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Anne Weber – Bannmeilen

Erkundung in der Peripherie. Anne Weber begibt sich auf Spaziergänge an den Außenrändern von Paris – und entdeckt eine Welt, die im krassen Gegensatz zum Chic der französischen Hauptstadt steht. Zusammen mit ihrem Reisegefährten Thierry durchstreift sie die Banlieues, jene Außenbezirke von Paris, in die es Touristen eher weniger verschlägt. Auf ihren verschriftlichten Erkundungen namens Bannmeilen entdeckt sie dabei Kosmen, die das heutige Frankreich in seiner ganzen Zerrissenheit wenigstens ein bisschen besser verstehen lassen.


Das „Neun-Drei“ hat es Anne Weber angetan. So wird jenes im Nordosten von Paris gelegene Département nach seiner Nummerierung geheißen, das eigentlich auf den Namen Département Saint-Denis hört. Es ist eine Welt für sich, die sich Anne Weber dort auftut. Fast sechshundert Kilometer wird am Ende die Strecke messen, die sie bei ihren Streifzügen durch die Welt von „le neuf-trois“ zwischen Bobigny, Saint-Denis und Noisy-le-Grand zurückgelegt haben wird.

Diese Spaziergänge oder Streifzüge, wie sie der Untertitel dieses Romans nennt, unternimmt Anne Weber allerdings nicht alleine. Gefährte der Übersetzerin und Autorin ist Thierry, gewissermaßen ein Ureinwohner von Neun-Drei. „Viel gereist und zugleich aus dem Neun-Drei nie herausgekommen“ sei er, wie es in der dem Buch vorangestellten Vorstellung von Thierry heißt. Der Vater von algerischer Abstimmung, er selbst von seiner Geburt an bis in die Gegenwart hinein immer seinem Département verbunden, ist er der perfekte Gefährte für die Erkundungen, die Anne Weber zusehends faszinierter anstrebt.

Auf Erkundung in Neun-Drei

Thierry treibt ein Filmprojekt um, das die massiven Umgestaltungen und Eingriffe in das Erscheinungsbild von Neun-Drei dokumentieren soll, die die Olympischen Spiele im Sommer 2024 mit sich bringen werden. Und Anne Weber beschäftigt die Frage , warum sie sich bislang immer nur gewissermaßen im geschützten Inneren von Paris aufgehalten hat und den Gang über diese von der Stadtautobahn Périphérique so klar umrissenen Welt hinaus nie gewagt hat.

Anne Weber - Bannmeilen (Cover)

Zusammen beginnen die beiden also nun mit den Erkundungen der Banlieues, durchmessen mal trostlose Hochhaussiedlungen, mal steppenähnliche Flächen, die nur von der Stadtautobahn N2 durchschnitten werden. Mal thronen wie hingeworfene Hypermarchés in der Einöde, mal entdecken die beiden ein Geflüchtetenlager draußen in der Peripherie.

Bannmeilen dokumentiert mit viel Beschreibungskraft und dem Auge fürs Detail die Spaziergänge, die die Erzählerin und Thierry immer wieder an unterschiedliche Orte bringen. Stets gibt es dabei Konstanten und Muster, in die beide immer wieder verfallen und von denen sie begleitet werden. Neben der Neugier, der Ironie und dem Spott zwischen Thierry und Anne Weber als stetem Begleiter bei allen Erkundungen sind es auch Verhaltensweisen, die auf ihren Ausflügen bald zur Routine zwischen den beiden werden.

Erkundungen zwischen Brutalismus und Hähnchengrill

So liest Weber bei ihren Ausflügen immer wieder unterschiedliche Fundstücke auf, die ihr neben den Notizen als Erinnerungen an die Ausflüge zu dienen. Auch kehren die beiden Flaneure immer wieder in der Kneipe von Rachid ein, dessen Kosmos an eigenwilligen Gästen sich für die beiden ebenso öffnet wie die Welten, durch die sie spazieren und von denen Weber uns erzählt.

Es sind Welten zwischen Hoffnungslosigkeit und gesellschaftlicher Abgrenzung, Welten zwischen dem kalten Brutalismus einer Wohnanlage „Les Espaces d’Abraxas“ in Noisy-le-Grand und dem Viertel von Saint-Ouen, in dem man sich fast schon wieder in Paris wähnen könnte.

