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Jackie Polzin – Brüten

Manchmal treibt der Buchmarkt schon kuriose Blüten. Da erscheinen innerhalb weniger Wochen zwei Bücher von Debütantinnen auf dem deutschen Buchmarkt, beide aus Nordamerika und beide mit dem gleichen, recht spezifischen Thema. Beide erzählen von der Hühnerzucht und dem Schicksal von weiblichen Figuren, die sich mit der Aufzucht und Hege von Hühnern beschäftigen müssen. Doch wo Deb Olin Unferth von den Abgründen der industriellen Hühnerzucht erzählt, konzentriert sich Jackie Polzin ganz auf das Private.

Sie erzählt von einer Frau in einem Vorort Minnesotas und ihrem Kampf um die vier Hühner im eigenen Garten. Dabei kombiniert sie die tierische mit menschlicher Nachwuchsplanung und betrachtet das Brüten, das Vögeln und Menschen verbindet. Kühn, aber in meinen Augen durchaus gelungen.


Sie heißen Hennepin County, Darkness oder Gam Gam und sind der ganze Stolz der namenlosen Ich-Erzählerin. Zusammen mit ihrem Mann Percy, einem Akademiker auf Jobsuche, lebt sie in einem Vorort von Minnesota und teilt sich ihr Zuhause mit vier Hennen. Die Hege und Pflege der vier Hühner widmet sich die Erzählerin mit viel Hingabe. Beginnend im Winter bei großen Minustemperaturen, denen nur mit einer Wärmelampe beizukommen ist bis hinein in den Sommer, in denen Habichte und Waschbären den Hühnern zusetzen, erleben wir chronologisch ein Menschen- und Hühnerjahr.

Zu den Schilderungen der Pflege der Hühner gesellen sich zunächst nur spärlich hingetupfte Informationen über die Erzählerin und ihren Mann. Die Nachbarn, ihre Mutter, Percys langwierige Berufungsverfahren als Lehrender – all das wird nur in kurzen, wohldosierten Informationen eingestreut. Erst langsam schält sich aus den Impressionen der Grund heraus, warum sich die Erzählerin so auf die Aufzucht der Hühner und ihr Brutverhalten fokussiert. Dabei ist der Titel Brüten angenehm vieldeutig und lässt sich auf das menschliche Verhalten übertragen, wenngleich das Huhn auf dem Cover eine Verengung des Themas signalisiert, die dem Buch selbst völlig fernliegt.

Menschliche Hühner und tierische Menschen

Jackie Polzin - Brüten (Cover)

Was verbindet uns in der Aufzucht von Nachwuchs? Wie bauen wir uns ein Nest und wie gehen wir mit Verlusten um? Indem die Erzählerin ganz genau auf die Hühner blickt, erzählt sie uns auch ganz viel von sich selbst. Zudem vermag es Jackie Polzin genau und eindringlich zu erzählen, sodass der Besuch eines Waschbären am Hühnerstall hier zu einer existenzerschütternden Erfahrung wird, die neben dem Huhn auch die Erzählerin und ihren Mann völlig aus der Bahn wirft.

Angesichts der Tatsache, dass es schon einen großartigen Roman über Hühner in diesem Frühjahr gibt, stellt sich natürlich aber auch die Frage, ob es dann einen zweiten Roman mit einer ähnlichen Thematik braucht. Diese Frage würde ich auf alle Fälle bejahen, eröffnen sich doch auch ganz reizvolle Perspektiven und Betrachtungen, wenn man die beiden Bücher in ihrer Themensetzung und Ausgestaltung miteinander vergleicht.

Hühner als literarisches Trendthema

So wählt Deb Olin Unferth den Ansatz, von der Mikroebene eines einzelnen freilaufenden Huhns auf die ganze Fülle von Legebatterien zu zoomen. Jackie Polzin geht den genau umgekehrten Weg. Während sie ihr Jahr mit vier Hühnern beginnt, werden es im Lauf des Jahres durch äußere Einflüsse immer weniger Hennen, was eine immer stärkere Bindung der Erzählerin an die Tiere hervorruft.

