglichener Typ war. Seine Erziehung und Ausbildung hatten die Ausgeglichenheit hervorgehoben. Selbst als Heranwachsender hatte Standish immer das Richtige getan. Weit entfernt davon, blasiert zu sein oder einen Kult mit Umgangsformen zu treiben, war Standish wahrhaft ein Gentleman von der guten, unaufdringlichen Sorte.

Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord, S. 29

Eigentlich ist er geneigt, sich für die Umstände entschuldigen zu wollen und wagt es zunächst beschämt gar nicht, laut nach Hilfe zu rufen, allzu unschicklich ist dieser Vorfall für ihn. Doch als sich das Schiff unaufhaltsam vom wassertretenden Standish entfernt, muss er doch nach Hilfe rufen.

Diese bleibt allerdings aus, denn außer Standish befand sich zum Zeitpunkt des Unglücks niemand an Deck. Und auch in der Folge wird der Gang über Bord nicht bemerkt werden, wie Herbert Clyde Lewis ausführlich zu schildern weiß. Es kommt zu einer unglücklichen Verkettung von Umständen, durch die weder beim Frühstück noch im Laufe des Tages das Fernbleiben des Gentleman auffällt. Verwechslungen, unglückliches Timing und schlichtes Pech sorgt dafür, dass die Arabella weiterhin Kurs auf Panama hält, während Standish im Wasser des Ozeans tritt.

Dies entwickelt sich für den Börsenmakler erst langsam zum Problem. Denn eigentlich ist das Wasser von einer angenehmen Temperatur, Haie gibt es in diesen Breiten nicht – und so schaukelt Standish auf den Wellen und sinnt über sein Leben und das Unglück an Bord der Arabella nach. Doch je weiter der Roman voranschreitet, umso prekärer wird die Lage. Ob man auf dem Schiff die Abwesenheit des Mannes noch rechtzeitig bemerkt?

Viele Gefühle auf kleinstem Raum

Herbert Clyde Lewis hat mit Gentleman über Bord einen Roman geschrieben, der auf allerkleinstem Raum spielt. Es sind gerade einmal zehn Kapitel, die die etwas mehr als hundertfünfzig Seiten gliedern, die außer dem Schiff Arabella und dem im Meer treibendenden Standish keinen Schauplatz bieten. Den minimalen Raum weiß Lewis aber zu nutzen, indem er seinen Protagonisten und mit ihm auch uns alle Gefühlsregungen durchlaufen lässt. Melancholie, Trauer, Komik, Verlustängste – all das steckt in den Seiten von Gentleman über Bord.

Jochen Schimmang zeichnet in seinem Nachwort das Leben von Herbert Clyde Lewis nach, der 1909 als Sohn russisch-jüdischer Migranten in Brooklyn zur Welt kam und dem zeitlebens ein ähnliches Pech als Schriftsteller wie seinem Gentleman im Pazifik beschieden war. Er musste sich abstrampeln und von Job zu Job hangeln, Drehbücher verfassen – und geblieben ist ihm ebenso wenig, wie von Standish dort in den Weiten des Ozeans. Mit gerade einmal 41 Jahren starb Herbert Clyde Lewis. Umso schöner, dass ihm nun 73 Jahre nach seinem Tod im Jahr 1950 postum die Ehre einer Wiederentdeckung zuteil wird.

Fazit

Ein großartiges Büchlein, in dem man gerne versinkt wie Standish in den Weiten des Pazifiks. Das ist Literatur, mit der man keinesfalls Schiffbruch erleidet!


  • Herbert Clyde Lewis – Gentleman über Bord
  • Aus dem Englischen von Klaus Bonn
  • Mit einem Nachwort von Jochen Schimmang
  • ISBN 978-3-86648-696-6 (Mare)
  • 176 Seiten. Preis: 28,00 €

Simone Buchholz – Unsterblich sind nur die anderen

Befinden wir uns an Bord des Fliegenden Holländers oder doch eher im Inneren eines Buddelschiffs? Simone Buchholz wagt in Unsterblich sind nur die anderen die Abkehr von ihren Chastity Riley-Krimis und schickt ihre Figuren auf einen ebenso skurrilen wie verwirrende Reise an Bord der MS Rjúkandi, einer Art schwimmendes Hotel California.


Eines vorweg: wer eine Literatur der Eindeutigkeit schätzt, der dürfte an diesem Buch wenig Freude haben. Denn wo sich Chastity Riley bei ihren Ermittlungen, Flirts und Abstürzen noch auf dem festen Boden des Hamburger Hafens und drumherum bewegte, so ist der Untergrund dieser Geschichte mehr als schwankend.

Von Aalborg bis nach Island

Alles beginnt mit zwei Frauen namens Malin und Iva, die an Bord der Fähre MS Rjúkandi einchecken, um eine Überfahrt mit der Nordseefähre von Aalborg bis nach Island anzutreten. Schon die Unterkunft in einem Hotel ganz ohne Bewertungen setzt den Ton für die folgenden Ereignisse.

Die blaue Leuchtreklame des Hotels war exakt genauso hoch wie der zweistöckige Bau, dem sie aus dem Kopf wuchs. Das Teil schüttete kaltes Licht über den Strand und über die erste Reihe der Wellen. Der Nebel hatte sich verzogen, die Luft war klar und knisterte auf den Lippen.