Dabei dokumentiert Bannmeilen vor allem einen Bild des Durcheinanders und Nebeneinanders auf kleinem Raum. Moscheen, Synagogen, tamilische Communitys, Schwarzafrikaner oder Menschen aus Maghreb-Staaten, dazu große Supermärkte und kleine Cafés, gigantische Wohnblöcke mitsamt winziger Balkone, Drogen, zu Hähnchengrills umfunktionierten Einkaufswagen, viel Schutt und immer wieder Autobahnen, die die Gebiete durchschneiden.

Es ist ein Bild der Uneinheitlichkeit, das auch eine soziologische Note besitzt, etwa wenn Weber die Koexistenz unterschiedlichen Einwanderergruppen beschreibt, die sich trotz der räumlichen Enge gegenseitig abgrenzen, oder vom Erbe des Kolonialismus in Algerien erzählt, der bis heute auf die französische Gesellschaft einwirkt. So lassen sich die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte in Frankreich, die Verachtung und Ignoranz für die Banlieues und die sich im Kreis drehenden gesellschaftlichen Debatten über diese Welten nach der Lektüre von Webers Erkundungen zumindest in Ansätzen etwas besser verstehen.

Ein Marathonläufer, chouffeurs – und ein wenig Monotonie

Verbunden wird all das mit Leitmotiven wie dem vergessenen algerische Marathonläufer Boughéra El Ouafi, dessen Spuren sie auf ihren Streifzügen durch die Viertel immer wieder begegnen oder den chouffeurs, jenen Alarmposten, die sich über akustische Meldeketten verständigen, um das Nahen von Polizei in den Banlieues anzukündigen. So entstehen in Bannmeilen ein dichtes Beschreibungsbild jener terra incognita außerhalb der périphérique, das sonst meist nur in Klischees und Zerrbildern existiert.

Dass das Ganze dabei abgesehen vom beschriebenen Inhalt in seiner Form nicht recht abwechselt, sich Spaziergang an Spaziergang mit immergleichen Ritualen und viel Frotzeleien reiht, macht das Buch neben aller blicklichen und beschreibenden Genauigkeit zugleich etwas gleichförmig, um nicht zu sagen monoton.

Wer sich davon nicht abschrecken lässt, der bekommt mit Anne Weber eine neugierige und genaue beobachtende Reiseleiterin in diese Welt im Nordosten Paris, die mit ihren Schilderungen nicht nur die so unterschiedlichen Lebenswelten dort beleuchtet, sondern zugleich auch eine Welt im Untergang dokumentiert, die spätestens nach den Olympischen Spielen in wenigen Monaten endgültig Geschichte sein wird.


  • Anne Weber – Bannmeilen
  • ISBN 978-3-7518-0955-9 (Matthes & Seitz Berlin)
  • 301 Seiten. Preis: 25,00 €
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Archil Kikodze – Der Südelefant

Ich finde mich auf der Cinamzgvrischwili-Straße wieder. Für meine heutige Route gab es von Anfang an keinen Plan, aber nachdem ich dem Haus einen Besuch abgestattet habe, wird sie noch chaotischer. Jetzt will ich heim, aber bei mir ist ja Tazo, und zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal im Leben bin ich von ihm genervt, so sehr verlangt es mich danach, mich auf mein Sofa fallen zu lassen, das Telefon, den Rechner, das Internet abzuschalten, mich abzuwenden von allem und andertalb Tage lang bloß an die Decke zu starren.

Bis heute Abend wird all dies jedoch nicht möglich sein, und ich bezweifele, ob ich es heute Abend hinkriege, lange vom Rechner fernzubleiben. Und so werde ich herumlaufen, bis es so weit ist, werde frische Luft schnappen.

Archi Kikodze – Der Südelefant, S. 184

Ein Mann wandert durch Tbilisi. Seine Wohnung hat er einem alten Freund für ein Tête-a-tête zur Verfügung gestellt und nun durchmisst er die Straßen und Gassen der georgischen Hauptstadt – und seine eigenen Erinnerungen.


