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Virginia Reeves – Ein anderes Leben

Auch in Zeiten steigender Energiepreise ist der Strom heute doch alles andere als ein Luxusgut. Er ist immer verfügbar, kann einfach über Steckdosen genutzt werden und ist so alltäglich, dass wir gar nicht mehr über ihn nachdenken. Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves entführt in eine Zeit, in der Strom noch Gefahr bedeutete und das Leben von Menschen ins Unglück stürzen konnte. Wir sprechen hierbei aber nicht vom Zeitalter der Entdeckung der Elektrizität, sondern vom ländlichen Alabama vor nicht einmal hundert Jahren. Ein neuer Beitrag in der Rubrik #backlistlesen.


Roscoe T. Martin hadert mit seinem Leben als Farmer. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern sowie einem Angestellten bewirtschaftet er die familieneigene Farm. Doch das Leben in den 20er Jahren in Alabama ist hart, der Ertrag der Farm reicht kaum zum Überleben. Da entschließt sich Roscoe zu einer folgenschweren Tat. Er will die Stromleitungen der Alabama Power Company illegal anzapfen, um Strom zur eigenen Farm zu leiten und dort die Dreschmaschine elektrisch anzutreiben. Das notwendige Wissen für die Manipulation besitzt er, da er eigentlich gelernter Elektriker ist und früher im Kraftwerk arbeitete, ehe er der Liebe wegen die Farm übernahm.

Der Fluch der bösen Tat

Virginia Reeves - Ein anderes Leben als dieses (Cover)

Doch der Fluch der bösen Tat lässt nicht lange auf sich warten. Nach seinem illegalen Abzapfen des Stroms ist es nur eine geringe Zeitspanne, in der alles zu laufen scheint. Bei einer Inspektion der manipulierten Leitungen erleidet ein Inspekteur einen tödlichen Stromschlag und Roscoe T. Martin und sein Kompagnon Wilson fahren beide ins Gefängnis ein.

Während Wilson als Schwarzer in den Minen untertage schuften muss, versieht Martin seinen Dienst im Kilby-Gefängnis in der Molkerei, später der Gefängnisbibliothek und trainiert mit einem Aufseher die Hunde, die zur Unterbindung von Fluchtversuchen eingesetzt werden. Dabei treibt ihn die Frage um, wie es mit seiner Familie und der heimischen Farm wohl weitergegangen sein mag. Denn von seiner Frau hat er seit seiner Verurteilung nichts mehr gehört. Und auch vor der Kommission, die über die Aussetzung der Gefängnisstrafen als Bewährung befindet, stehen seine Chancen schlecht.

Anklänge an Klassiker des Genres

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves zeigt die Geschichte eines Mannes, der das Gute wollte, doch das Böse tat. Sein Martyrium hinter Gittern schildert sie dabei in spannender Form. Denn es ergänzen sich im Hauptteil aus der Ich-Perspektive erzählte Passagen aus dem Gefängnis (was Erinnerungen an Klassiker des Genres weckt, etwa Stephen Kings Die Verurteilten) mit auktorial erzählten Schilderungen des Farm- und Familienlebens, das durch Martins Tat ins Unglück gestürzt wurde.

Gelungen schafft es Virginia Reeves, plastische Charaktere zu zeichnen und ihre Geschichte ohne übermäßige Schnörkel oder unnötige Passagen geradlinig und konzentriert zu erzählen. Der Rassismus, die Zwangsarbeit hinter Gittern, der brutale Umgang mit Gefangenen und die willkürliche Herrschaft der Obrigkeit wird von der Autorin eindringlich geschildert. Auch ist das Buch stark in seinem Aufzeigen, wie eine einzige, aus gutem Willen und wirtschaftlichen Nöten begangene Tat das Leben von einem halben Dutzend Menschen beeinflussen und entscheidend prägen kann.

Fazit

Virginia Reeves ist ein eindringliches Buch gelungen, das den amerikanischen Süden vor nicht einmal hundert Jahren heraufbeschwört. Dass sie es als Debütantin mit Ein anderes Leben als dieses auf die Longlist des Bookerprizes im Jahr 2016 schaffte (genauso wie Ian McGuire mit seinem Roman Nordwasser), das ist beachtlich und angesichts der Dichte und Präzision ihres Schreibens auch gerechtfertigt. Auch vier Jahre nach dem Erscheinen in der Übersetzung von Simone Jakob und Hannes Meyer ist dieses Buch noch absolut frisch und lesenswert und sollte als Backlistperle hier in der Buch-Haltung gerne Erwähnung finden.