Während bei Deb Olin Unferth die industrielle Hühner- und Eierzucht und deren Kritik im Mittelpunkt steht, ist es bei Jackie Polzin das Privateste überhaupt, auf das sie sich fokussiert und von dem sie mithilfe der Hühner als Projektionsfläche erzählt. Sie benötigt keine Tierrettungsaktionen, große Figurenensembles oder Breitwandaction, um von Tier- und Menschenliebe zu erzählen. Stattdessen dominieren hier kurze Kapitel, eine minimale Personenanzahl und vier Hühner, mit deren Hilfe sie ihre Geschichte erzählt.

Eine Sprache zwischen Poesie und sprachlicher Genauigkeit

Die Sprache, mit der sie das tut, ist dabei doch manchmal erstaunlich hochspezifisch und dann doch wieder sehr poetisch (Übersetzung durch Nikolaus Stingl). So finden sich Adjetive wie intrikat oder Passagen wie die folgende:

Wenn Hühner Angst haben, suchen sie Deckung zwischen dem Haus und der Treppe, in den Spieren. Jedes Frühjahr bildet das Gesträuch eine weiße Wolke von Blüten, ansonsten jedoch ein Gewirr von Zweigen, teils Nest, teils Käfig. Die vorbeifahrenden Züge erschrecken die Hühner nicht, doch wenn auf dem Betriebshof anderthalb Kilometer entfernt gerade ein zweiter Zug anfährt, dann lässt dieser Anfahrvorgang – seine schiere chthonische Wucht – die Hühner wie angewurzelt stehen bleiben. Die Füße reglos, das Gefieder still, jeder fleischige Muskel erstarrt, ausgenommen ihre wild schlagenden Herzen und umherhuschenden Augen. Auf die gleiche Weise dringt der Zug nachts in meinen Schlaf ein, seine Geschwindigkeit vom Traum in eine hohe Wasserwand oder einen bodenlosen Abgrund verwandelt.

Jackie Polzin – Brüten, S. 144

Fazit

Man kann das Engführen von tierischem und menschlichem Verhalten und Bedürfnissen, von Eiausbrütung und Urtrieben natürlich für geschmacklos halten, möchten wir uns doch gerne über vermeintlich einfachere Tiere wie Hühner erheben. Dass wir diesen aber doch näher sind, als wir uns gemeinhin einreden, das zeigt Brüten auf literarisch anspruchsvolle wie gelungene Weise.

Jackie Polzin gelingt hier ein beachtliches Debüt, das auf verknappte Art und Weise von Tierischem und Menschlichen und dessen Überschneidungspunkten erzählt. Ihre genauen Betrachtungen eines Jahres voller Hühner, Träume und Verlust zeigt, dass auch ein vermeintlich einfaches Thema wie die Hühnerzucht viele Aspekte bereithält, die sich literarisch wunderbar aufbereiten lassen und damit auch wieder etwas über uns Menschen selbst erzählen.


  • Jackie Polzin – Brüten
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-423-29011-1 (dtv)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €

Vendela Vida – Die Gezeiten gehören uns

Zwei Strände an der Küste San Franciscos, getrennt durch vorspringende Klippen. Zwei unterschiedliche Mädchen, die diese geschickt überwinden. Und zwei ganz verschiedene Leben zwischen Wahrheit und Lüge, Inszenierung und Realität. Sie stehen im Mittelpunkt des Romans Die Gezeiten gehören uns der amerikanischen Autorin Vendela Vida.


Vendela Vida wurde 1971 geboren und hat bislang sechs Romane veröffentlicht, darunter zuletzt den 2016 im Aufbau-Verlag erschienen Flucht- und Identitätsroman Des Tauchers leere Kleider. Mit Die Gezeiten gehören uns liegt nun der erste Roman im Hanser Berlin-Verlag vor, der von Monika Baark ins Deutsche übertragen wurde.