Schon früh morgens verlässt der Erzähler sein Heim, das er seinem alten Freund Tazo zur Verfügung gestellt hat. Von seiner Nachbarschaft aus wandert er in den nahegelegenen Park, trifft alte Bekannte, kehrt in Cafés und McDonalds-Filialen ein, immer in Begleitung seines Handys, seines Androiden, wie er es nennt. Ihn treiben die Erinnerungen an seine Ex-Frau und seine Tochter um, seine eigene Familiengeschichte, sein Werdegang als Regisseur, seine Freundschaften und die Vergangenheit, die sich in Tbilisi an allen Ecken und Enden offenbart.

Ein wacher Verstand ist vonnöten

Archil Kikodze - Der Südelefant (Cover)

Der Südelefant ist ein Buch, das man mit wachem Verstand lesen muss, und das keine Unaufmerksamkeit verzeiht. Archil Kikodze hat ein ungemein dichtes Textgewebe angefertigt, bei dem innere und äußere Handlung beständig ineinanderfließen, sich Erinnerungsschichten überlagern und die Gedanken immer wieder abschweifen. Das macht die Lektüre spannend, aber eben auch wirklich fordernd. Genauso wie bei einem Stadtspaziergang lohnt es sich, mit offenen Augen und offenem Geist durch Kikodzes Tbilisi zu wandern. Und wie bei einer interessanten Stadt würde ich behaupten, dass man auch beim ersten Besuch in diesem literaturgewordenen Straßen- und Erinnerungslabyrinth keinesfalls alles erfasst.

Dieses Buch lädt dazu ein, es ein oder vielleicht sogar noch zweimal hintereinander zu lesen, um die Abschweifungen und Bezüge wirklich zu erkennen. Denn Archil Kikodze mutet den Leser*innen einiges zu. Er geht bis in die Zeit des georgischen Bürgerkriegs zurück, erzählt von den verschiedenen Einflüssen auf die Stadt und ihre Bewohner*innen

Ein Blick auf Tbilisi und Georgien

Denn wenn Der Südelefant etwas zeigt, dann das: Tbilisi und Georgien im Ganzen ein heterogenes Land, das vielen Verwerfungen und Veränderungen unterworfen war und ist. Mingrelien, Abchasien, Swanetiens – alle diese Regionen haben Einfluss und prägen den Charakter von Tbilisi, den des Landes und den des Erzählers, dessen wechselvolle Vergangenheit sich erst langsam aus dem Text herausschält. Die Beziehung zu seinem Kind, sein Schaffen als Regisseur, sein Scheitern, all das enthüllt sich allmählich und braucht jenen schon angesprochenen wachen Geist, um alles zu erfassen. Wer vor solcher Leseearbeit zurückschreckt, der wird mit Archil Kikodzes Buch freilich nicht glücklich werden.

Alle anderen, die Herausforderungen bei der Lektüre zu schätzen wissen und ein Buch auch zur Wiederlektüre zur Hand nehmen, sei dieses Buch ans Herz gelegt, gerade eingedenk der Tatsache, dass georgische Literatur hierzulande ja normalerweise selten erhältlich ist und uns hier ein kluger und gebildeter Erzähler an die Hand nimmt und durch die Stadt strawanzt.

Schön, dass dieses Buch im Rahmen von Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 von Nino Haratischwili und ihrem Mann Martin Büttner aus dem Georgischen ins Deutsche übertragen wurde. Da verzeiht man auch kleine Inkonsistenzen in der Übersetzung, etwa wenn einmal vom Fangesang der Anhänger des FC Liverpool die Rede ist, die Liverpool, du bist nicht alleine singen, und in einer anderen Erinnerungspassage dann aber das bekannte „You’ll never walk alone“ anstimmen.

Fazit

In der Tradition großer Flaneurs- und Tagesromane, allen voran natürlich James Joyce‘ Ulysses ist Der Südelefant von Archil Kikodze ein anspruchsvoller Roman, der wie ein literaturgewordenes Schlüsselloch funktioniert, das uns in Form dieses Tbilisi-Spaziergangs einen Blick auf Georgien und dessen wechselvolle Geschichte erlaubt. Außergewöhnliche Literatur, die es ohne Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse wahrscheinlich nicht ins Deutsche geschafft hätte – gut so, dass das geschehen ist!