  • Virginia Reeves – Ein anderes Leben als dieses
  • Aus dem Englischen von Simone Jakob und Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-8321-9869-5 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €
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Deb Olin Unferth – Happy Green Family

Hennen. Süße kleine Federbälle. Das starke Abenteuer ihrer Rettung: Wer wollte da nicht dabei sein? Es war an der Zeit zu sagen: Es reicht.

Deb Olin Unferth – Happy Green Family, S. 166

Mit einem Huhn fängt es an und wächst sich zu einem riesigen Unternehmen aus: Deb Olin Unferth erzählt in Happy Green Family vom Mut zur Revolution im amerikanischen Huhniversum. Ein starkes Buch über die industrielle Tierhaltung, einen wahnwitzigen Plan und idealistische Menschen im Mittleren Westen.


Bwwaauk, so heißt das Huhn, das der Betriebsprüferin Cleveland bei einer ihrer Routineinspektionen einer Hühnerfarm irgendwo in den Weiten des Mittleren Westens über den Weg läuft. Eigentlich sollte sich das Huhn wie seine Millionen von Artgenossen in einem Stall befinden und dort fleißig Eier produzieren. Doch das Huhn hat den Weg in die Freiheit gefunden und veranlasst Cleveland zu einer Tat, die so gar nicht ihrem Naturell entspricht. Statt das Huhn zu melden und auf den Hof zurückzubringen, nimmt sie es an sich und beschließt, es der Tierrettung zu überantworten.

Diese Huhnrettung ist die erste Aktion, die eine ganze Lawine auslösen soll. Doch einstweilen bleibt alles noch recht überschaubar. Immer wieder entnimmt die Prüferin Hühner aus den Ställen, die sie zuvor kontrolliert hat. Doch ihre Taten bleiben nicht unentdeckt. Die junge Halbwaise Janey wird Cleveland unterstellt, um ihr durch die Ausbildung als Betriebsprüferin in einer Hühnerfarm wieder etwas Halt und Orientierung im Leben zu verleihen. Sie beobachtet ihre Mentorin bei ihrem Tun und wird nach einer Konfrontation zur Mitwisserin und Helferin bei Clevelands Treiben.

Weitere Akteure folgen und bald erwächst aus der Hühnerrettungs-Ich-AG eine ganze Bewegung, die natürlich mit steigender Größe auch immer unwägbareren Gefahren unterliegt. Denn Cleveland und Janey haben sich ein mehr als ambitioniertes Ziel gesetzt, das sie mithilfe ihrer Unterstützer realisieren wollen: Eine Million Hühner sind es, die auf der Happy Green Family Farm ihr Dasein fristen. Und sie wollen diese in einer waghalsigen Aktion befreien. Doch der Plan ist äußerst riskant…

Der Wahnsinn industrieller Tierhaltung

Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Cover)

Mit Happy Green Family hat Deb Olin Unferth ein Buch geschrieben, das den Wahnsinn der industriellen Tierhaltung eindrücklich illustriert. Sie nimmt die Leser*innen mit in die Ställe und Legebatterien und zeigt, wie aus Hühner dort Ei-Legemaschinen gemacht werden, die unter künstlicher Sonneneinstrahlung zum Dauerbrüten animiert werden. Dabei lernt man auch viel Wissenswertes über Hühner, etwa die Tatsache, dass Hühner eigentlich Freundschaften und Verbände gründen, ihr linkes Auge für die Fernsicht verwenden oder eigentlich nur etwa 60 mal im Jahr ein Ei legen, was durch die künstliche Beleuchtung in den Stellen auf das fünffache gesteigert wurde.

Den Wahnsinn dieser industriellen und auf Ertrag optimierten Tierhaltung und unseres schizophrenes Verhältnis zu den Tieren thematisiert Unferth eindrücklich, ohne dabei zu moralinsauer zu werden. Sie zeigt Cleveland und Janey bei ihrem idealistischen Kampf, verklärt diesen aber nicht zu Bauernhof-Kitsch, sondern bleibt angenehm realistisch (was auch der amerikanische Originaltitel Barn 8 zeigt, der bei der Rettungsaktion eine dramatische Rolle spielen soll).