Während Vida bei uns noch keine allzu große Bekanntheit erlangt hat, ist es bislang eher der Name ihres Mannes, der aufhorchen lässt. Vida ist die Partnerin von Dave Eggers, der spätestens seit seinem Bestseller Der Circle auch hierzulande zu den großen amerikanischen Autorennamen zählt. Doch sollte man nicht den Fehler machen, Vida als schreibendes Anhängsel von Eggers zu betrachten. Denn Vida schreibt eine ganz eigenständige Prosa, die deutlich nuancierter und tiefgreifender ist, als die doch oftmals etwas unterkomplexen und auf Effekt zielenden Romane ihres Mannes.

Familien in Sea Cliff

Vendela Vida - Die Zeiten gehören uns (Cover)

Zusammen mit ihm und den Kindern lebt Vendela Vida in der San Francisco Bay Area, in der auch ihr neuer Roman angesiedelt ist, genauer gesamt im Stadtviertel Sea Cliff. Dort geht die Erzählerin Eulabee zusammen mit anderen aus wohlbehüteten und privilegierten Haushalten stammenden Mädchen auf die Privatschule Spragg. Ihre beste Freundin ist Maria Fabiola, die Eulabee bewundert und mit der sie sich am nahegelegenen China Beach in der Kunst des Klippenrennens übt.

Denn die beiden Mädchen sind Meisterin in dieser Kunst. Genau abgestimmt mit den Gezeiten und gefährlichen Wellen überwinden sie die rutschigen Klippen, um von einem Strand an den nächsten zu wechseln, ohne Umwege in Kauf nehmen zu müssen. Maria Fabiola und Eulabee sind genau aufeinander abgestimmt und ergänzen sich so gut miteinander, dass sie sogar all den Nachbar*innen in Sea View weismachen, dass Maria Fabiola ein neues Familienmitglied von Eulabee ist.

Doch die Freundschaft und Harmonie erleidet schon bald tiefe Risse. Denn als Maria Fabiola und weitere Spragg-Schülerinnen behaupten, von einem Exhibitionisten angesprochen worden zu sein, stützt Eulabee diese These nicht, da sich ihre Wahrnehmung von der ihrer Freundin unterscheidet. Es setzen die typischen sozialen Ausgrenzungen in Schule und Freizeit ein, die man seit den 80ern, in denen das Buch angesiedelt ist, bis heute kennt. Kleine Botschaften im Spind, Ausladungen bei Feten – so weit, so bekannt.

Dieses hinlänglich bekannte Teenagerdrama steigert sich allerdings, nachdem Maria Fabiola dann tatsächlich verschwindet und eine öffentliche Suche einsetzt. Zwar taucht sie nach ein paar Tagen wieder auf, sie erzählt aber von einer Entführung, die sie durchlebt habe. Eulabee will ihr so recht nicht glauben, findet sich dann aber auch bald in einer ähnlichen Situation wieder.

Freundschaften und Neid, Lügen und Inszenierungen

Die Zeiten gehören uns ist ein Buch, das von einer Teenagerfreundschaft am Rande zum Erwachsenenwerden erzählt, angesiedelt in den 80er Jahren. Der typische Coming of Age-Stoff wird bei Vendela Vida aber dankenswerterweise um weitere Fragen und Themen ergänzt. So spielt ihr Buch immer wieder mit der Dualität und Dichotomien. Maria Fabiola mit ihrer reichen Herkunft und ihrem Willen zum Drama, Eulabee mit ihrer Mittelschichtfamilie und dem Neid auf Maria. Die kleinen und großen Lügen, die offenen und verdeckten Kämpfe um Gunst und Anerkennung, sie werden von Vida immer wieder durchdekliniert und tauchen in verschiedenen Abwandlungen auf, sogar auf dem abstrakt gehaltenen Cover, das die zwei getrennten Strände zeigt.