  • Archil Kikodze – Der Südelefant
  • Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner
  • ISBN 978-3-550-08197-2 (Ullstein)
  • 272 Seiten. Presi: 22,00 €
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Shida Bazyar – Drei Kameradinnen

Ein Buch auf der Höhe der Zeit: Rassismus, Ausgrenzung, Ernährung, Klassismus und noch viel mehr. Shida Bazyar blickt auf alle aktuellen Debattenthemen – kreiert dabei allerdings keinen überzeugenden Roman.


Will man in einigen Jahrzehnten wissen, welche Debatten im Jahr 2021 das tendentiell eher linke Spektrum der Gesellschaft beschäftigt haben, kann man einfachzu Shida Bazyars Roman Drei Kameradinnen greifen. Hierin lässt sich alles nachlesen, was die Diskurse der Zeit bestimmte. Das große Feld der Identitätspolitik wird hier beackert, die Ausgrenzung von Menschen mit fremden Namen oder Aussehen. Die Verzweiflung und Angst von Menschen mit ausländischen Wurzeln angesichts einer jahrelang nicht aufgedeckten Mordserie Rechtsradikaler. Oder auch vermeintliche Kleinigkeiten wie subtile Ausgrenzung und Diskriminierung im Alltag, auch Mikroagressionen genannt. All das beschreibt Shida Bazyar in ihrem Roman ausufernd und mit hohen Diskussionsanteil.

Eine schriftgewordene Identitätspolitik-Debatte

Sie wählt hierfür die Konstellation dreier Freundinnen, für die all diese Erfahrungen Alltag sind. Da ist die Ich-Erzählerin Kasih, die stets angepasste Hani und Saya, die in einem dem Buch vorangestellten Artikel als „agressive und verblendete“ Brandstifterin vorgestellt wird, deren Tat den Tod mehrerer Menschen zur Folge hatte. Bis es allerdings zu diesem schon auf dem Cover angedeuteten Brand kommt, vergehen viele Seiten. Sehr viele Seiten. Auch Shida Bazyar scheint um das bedenkliche Durchhängen ihres dramaturgischen Spannungsbogen gewusst zu haben, denn sie lässt Kasih ihre Erzählung immer wieder mit Vorausschauen unterbrechen.

Man könnte also auch sagen, dass unsere Internetsituation schuld an allem ist. Dass Saya, anstatt heute auszurasten, bestimmt entspannt und ausgeglichen gewesen wäre, wenn sie gewusst hätte, dass sie einfach zu mir nach Hause kommen und sich mit den positiven Geühlen ablenken kann, die jede beendete und jede neu angfangene Folge in ihr freisetzen. Jetzt gerade würde ich mich auch viel lieber mit dem Serien ablenken, statt weiterzuschreiben, oder habt ihr gedacht, ich mache das hier gerne?

Shida Bazyar – Drei Kameradinnen, S. 210
Shda Bazyar - Drei Kameradinnen (Cover)

Solcherlei Einwürfe, mit denen Bazyar aus der erzählten Zeit heraustritt, gibt es einige im Buch. Leider schafft sie es trotz dieses Kniffs nicht, durchgängig Interesse für die Entwicklungen ihrer Geschichte zu erzeugen. Denn Kasih, Hani und Saya reden und reden und reden. So beginnt alles mit einer (erfundenen Episode) über ein Missverständnis mit Sitzplätzen in einem Flugzeug, das sich zu einer Betrachtung über Rassismus auswächst. Fortan durchschreiten die jungen Frauen alle Debattenräume, die in unserer Gesellschaft gerade so bereithält und tauschen ihre Erfahrungen und Ansichten aus.

Das tumbe System der Arbeitsagenturen wird hierbei genauso behandelt wie der moralische Aspekt unserer Ernährung oder das Erstarken des rechten Randes (hier ist es eine sogenannte Flügelpartei, die die politischen Debatten dominiert). Bazyar spielt alle diese Themen durch und inszeniert dabei sogar in einem Rückgriff auf die Popkultur der 90er eine trashige Talkshow, wie sie zu dieser Zeit bei den privaten Sendern populär war. Zwar sind diese Einfälle nett, doch in der Gesamtheit dieses andauernden Diskurses über alle zeitgeistigen Themen stellte sich bei mir allmählich ein Gefühl der Ermüdung ein.