Ambitioniertes und überzeugendes Erzählen

Neben der Form und ihrem Anliegen ist es auch Unferths Erzählen, das durch seine anspruchsvolle Form überzeugt und begeistert. Denn anstelle einer einfachen linearen Erzählung entscheidet sich Unferth für ein deutlich komplexeres Vorgehen. Immer wieder springt sie in Einsprengseln in der erzählten Zeit vor und zurück, ergänzt das Ganze mit einem Verhörprotokoll, schiebt gegenläufige Perspektiven ineinander und schreckt auch nicht davor zurück, aus der Perspektive eines Huhns zu erzählen.

Diese erzählerischen Extravaganzen werten Happy Green Family wirklich auf und erfordern zwar ein genaues Lesen, um bei der steigenden Komplexität in Sachen Zeit und Handlung den Überblick zu behalten, belohnen aber auch mit einem engagierten Buch, nach dessen Lektüre man im Supermarkt zweimal überlegt, ob es der billigste 10-Eierpack aus Bodenhaltung sein soll, oder ob man doch etwas mehr Geld investiert und dafür Eier aus Freilandhaltung oder mit mehr Tierwohl erwirbt. Happy Green Family öffnet dahingehend die Augen, wenn man zuvor nicht schon für dieses Thema sensibilisiert war.

Fazit

Deb Olin Unferths Buch ist außergewöhnliche, literarisch ambitionierte und von Barbara Schaden souverän ins Deutsche übertragene Literatur, die mir ausgesprochen gut gefallen hat. Und wer vom Thema Hühner in diesem Frühjahr noch nicht genug bekommen kann: in einem Monat erscheint mit Brüten von Jackie Polzin der nächste Roman, der sich mit dem Leben von Hühner in Amerika beschäftigt. Diesmal allerdings auf eine ganz andere Art und Weise.


  • Deb Olin Unferth – Happy Green Family
  • Aus dem Englischen von Barbara Schaden
  • ISBN 978-3-8031-3344-1 (Wagenbach)
  • 288 Seiten. Preis: 20,00 €
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Percival Everett – Erschütterung

Was macht es mit einem, wenn dem eigenen Kind die Diagnose einer tödlichen Krankheit gestellt wird? Percival Everett hat darüber in Erschütterung geschrieben – und ein echtes Highlight in diesem jungen Bücherjahr geschaffen.


Im Mittelpunkt seines Romans steht der Geologieprofessor Zach Wells. Dieser arbeitet am Lehrstuhl seiner Universität und hat sich dem Spezialgebiet der Geologie-Paläobiologie verschrieben. So hält er (nach eigener Einschätzung) im wahrsten Sinne des Wortes knochentrockene Vorlesungen über Sedimentablaberungen und Funde von ausgestorbenen Lebewesen und unternimmt Exkursionen mit seinen Studierenden.

Ich wusste wahnsinnig viel über eine spezielle Höhle namens Naught’s Cave im Grand Canyon und die Vogelwelt, die darin heimisch war. Wie obskur ist das? Nun ja, ich wusste mehr als die meisten Leute. Der Vollständigkeit halber sollte ich darauf hinweisen, dass die meisten Leute über fast alle anderen Dinge mehr wussten als ich.

Percival Everett – Erschütterung, S. 10

Eine Erschütterung des eigenen Lebens

Percival Everett - Erschütterung (Cover)

Privat ist es vordergründig eine Bilderbuchexistenz, die Zach Wells führt. Mit seiner Frau Meg und Tochter Sarah lebt er in Altadena ind Kalifornien, hat sein gesichertes Auskommen und eigentlich keine größeren Sorgen. Zwar ist die Liebe zu seiner Frau längst einer tolerierenden Ko-Existenz gewichen und der große Sinn im Leben fehlt, doch wirkliche Probleme fühlen sich anders an.