Models inszenieren sich in der Öffentlichkeit, Eulabees Vater, ein Auktionator hat Zweifel an der Echtheit eines seiner im Laden ausgestellten Gemälde, Eulabee versucht ihrem nachbarschaftlichen Umfeld falsche Aussagen über Maria unterzujubeln. Und wenn vom familieneigenen Haus die Golden Gate Bridge immer wieder im Nebel verschwunden zu sein scheint, ehe der Nebel dann später wieder aufreißt und ihren Anblick preisgibt, dann ist das nur eine Vorausdeutung des gesamten Erzählkonzeptes dieses Buchs. Es geht in Die Gezeiten gehören uns um Schein und Sein, um Lüge und Wahrheit, Inszenierung des Ichs und Glaubwürdigkeit. Das wird spätestens dann im Epilog klar, der im Jahr 2019 spielt und in dem Maria und Eulabee als erwachsene Frauen ein letztes Mal aufeinandertreffen.

Fazit

In kurzen Kapiteln nimmt schildert Vendela Vida diese Beziehung komplex und ambivalent, nimmt uns mit nach Sea Cliff und und an den Strand von China Beach, lässt uns Lügen lauschen und die Kämpfe der Pubertät noch einmal nacherleben. Sie stellt eine humorbegabte, originelle junge Erzählerin in den Mittelpunkt ihres Buch und beweist mit diesem Buch, dass sie mehr ist als Die Frau von und dass sie über eine genuin eigene Erzählstimme verfügt. Eine Buch voller Nostalgie, das die Jugend und ein heute gar nicht mehr existentes San Francisco heraufbeschwört, fernab von Social Media-Beschleunigung und Tech-Gentrifizierung.

Ein Buch, das aber auch trotz des rückblickenden Settings zeitgemäß und aktuell ist. Da verzeiht man dem Buch und dem Verlag auch die Tatsache, dass Die Gezeiten gehören uns als Titel bei Weitem nicht so stark ist wie das Original: We run the tides.


  • Vendela Vida – Die Gezeiten gehören uns
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27226-2 (Hanser Berlin)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €

Julia Schoch – Das Vorkommnis

Biografie einer Frau

Zu meinen für das Literaturjahr 2022 geäußerten Wünschen zählte auch der, dass es mit dem autofiktionalen Schreiben ein Ende haben möge. Alle Verlage warfen in letzter Zeit immer Bücher dieser Machart auf den Markt: fiktionalisierte Autobiographien, Memoirs, Autofioktionales, nach wahren oder doch nicht so wahren Begebenheiten Erzähltes. Die Nachfrage war und ist groß. Bei mir allerdings nicht mehr. Denn ich bin eindeutig übersättigt.

Nach dem Knausgard’schen tausendseitigen Mammutzyklus, Eshkol Nevos Selbstinterview, Krachts Schweizerkundung, Alem Grabovacs Kindheit, Julia Francks Welten auseinander, Jan Wilms Schneebuch sowie dutzend anderer Bücher, etwa von Christian Dittloff, Edgar Selge, Helen McDonald, Monika Helfer, Annie Ernaux, Joachim Meyerhoff, Helga Schubert oder Tove Ditlevsen, hoffte ich, dass der Trend des autofiktionalen Schreibens passé sei.

Das Erzählen von Familiengeschichte oder Teilen der (vermeintlich) eigenen Biografie, das Spiel mit Wahrheit und Fiktion, das Hineinschreiben des Alter Egos der Autor*innen in die Texte, all das wirkte in seinem Kreisen um die eigene Befindlichkeit auf mich zunehmend manieriert und kalkuliert. Obschon viele der obigen Autor*innen tolle Geschichten zu erzählen haben und einige Vitae in ihrer literarischen Form zu überzeugen wussen, litt ich einfach an Übersättigung, aus der heraus sich auch mein Wunsch nach einem Ende dieses Trends speiste.