Ein Spiel mit Wahrheit und Schein

Gelang Mithu Sanyal in ihrem ähnlich inmitten aller linker Diskurse stehenden Romandebüt Identitti eine präzise und fokussierte Inszenierung ihres erzählerischen Feldes, ist dieses Feld bei Bazyar leider reichlich unkonturiert und ausgefranst. Drei Kameradinnen bietet abseits der ewigen Gespräche und Debatten leider literarisch nur mittelmäßig Interessantes und ist eher buchgewordener Leitartikel oder Debatteneinwurf denn ein mitreißendes Erzählwerk. Zwar gibt es mit der Mordserie von Neonazis und der (medialen) Debatte über die Taten oder die Brandstiftung Leitmotive, sie tragen das Buch allerdings nicht. Oder anders gesprochen: der Rahmen für das Buch steht, der Inhalt überzeugt aber leider nicht so ganz. Da hilft auch das ständige Spiel mit Wahrheit und Fälschung wenig.

Ich habe eine Schreibpause eingelegt, für wenige Minuten. Ihr habt das nicht gemerkt, denn ohne mich und meine wohlwollende Informationsvergabe seid ihr nun mal aufgeschmissen, ohne mich checkt ihr hier gar nichts. Ihr braucht mich, aber ich kann euch auch verarschen, ohne dass ihr irgendwas davon merkt. Ich kann die Tastatur schweigen lassen, schreiben und brüllen und ausrasten, ohne dass ihr jemals davon erfahrt. Weil es mir hier aber ja um Transparenz geht, erfahrt ihr natürich doch jedes Detail über das, was ich tue, sonste könnte ich das hier ja auch gleich lassen.

Shida Bazyar – Drei Kameradinnen, S. 220

Immer wieder reflektiert Kasih ihr eigenes Berichten und das, was sich die drei Kameradinnen so gegenseitig erzählen. Die junge Frau als unzuverlässige Erzählerin ist interessant, mit der Dauer des Buchs schleift sich dieser Kniff aber zusehends ab. Trotz vielversprechender Ansätze kommt das Buch nicht zu einem befriedigenden Ergebnis, auch wenn das Ende für sich durchaus überzeugen kann. Insgesamt ist Drei Kameradinnen in meinen Augen aber leider ein Buch mit vielen modischen Themen, die aber an anderer Stelle überzeugender behandelt wurden. An dieser Stelle sei nur an Streulicht von Deniz Ohde oder die eben schon erwähnte Mithu Sanyal verwiesen. Ihre Bücher besitzen eine literarische Klasse, die Shida Bazyars Werk zumindest für mich leider vermissen lässt.

Ganz anders sieht das beispielsweise Maryam Aras auf dem Blog 54Books. Und auch auf dem Blog Letteratura ist man von diesem Buch überzeugt. Ich lade einfach zur unabhängigen Meinungsbildung ein und freue mich über Rückmeldungen!


  • Shida Bazyar – Drei Kameradinnen
  • ISBN 978-3-462-05276-3 (Kiepenheuer Witsch)
  • 352 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ein Land im freien Fall

Karina Sainz Borgo – Nacht in Caracas

Wir waren kein Land mehr, wir waren eine Klärgrube.

Sainz Borgo, Karina: Nacht in Caracas, S. 107

Venezuela, Caracas: was weiß man schon über dieses Land und seine Hauptstadt? Am ehesten hat man noch Hugo Chavez oder seinen Nachfolger, Nicolas Maduro, vor Augen, immer im Trainingsanzug. Schimpfen auf Amerika, Aufstände im Land, Kämpfe mit dem Oppositionsführer Nicolas Guaidó. Nahrungsmittelknappheit, Revolten und das trotz oder aufgrund der besonders reichen Erdölvorkommen. Aber abseits von diesen reichlich schwammigen Eindrücken? Karina Sainz Borgos Debüt Nacht in Caracas gibt da Nachhilfe.

In ihrem Buch schildert sie das Leben ihrer Ich-Erzählerin Adelaida Falcon. Zu Beginn des Romans muss sie ihre Mutter zu Grabe tragen, und schon diese normale Aufgabe ist alles andere als einfach. Für ihre Mutter wie für Adelaida galt: zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Aufgrund der Hyperinflation ist das Geld entwertet, die Korruption grassiert. So ist ein menschenwürdiges Begräbnis kaum möglich, was auch die junge Frau aus Caracas am eigenen Leib erfahren muss.