Wie, das muss Wells nach einigen beunruhigenden Zwischenfällen erfahren. So übersieht seine junge Tochter im gemeinsamen Schachspiel eine Figur, die deutlich vor ihr steht. Gravierendere Ereignisse folgen. Die Tochter wirkt wie abwesend und hat zwischendurch Anfälle, die sich weder Zach noch seine Frau erklären können. Eine Konsultation bei Ärzten bringt die niederschmetternde Erkenntnis, dass ihre Tochter am Batten-Syndrom leidet. Hierbei handelt es sich um eine unheilbare Krankheit, die mit Erblindung, Verlust von intellektuellen und motorischen Fähigkeiten und Krampfanfällen einhergeht.

Der Verlust von Sicherheit

Die Diagnose erschüttert die zuvor so sicher geglaubte Lebenswelt des Professors und löst ebenjene titelgebende Erschütterung seiner Existenz aus. So überlegt er während einer gemeinsamen Wanderung in den den nahen Bergen:

Wie schon zuvor betrachtete ich meine Tochter von hinten, studierte ihre schreckliche Schönheit, widmete mich meiner schrecklichen Liebe. (…) Ich erinnerte mich an den Augenblick, in dem das geschehen war. Sarah war drei Monate alt, und obwohl ich bei allen mit dem Vatersein verbundenen Ängsten glücklich war, war mir meine Liebe zu meiner Tochter bis zu diesem Tag abstrakt, amorph, distanziert vorgekommen. Ich wischte mir gerade ihren sauren Speichel vom Hemd, als ich in ihr ziemlich ausdrucksloses kleines Gesicht sah, und es war um mich geschehen. Restlos. Vollständig. Unverzeihlich.

Und nun war ich hier auf diesem öden Berg, in diesen Wäldern,und ging ihr hinterher. Falls ein Bär oder ein Puma aus dem Unterholz käme, würde ich ihn mit bloßen Händen töten, um sie zu beschützen. Meine einzige Aufgabe im Leben bestand darin, dieses kleine Tier am Leben zu halten, und das konnte ich nicht. Hinter ihr auf diesem Pfad überlegte ich nicht, dass ich ein guter Vater, ein liebevoller Vater sein, sondern, dass ich weiterhin Vater bleiben wollte.

Percival Everett – Erschütterung, S. 128

Die Rettung in Form einer Jacke

Inmitten dieser Grenzerfahrung findet Zach Wells eher zufällig Ablenkung und neuen Sinn. In einer auf Ebay bestellten Secondhand-Jacke versteckt sich ein kleiner Zettel mit einem spanischsprachigen Hilferuf. Dieser setzt ihn auf die Fährte amerikanischer Nazis, die auf ihren Anteil am Verschwinden junger Frauen im kalifornisch-mexikanischen Grenzland haben. In diesem Hilferuf findet Wells Sinn und Ablenkung und erfährt damit auch einen neuen Weg aus seiner in Routine und Angst erstarrten Welt.

Erschütterung ist das Psychogramm eines mittelalten Akademikers, dessen sicher geglaubte Existenz gehörig ins Wanken gerät. Und während Richard Russo aus dieser Ausgangslage jüngst ein ironisch-heiteres Porträt zauberte, ist die Registerwahl von Percial Everett eine ganz andere.

Eindringlich und literarisch überzeugend

Zwar kann man Erschütterung auch als Campusroman lesen – es sind alle Zutaten vorhanden, inklusive Unibesetzung mitsamt aktueller Rassismus-Debatte. Aber es ist das Privatleben und die Bindung zu seiner Tochter, die in diesem Roman den größten Raum einnimmt. Everett konzentriert sich ganz unmittelbar auf Zach Wells, der als Ich-Erzähler aus seiner kleinen, abgeschlossenen Welt erzählt. Und dennoch findet sich hier bei allem Kokettieren mit der eigenen Belanglosigkeit Tiefe und Wucht, da es Everett hervorragend gelingt, die seelischen Erschütterungen seines Protagonisten zu vermitteln und fühlbar zu machen. Das Ringen mit den eigenen Gefühlen, Tochterliebe, eheliche Erstarrung – all das schildert Percival eindringlich und literarisch überzeugend.