Desperate Rooms„. Iva zog an ihrer Zigarette und tippte mit dem Mittelfinger an Malins Stirn. „Ernsthaft?“

Simone Buchholz – Unsterblich sind nur die anderen, S. 14 f.

Das Motiv der Einsamkeit und der leichten Verrückung der Realität ist ein Markenzeichen des ganzen Buchs, dessen Geschehen sich dann an Bord der MS Rjúkandi verlagert. Dort wollen die beiden Frauen den Spuren ihrer Freunde Tarik, Mo und Flavio nachgehen, die mit ebenjener Fähre vor einigen Wochen reisten, deren Spur sich aber im Nichts verliert.

Irgendetwas an Bord stimmt nicht

Simone Buchholz - Unsterblich sind nur die anderen (Cover)

Und so begeben sich die Frauen an Bord und lernen neben dem Schiffsmusiker Ola die Besatzung des Schiffs kennen, bei der sich das Gefühl der Entrücktheit von der Realität fortsetzt. Die Crew an Bord besticht durch unfassbar gutes Aussehen, besonders der Kapitän namens Richard William Jones hat es Iva mit seiner Attraktivität und Aura angetan.

Je länger sich der Aufenthalt an Bord der Rjúkandi hinzieht, umso deutlicher werden die Zeichen, dass hier an Bord etwas nicht stimmen kann. Nicht nur, dass nach dem Ablegen der Fähre das Hotels mitsamt seiner Desperate Rooms verschwunden zu sein scheint, auch mit der Besatzung des Schiffs stimmt etwas nicht. Und als Iva dann den Versuch eines Abgangs von Bord unternehmen möchte, muss sie feststellen, dass die Weisheit des alten Eagles-Klassikers Hotel California einmal mehr zutrifft: „You can check out any time you like, but you can never leave“.

Meeresgöttinnen, der Fliegende Holländer und knackige Dialoge

Unsterblich sind nur die anderen ist ein Buch, das mit vielen ganz unterschiedlichen Motiven und Stilen spielt. Denn neben den gewohnt knackigen Buchholz-Dialogen und pointierten Beschreibungen sind es auch Tagebucheinträge und lyrische Zwischenpassagen, die das Geschehen ergänzen. Hier sprechen Meeresgöttinnen wie die Nereiden oder werden Legenden wie die der keltischen Meerjungfrau Lí Ban neu interpretiert.

Das Ganze verschränkt Buchholz mit einer teils kafkaesken, teils fantasy-haften Erzählung von Bord der MS Rjúkandi, in der die 1972 geborene Autoren alle möglichen Seemythen zitiert. Das reicht vom Fliegenden Holländer über die Titanic bis hin zu traurigen Legenden wie der des Schiffes St. Louis oder einer Neuinterpretation des Bermudadreiecks, das sich bei Buchholz zwischen Aalborg, Torshavn auf den Färöern und Seydisfjördur auf Island erstreckt.

Insgesamt ist Unsterblich sind nur die anderen ebenso anspielungsreich wie auch rätselhaft. Die Schilderungen der (Irr)Fahrten der MS Rjúkandi ergeben gerade in Zusammenhang mit dem vorgeschalteten Buddelschiff-Prolog viele Interpretationsmöglichkeiten, bei denen sich für mich keine eindeutige Lesart angeboten hat. Vielmehr glich mein Leseerlebnis dem Lauschen von Sprechen oder Singen unter Wasser. Vieles von der Sprache bis hin zu den Motiven wirkt vertraut – und dennoch ist dieses modern interpretierte Seemannsgarn letzten Endes zumindest für mich nicht ganz aufzulösen.

Frappant auch, wie sich das Meermotiv in diesem literarischen Herbst durch die Neuerscheinungen vieler weiterer Autor*innen zieht. So interpretiert etwa Monique Roffey in Die Meerjungfrau von Black Conch den Meerjungfrauen-Mythos neu, Theresia Enzensberger schickt eine junge Frau auf eine rätselhafte schwimmende Seestatt in der Ostsee oder Mariette Navarro beschert ihrer Kapitänin eines Frachters bei ihrer Fahrt Über die See einige mysteriöse Erlebnisse. Gerade mit letzterem Werk weist Unsterblich sind nur die anderen in meinen Augen durchaus einige Berührungspunkte auf, ist es doch ebenso rätselhaft und eindringlich wie Buchholz‘ Prosa.

Fazit

Unsterbliche Kapitäne, eine segelnde Schiffsbesatzung, ungewöhnliche Meerjungfrauen und ein Schiff, das kein Entkommen bietet. Das sind nur einige der Einfälle, die Simone Buchholz in Unsterblich sind nur die anderen aufbietet und so mit ihrem modernen Seemannsgarn ein ebenso rätselhaftes wie luzides Leseerlebnis schafft.

Weitere Meinungen zum Buch gibt es auch beim WDR und im NDR.


  • Simone Buchholz – Unsterblich sind nur die anderen
  • ISBN 978-3-518-47276-7 (Suhrkamp)
  • 265 Seiten. Preis: 18,00 €