In den Straßen von Caracas

Sie lebt in einem Moloch in den Straßen von Caracas. Die Armut greift um sich, Banden kontrollieren sogar die Abgabe von solchen Dingen wie Monatsbinden. Drinnen verschanzt man sich in den Wohnungen, während draußen der Bürgerkrieg tobt. Die Hijos de la Revolucion, eine Art staatlich legitimierter Schlägerbande, machen das Leben unsicher, erpressen, brandschatzen und morden. Wer kann, der verlässt das Land oder versucht, irgendwie zu überleben.

Diese Überlebenskämpfe in einer so menschenfeindlichen Umgebung, diese fängt Sainz Borgo wirklich beeindruckend ein. Die Armut, die omnipräsente Furcht und Gewalt, die Gefahr, in der die Menschen schweben – es liest sich so bedrückend wie eingängig. Immer wieder fallen Sätze, die den Atem stocken lassen aufgrund ihrer Eindrücklichkeit und Bildhaftigkeit:

Darauf reduzierte sich inzwischen das Leben: auf die Jagd gehen und lebendig zurückkehren. Darin bestanden unsere elementarsten Handlungen, sogar das Beerdigen unserer Toten.

Sainz Borgo, Karina: Nacht in Caracas, S. 16

In schnellen Kapiteln, machmal fast impressionistisch hingetupft, schafft Karina Sainz Borgo ein beeindruckendes Porträt eines Landes im freien Fall. Sie setzt in der Figur von Adelaida Falcón dem Überlebenswillen der einfachen Bevölkerung ein Denkmal und zeigt, was die Bolivarische Revolution in diesem so ressourcenreichen Land angerichtet hat. Keine Wohlfühllektüre, aber ungemein eindringlich, gut geschrieben und nachdenkenswert.

Ins Deutsche übertragen wurde dieser Roman von Susanne Lange.

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María Cecilia Barbetta – Nachtleuchten

Ein Roman wie eine Stadt voller Winkel und Gassen – in Nachtleuchten versucht sich María Cecilia Barbetta an einem großen Panorama Argentiniens im Umbruch zwischen 1974 und 1975. In meinem Falle mit durchwachsenem Erfolg.

Schon der Blick in die Inhaltsangabe macht klar – hier schreibt jemand mit einem großen Stilwillen und Formbewusstsein. Genau 100 Kapitel weist Barbettas Roman auf, aufgeteilt in drei große Teile á 33 Abschnitte (33 die magische Zahl, wie es im Buch thematisiert wird) sowie ein Schlusskapitel namens Die vierte Dimension. Hier zeigt sich der Anspruch der Autorin, die ihr Geschichte als Brennglas für die Umsturzsituation 1974/1975 in Argentinien nach Juan Péron benutzt.

Die in den drei Teilen im Mittelpunkt stehenden Figuren erleben alle aus eigenen Blickwinkeln den Alltag und die Veränderungen im Land, wobei Barbetta vom Kleinen auf das Große kommt. Ihre Geschichte spielt in Ballester, einem Viertel Buenos Aires, das auch die Heimat von María Cecilia Barbetta selbst  ist. Dort kam die Autorin 1972 zur Welt, siedelte allerdings 1996 nach Deutschland über. Ihren Roman hat sie auf Deutsch verfasst. Und hier liegt für mich nun der Reiz ihres 521 Seiten starken Textes, den Barbetta gewissermaßen in spanischem Deutsch schreibt. Sie selbst drückt es wie folgt aus:

Das Überbordende gehört zu mir, es gehört zu Lateinamerika. es gehört zum Katholizismus, meine Sprache ist blumig und ich hab ein großes Herz für Kitsch.

Damit schafft sie eine Gratwanderung zwischen spanischer und deutscher Welt – und bringt damit auch ein Kapitel argentinischer Geschichte ins deutsche Bewusstsein, welches nicht allzu präsent ist. Dies gelang ihr bereits so gut, dass es für einen Ausschnitt des Romans den Alfred-Döblin-Preis gab. Und nun befindet sie sich mit Nachtleuchten auch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2018. Doch befindet sich die Autorin zu recht auf dieser Liste und ist ihr gar noch mehr zuzutrauen?

Würdig für den Deutschen Buchpreis 2018?