Es geht weiter in Sachen Autofiktion

Julia Schoch - Das Vorkommnis (Cover)

Dass mein Wunsch nach einem Ende des Booms so schnell noch nicht in Erfüllung geht, das zeigt sich nun mit Julia Schochs neuem Buch Das Vorkommnis. Wieder ist es eine Schriftstellerin namens Julia, die aus der Ich-Perspektive ein Erlebnis schildert, das in ihr eine Erschütterung auslöst und zu viel Reflektieren und Nachdenken führt, woran uns Schoch in ihrem Buch ausführlich teilhaben lässt.

So stellt sich der Autorin nach der Lesung beim Signieren eine Frau vor, die sich ihr als Halbschwester offenbart. Die Autorin umarmt die Schwester in einer Übersprungshandlung, die wahren Schockwellen entstehen dann erst aber langsam danach.

Zusammen mit ihren Kindern und ihrer Mutter fliegt die Schriftstellerin in die USA, wo sie in Bowling Green in einem Studentenwohnheim wohnt und Vorlesungen hält. Während ihr Vater daheim mit dem Tod ringt, versucht sie in der Ferne ihr eigenes Verhältnis zu ihrem Vater, ihrer Schwester und ihrer eigenen Familie zu klären und hinterfragt die eigenen Erinnerungen an ihre Beziehungen und ihre Rolle als Mutter.

Das Kreisen um das eigene Ich

In kurzen Kapiteln (72 Stück auf gut 190 Seiten) durchmisst die Erzählerin die eigenen Gedanken und kreist viel um das eigene Ich, während in Sachen äußerer Handlung nur wenig passiert. Was definiert uns als Familienmenschen? Was macht Beziehungen aus? Das sind die Fragen, die Schoch in ihrem Roman umtreiben. So kommt es auch innerhalb des Romans zu einem Nachdenken über das Wesen der Fiktion, die Schoch im Bezug auf Familie hier so beantwortet:

Familie ist Fiktion.

Daran ist nichts Schlimmes. Fiktionen sind keine Täuschungen. Fiktion bedeutet dem Wort nach das Erdenken und Hervorbringen einer neuen Welt. Sie ist eine Möglichkeit, über einen kleinen Umweg in die Wirklichkeit zu gelangen“

Julia Schoch – Das Vorkommnis

Während der Lektüre beschlich mich öfter der Gedanke, dass ich hier eher dem Niederschreiben persönlicher Gedanken und einer Wirklichkeitsfindung als einem wirklich erzählerischen Werk im Sinne eines klar strukturierten und zielgerichteten Text beiwohne. Zwar fliegt die Autorin in die USA und erlebt auf dem Campus Begebenheiten, der Fokus des Buchs liegt für mich aber im assoziativen Aufrufen von Vergangenem und Erinnertem.

Auch ist für mich die Genrezuordnung als Roman wenig treffend, wenngleich dieser Begriff natürlich ein weites Feld ist und verschiedenste Ausformungen erlaubt. Mit meiner Definition des Begriffs des Romans im Sinne eines erzählenden Buchs hat Ein Vorkommnis wenig gemein (und erinnerte mich in manchen Passagen stark an das Buch von Helga Schubert).

Es interessiert mich nur wenig

Und jetzt kommt der Luxus, zu dem mich dieses höchst subjektive Blog befähigt (und in gewisser Weise auch die subjektive Erzählweise von Schochs Buch): insgesamt gesehen interessiert mich das alles allerhöchstens peripher und wusste mich nicht zu überzeugen, obwohl ich dem Buch wirklich eine Chance gab.

Gefühlt schon unzählige Male las oder sah ich Erzählungen, in denen plötzlich ein unbekanntes Familienmitglied auftaucht und in der Folge Fragen darüber entstehen, was man über seine nächsten Mitmenschen eigentlich weiß und zu wissen glaubt (etwa zuletzt bei Michael Robothams Die andere Frau).