Immer wieder zerteilen kleine Schnipsel wie etwa Schachstellungen oder wissenschaftliche Kurzbeschreibungen die Gedanken und Schilderungen von Zach Wells. Er erzählt von seinem universitären Alltag, den Verlockungen und der Suche nach der Wahrheit hinter dem Hilferuf. All das ist bestechend komponiert und entwickelt wirklich einen Sog, der erst mit der letzten Seite abreißt. Hier ist nichts zuviel, keine Belanglosigkeit oder Geschwätzigkeit. Erschütterung ist das Proträt eines Mannes, der sämtliche Gewissheiten verliert und der dennoch das Richtige tun will. Everett vermisst die Seele seines Helden, die Landschaft im amerikanisch-mexikanischen Grenzgebiet und erzählt daneben auch en passant einen Krimi, der neben der Vielzahl von anderen Romanen mit gleichem Schauplatz bestehen kann.

Fazit

Erschütterung ist ein starker Roman, der von Nikolaus Stingl übersetzt nun bei Hanser erschienen ist. Percival Everett gelingt das eindringliche Bild eines Akademikers, dem seine Gewissheit abhandenkommt und der sich mit einem drohenden Verlust abfinden muss, obwohl er sich doch so bequem in seinem Leben eingerichtet hat. Bestechend erzählt und schon jetzt einer dieser Frühjahrstitel, die man unbedingt auf dem Schirm haben sollte.

Und nicht zuletzt ist dieses Buch auch der rare Fall eines Romans, dessen deutscher Titel deutlich treffender als das amerikanische Original namens Telephone ist.

  • Percival Everett – Erschütterung
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-27266-8 (Hanser)
  • 288 Seiten. Preis: 23,00 €
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Thomas Savage – Die Gewalt der Hunde

Das kann man nun mit Fug und Recht einen zweiten Frühling nennen. Bislang war der amerikanische Autor Thomas Savage höchstens Eingeweihten ein Begriff, nun erfährt sein Werk Die Gewalt der Hunde eine Renaissance. Ursprünglich bereits 1967 erschienen ist hier ein wuchtiger Spätwestern zu entdecken, der durch die preisgekrönte Verfilmung von Jane Campion mit Stars wie Kristen Dunst und Benedict Cumberbatch momentan in aller Munde ist. Doch auch ohne die Verfilmung überzeugt die Buchvorlage und liefert Breitwandkino für den Kopf.


13 Romane hat Thomas Savage zeit seines Lebens verfasst, wie die kanadische Bestsellerautorin Annie Proulx in ihrem Nachwort zur Neuauflage erklärt.

Es ist der fünfte und für manche Leser, die Verfasserin dieses Nachworts eingeschlossen, der beste von Savages dreizehn Romanen, eine psychologische Studie voller Dramatik und Spannung, ungewöhnlich, weil sie ein Thema behandelt, das damals nur selten erörtert wurde – verdrängte Homosexualität, die sich als Homophobie in der männlich geprägten Ranchwelt äußert.

Annie Proulx in ihrem Nachwort zu Thomas Savage – Die Gewalt der Hunde, S. 327

Spätestens hier erschließt sich, warum Annie Proulx das Nachwort beisteuert, hat sie doch mit ihrer Kurzgeschichte Brokeback Mountain ein ähnliches Sujet behandelt, wenngleich auf ganz andere Art und Weise.

Zwei gegensätzliche Brüder

Thomas Savage - Die Gewalt der Hunde (Cover)
Die Gewalt der Hunde von Thomas Savage

Denn während sich bei Proulx die Liebe zwischen zwei Schafhirten im amerikanischen Westen entspannt, ist von Liebe in Thomas Savages Roman nur wenig zu spüren. Es sind die Brüder Phil und George Burbank, die die elterliche Farm im Nirgendwo von Montana fortführen. Phil ist ein bestechender Verstand zu eigen, er kann musizieren, durchblickt Sachverhalte schnell und lässt andere seine intellektuellen Fähigkeiten spüren. Ganz anders sein jüngerer Bruder George, dem ein sanftes Naturell zueigen ist und der sich in fast allen Belangen von seinem Bruder unterscheidet.