Ich selber hatte meine Probleme mit dem Buch – denn es ist für meinen Geschmack zu wuchtig, zu umfassend und verliert sich dabei selbst aus den Augen. Was ein wenig überrascht, da die durchkomponierte Strenge des Inhaltsverzeichnisses ja etwas anderes suggeriert.

Doch mein Problem mit Nachtleuchten lässt sich am besten mit einem Zitat aus dem Anfang des Romans von Seite 18 illustrieren:

Die Mädchen setzten sich schweigend in Bewegung. Sie schritten würdevoll durch das Kirchenschiff. Sie schritten wie die Nereiden. Sie schritten wie die Begleiterinnen des Poseidon, wie die verspielten Bewohnerinnen der Höhlen der Tiefen des Ozeans, sie schritten selbstvergessen wie die Beschützerinnen der Schiffbrüchigen, die edlen Töchter des Nereus und der Doris, Naturgottheiten, anmutige Nymphen, die auf Namen hörten, die wie Meeresrauschen klangen und an Schaum erinnerten, sie schritten wie Glauke, Eudora und Ligea, wie Eurydike, Klio und Xantho, wie Galateia, Kalypso, Thetis und Arethusa. Die Jungfrauen des SANTA ANA schritten, als erschlösse sich ihnen die Sprache der Delphine, Seesterne und Hippokampen.

Barbetta, María Cecila: Nachtleuchten, S. 18

Diese Pleonasmen finden sich häufig im Text. Für mich sind diese von redundanter Natur, die für mich eher die Belesenheit und Sprachmacht der Autorin zeigen sollen, denn den Text verbessern oder den Lesefluss ihrer Geschichte erhöhen.

Dieser Stilwillen zeigt sich an unzähligen Stellen im Buch – so lässt es die Autorin selten mit einer Zuschreibung gut sein, sondern häuft ganze Berge von Adjektiv- und Substantivgewittern auf, die meine Lektüre immer wieder hemmten. Ein letztes Beispiel sei hier noch zitiert, um einen Eindruck von der Beschaffenheit Barbettas Sprache zu geben:

Hier hast du deinen einzigen schwülstigen Matschhaufen, eine einzige faulige Melange aus Blutorange, Nelkenrot, Lippenstiftrot, Erdbeerrot, Merinorot, Rosenrot, Karminrot, Nagellackrot, na klar, wenn man in den eigenen vier Wänden eine Putzfrau gefangen hält und sich an den Rund-um-die-Uhr-Luxus leisten kann, ist es ja egal, Brillantrot, Mohnrot, Kirschrot, Blutrot, dann macht es überhaupt keinen Unterschied, Glutrot, Paprikarot, Hennarot, Leinrot, Saturnrot, Scharlachrot, Gelbrot, Tomatenrot angelaufen: denn dann putzt mir keiner hinterher, Sonnenuntergangsrot, Tizianrot, Safranrot, Purpurrot (…).

Barbetta, María Cecilia: Nachtleuchten, S. 119 f.

Der Abschnitt hier ergeht sich im Übrigen noch eine weitere halbe Seite in der Beschreibung der Rottöne, die in den Dialog eingeschnitten werden. Man kann das stilistisch brillant finden – für mich hingegen ist es nur anstrengend und vermindert den Lesegenuss dieser Geschichte erheblich, die für mich viel Potential hätte.

Ein Roman wie ein Stadtviertel

Mich erinnerte die Lektüre von Nachtleuchten selbst an eine Stadt beziehungsweise eine Stadtviertel wie Ballester, das Barbetta beschreibt. Es gibt schöne Ecken, tolle Plätze, viele geschichtsträchtige Winkel, in die man sich gerne verirrt. Dann gibt es aber auch Passagen, die wie aus einem Sachbuch abgeschrieben wirken oder stilistische Einsprengsel, die alles andere als zum Aufenthalt einladen. Diese Mischung aus verschiedenen Stilen und sprachlicher Opulenz überzeugte mich nicht wirklich, obwohl die Grundidee und die Ansätze ihres Buchs gut sind. Viel Lesefreude konnte mir das Buch nicht vermitteln – da sehe ich leider andere Titel auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2018. Doch Nachtleuchten ist für meinen Geschmack einfach zu anstrengend.

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