Wahrscheinlich bin ich als auf Erzählen und literarische Finesse gepolter Leser einfach die falsche Zielgruppe für dieses Buchs. Aber die recht belanglosen Gedanken, das (für meine Begriffe) überzogene Drama, das aus der Begegnung erwächst, das beständige schriftliche Nachdenken in Verbindung mit einer recht durchschnittlichen Sprache war mir für einen überzeugenden Roman zu wenig. Ich konnte mich – vielleicht auch Mangels völlig anderer Lebenswelt und Erfahrung – in den Kosmos der Ich-Erzählerin einfach nicht einfühlen und betrachtete alles aus einer großen Distanz. Die Erzählerin, die Welt, das Erlebte, es war mir fremd und blieb es das ganze Buch über.

Gewiss, sicher kann man das Nachdenken des Romans als facettierte Darstellung der Gedankenwelt der Protagonistin rühmen, man kann die Biographie einer Frau gelungen finden, man kann Schochs Prosa als genau und reflektiert preisen. Die Spiegelung der eigenen Vita und der brüchigen Familienkonstellation grandios, das Hinterfragen dessen, was man weiß gekonnt und überzeugend ausgeführt. Ein großer Wurf, eine zeitgemäße Reflektion der Rolle der Frau in unserer Gesellschaft.

Alles das wird sicherlich bald in den professionellen Kritiken und Feuilletons zu diesem Buch zu lesen sein, womöglich auch zu Recht und ich war unfähig, das alles aus dem Text zu lesen [Ein kleiner Nachtrag: quod erat demonstrandum]. Aber ich kann es leider wirklich nicht – und es tut mir für das Schochs Buch leid. Aber das ehrliche und persönliche Urteil soll auf diesem Blog stets oberstes Ziel sein.

Fazit

Schochs Vorkommnis hätte ich in Form dieser Verarbeitung nicht lesen müssen. Es lässt mich kalt, löst in mir nichts aus, ist nach dem Zuklappen bei mir schnell in den Hintergrund geraten. Für meinen Geschmack zu banal, literarisch zu uninteressant und erneut ein Beweis, dass es mit mir und dem autofiktionalen Erzählen nichts mehr werden wird. Und so bleibt in Bezug auf diese Art des autofiktionalen Schreibens für mich nur ein Wunsch bestehen, den ich paraphrasiert aus Schochs Text übernehmen möchte:

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, gleichzeit wusste ich: Es gibt keine andere Wahrheit als das, was ich sehen und fühlen kann. Und was ich fühlte, war: Es ist vorbei.

Julia Schoch – Das Vorkommnis, S. 134

  • Julia Schoch – Das Vorkommnis
  • ISBN 978-3-423-29021-0 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 20,00 €

Virginia Reeves – Ein anderes Leben

Auch in Zeiten steigender Energiepreise ist der Strom heute doch alles andere als ein Luxusgut. Er ist immer verfügbar, kann einfach über Steckdosen genutzt werden und ist so alltäglich, dass wir gar nicht mehr über ihn nachdenken. Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves entführt in eine Zeit, in der Strom noch Gefahr bedeutete und das Leben von Menschen ins Unglück stürzen konnte. Wir sprechen hierbei aber nicht vom Zeitalter der Entdeckung der Elektrizität, sondern vom ländlichen Alabama vor nicht einmal hundert Jahren. Ein neuer Beitrag in der Rubrik #backlistlesen.


Roscoe T. Martin hadert mit seinem Leben als Farmer. Zusammen mit seiner Frau und den beiden Kindern sowie einem Angestellten bewirtschaftet er die familieneigene Farm. Doch das Leben in den 20er Jahren in Alabama ist hart, der Ertrag der Farm reicht kaum zum Überleben. Da entschließt sich Roscoe zu einer folgenschweren Tat. Er will die Stromleitungen der Alabama Power Company illegal anzapfen, um Strom zur eigenen Farm zu leiten und dort die Dreschmaschine elektrisch anzutreiben. Das notwendige Wissen für die Manipulation besitzt er, da er eigentlich gelernter Elektriker ist und früher im Kraftwerk arbeitete, ehe er der Liebe wegen die Farm übernahm.