Das brüderliche Gleichgewicht gerät in bedrohliche Schieflage, als sich George entscheidet, eine Witwe aus dem benachbarten Städtchen Beech zur Frau zu nehmen. Hellsichtig erkennt Phil die Schwachpunkt in der Beziehung seines Bruders und nimmt dessen Frau subtil aufs Korn und macht ihr das Leben im elterlichen Haus zur Qual. Insbesondere der Stiefsohn von George nimmt in den Plänen von Phil eine entscheidenen Platz ein. Doch auch wenn er in Phils Augen schwach sein mag – der junge Mann weiß sich zu wehren und besitzt Standfestigkeit.

Brüderliche Treue und brüderlicher Verrat

Die Gewalt der Hunde ist ein Roman über brüderliche Treue und brüderlichen Verrat. Der Vergleich zu ähnlichen Paaren aus biblischem Kontext kann gezogen werden, doch dieser greift im Falle von Savages Roman zu kurz, wie ich übereinstimmend mit Annie Proulx urteilen würde. Der Roman ist die psychologische Studie zweier gegensätzlicher Männer, die ihre Gefühle auf ganz unterschiedliche Art und Weise artikulieren. George versucht sich an einem (zugegeben etwas hilflosen) Ausdruck seiner Gefühle, während Phil diese gegen sich richtet und aus dieser Unfähigkeit nur Bitterkeit und Verachtung zieht, die sich eben auch in seiner Homophobie und der Ablehnung alles „Weibischen“ wie der etwa der vom Stiefsohn angefertigten Papierblumen äußert.

Hochspannend, wie Thomas Savage von seinen so unterschiedlichen Brüdern und den wechselhaften Dynamiken auf der Ranch der Burbanks erzählt. Darüber hinaus gelingt es ihm auch, die Weite der Natur und die gleichzeitige Unbehaustheit in Figuren und Umgebung zu schildern. Auch erklärt sich durch die Schilderung der Natur der Titel, der auf den Psalm 22,21 rekurriert, in dem es heißt: „Entreiße mein Leben dem Schwert, mein einziges Gut aus der Gewalt der Hunde“. Ebenjene Hunde meint Phil in einer Felsformation in der Nähe der Ranch zu erkennen. Wer ebenfalls die Pareidolie der jagende Hunde im Gestein entdeckt, in der ist seines Respekts würdig, alle anderen verachtet dieser Mann.

Fazit

Mit Die Gewalt der Hunde ist Thomas Savage ein wuchtiges Buch gelungen, das ein gegensätzliches Brüderpaar in das Setting eines Spätwestern einpasst, der so auch im Liebeskind– oder Polarverlag hätte erscheinen können. Der Roman bietet verschiedene Deutungsebenen und ist für mich eine wirkliche Überraschung. In diesem Falle muss ich mich wohl bei Jane Campion für ihre Verfilmung bedanken, die das Werk von Thomas Savage auf diese Art und Weise dem Vergessen entrissen hat. Als preisgünstiges Taschenbuch ist es in der Übersetzung von Thomas Gunkeln nun bei btb erschienen. Ein wiederentdeckter Buchtipp, den man am besten vor den Genuss der Verfilmung setzen sollte.


  • Thomas Savage – Die Gewalt der Hunde
  • Mit einem Nachwort von Annie Proulx
  • Aus dem Englischen von Thomas Gunkel
  • ISBN 978-3-442-77221-6 (btb)
  • 352 Seiten. Preis: 12,00 €

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Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen

Noch einmal Coming of Age, noch einmal Rückschau auf die eigene Kindheit und einen entscheidenden Sommer, der alles veränderte. Und auch wenn ich gerade an völliger Übersättigung dieser Art von Romanen leide (siehe hier, hier, hier, hier oder hier) – Licht zwischen den Bäumen ist doch ein prima Roman in High-End-Ausfertigung. Bibliophil gestaltet in der kundigen Übersetzung von Tanja Handels entführt Una Mannions Buch in die Wälder Pennsylvanias in einem Sommer in den 80er Jahren.

Die Ich-Erzählerin Libby Gallagher nimmt uns mit auf den Valley Forge Mountain, auf dem sie zusammen mit ihren vier Geschwistern und ihrer Mutter ein abseits gelegenes Haus bewohnt. Der dicht bewaldete Berg ist bekannt für das Lager, das George Washington damals dort während des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs aufschlagen ließ, um den Winter zu überstehen. Fast 2500 Soldaten fanden dort den Tod, verhungerten und erfroren. Nicht weit von diesem historischen Ort entfernt liegt das Haus der Familie, dessen umgebender Wald für Libby eine ideale Spielwiese darstellt.

Eine Familie unter Druck

Una Mannion - Licht zwischen den Bäumen (Cover)

Für das junge Mädchen bedeutet der Wald Rückzug und Entspannung von der Familie. Denn Libbys Familie gleicht oftmals einem unter Druck stehenden Kessel. Alle Geschwister sind höchst unterschiedlich, die Mutter verheimlicht ihren neuen Freund vor der Familie und man streitet und debattiert, bis die Fetzen fliegen. In einer solchen angespannten Lage lernen wir auch die Gallaghers zu Beginn des Buchs kennen, als ein Streit im Auto auf der Rückfahrt nach Hause eskaliert. Libbys Mutter setzt daraufhin Ellen am Straßenrand aus, damit diese zu Fuß nach Hause läuft.

Diese Entscheidung ist der Auslöser aller weiteren Ereignisse im Roman. Denn auf dem langen Weg nach Hause will Ellen per Anhalter etwas erträglicher machen und steigt zu einem Mann ins Auto, dem sie später nur mit Mühe und Not entkommen kann. Die Zeiten sind eh beängstigend für Libby und ihre Geschwister, die Morde von Charles Manson und seiner Gruppe liegen gerade einmal ein paar Jahre zurück, der Vietnamkrieg ebenfalls, das Massaker in Amityville ist auch in den 80er Jahren noch sehr präsent und befeuern die kindliche Fantasie. Als nun auch noch Ellen von dem gruseligen Mann erzählt, in dessen Auto sie sich wiedergefunden hat und in dem sie sexuell belästigt wurde, sitzt der Schock vor allem bei Libby tief.

Coming of Age und Familienporträt

Der Bericht von Ellen setzt Entwicklungen in Gang, die sich nicht mehr so leicht einfangen lassen. In jenem Sommer zwischen Lagerfeuer-Parties, Einbruch ins Schwimmbad und erster Liebe entspinnen sich gefährliche Dynamiken, die für Ellen und ihre Geschwister handfeste Gefahr bedeuten.

Licht zwischen den Bäumen ist ein klassischer Coming-of-Age Roman, das Porträt eines Mädchens, das nach einer Richtung im Leben sucht und der Blick in das turbulente Innere einer Familie.

Aus den klassischen Genre-Zutaten (ein junges Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, ein entscheidender Sommer, der Einbruch von Gefahr und Verderben in die vormals heile Welt) vermengt Una Mannion mit einem genauen Porträt der Familie Gallagher, die seit dem Tod des aus Irland stammenden Vaters zunehmend auseinanderdriftet. Sie erzählt bildreich vom Leben der Familie am Berg dort im County Schuylkill, das sich eher am unteren sozialen Rand abspielt.

Auch wenn man die Familie nicht unbedingt als sozial randständig bezeichnen kann – Armut und Vernachlässigung haben sie trotzdem erfahren. Das Gras wird nicht geschnitten, das Haus nicht mehr gepflegt, die Mutter schleicht sich zu ihrem Liebhaber davon, Libby muss mit Babysitten das Einkommen aufbessern. Alles Anzeichen dafür, dass auch diese Familie unablässig auseinandertreibt, ehe sie die Ereignisse um Ellens Anhaltererlebnis schlussendlich wieder zusammenführen.

Fazit

Irgendwo zwischen den popkulturellen Phänomenen „Stand by me“ oder „Stranger Things“ angesiedelt erzählt Una Mannion eine spannende Geschichte aus dem amerikanischen Hinterland und zeigt eine Familie im Auflösungszustand. Ein unterhaltsames Buch, das einen Sommer in den 80er Jahren dort in Pennsylvania noch einmal zurückholt.

Mehr Meinungen zu Licht zwischen den Bäumen gibt es bei Zeichen&Zeiten und im Blog der Buchhandlung Die Insel.


  • Una Mannion – Licht zwischen den Bäumen
  • Aus dem Englischen von Tanja Handels
  • ISBN 978-3-95829-973-3
  • 344 Seiten. Preis: 24,00 Euro
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