Der Fluch der bösen Tat

Virginia Reeves - Ein anderes Leben als dieses (Cover)

Doch der Fluch der bösen Tat lässt nicht lange auf sich warten. Nach seinem illegalen Abzapfen des Stroms ist es nur eine geringe Zeitspanne, in der alles zu laufen scheint. Bei einer Inspektion der manipulierten Leitungen erleidet ein Inspekteur einen tödlichen Stromschlag und Roscoe T. Martin und sein Kompagnon Wilson fahren beide ins Gefängnis ein.

Während Wilson als Schwarzer in den Minen untertage schuften muss, versieht Martin seinen Dienst im Kilby-Gefängnis in der Molkerei, später der Gefängnisbibliothek und trainiert mit einem Aufseher die Hunde, die zur Unterbindung von Fluchtversuchen eingesetzt werden. Dabei treibt ihn die Frage um, wie es mit seiner Familie und der heimischen Farm wohl weitergegangen sein mag. Denn von seiner Frau hat er seit seiner Verurteilung nichts mehr gehört. Und auch vor der Kommission, die über die Aussetzung der Gefängnisstrafen als Bewährung befindet, stehen seine Chancen schlecht.

Anklänge an Klassiker des Genres

Ein anderes Leben als dieses von Virginia Reeves zeigt die Geschichte eines Mannes, der das Gute wollte, doch das Böse tat. Sein Martyrium hinter Gittern schildert sie dabei in spannender Form. Denn es ergänzen sich im Hauptteil aus der Ich-Perspektive erzählte Passagen aus dem Gefängnis (was Erinnerungen an Klassiker des Genres weckt, etwa Stephen Kings Die Verurteilten) mit auktorial erzählten Schilderungen des Farm- und Familienlebens, das durch Martins Tat ins Unglück gestürzt wurde.

Gelungen schafft es Virginia Reeves, plastische Charaktere zu zeichnen und ihre Geschichte ohne übermäßige Schnörkel oder unnötige Passagen geradlinig und konzentriert zu erzählen. Der Rassismus, die Zwangsarbeit hinter Gittern, der brutale Umgang mit Gefangenen und die willkürliche Herrschaft der Obrigkeit wird von der Autorin eindringlich geschildert. Auch ist das Buch stark in seinem Aufzeigen, wie eine einzige, aus gutem Willen und wirtschaftlichen Nöten begangene Tat das Leben von einem halben Dutzend Menschen beeinflussen und entscheidend prägen kann.

Fazit

Virginia Reeves ist ein eindringliches Buch gelungen, das den amerikanischen Süden vor nicht einmal hundert Jahren heraufbeschwört. Dass sie es als Debütantin mit Ein anderes Leben als dieses auf die Longlist des Bookerprizes im Jahr 2016 schaffte (genauso wie Ian McGuire mit seinem Roman Nordwasser), das ist beachtlich und angesichts der Dichte und Präzision ihres Schreibens auch gerechtfertigt. Auch vier Jahre nach dem Erscheinen in der Übersetzung von Simone Jakob und Hannes Meyer ist dieses Buch noch absolut frisch und lesenswert und sollte als Backlistperle hier in der Buch-Haltung gerne Erwähnung finden.


  • Virginia Reeves – Ein anderes Leben als dieses
  • Aus dem Englischen von Simone Jakob und Hannes Meyer
  • ISBN 978-3-8321-9869-5 (Dumont)
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €

Deb Olin Unferth – Happy Green Family

Hennen. Süße kleine Federbälle. Das starke Abenteuer ihrer Rettung: Wer wollte da nicht dabei sein? Es war an der Zeit zu sagen: Es reicht.

Deb Olin Unferth – Happy Green Family, S. 166

Mit einem Huhn fängt es an und wächst sich zu einem riesigen Unternehmen aus: Deb Olin Unferth erzählt in Happy Green Family vom Mut zur Revolution im amerikanischen Huhniversum. Ein starkes Buch über die industrielle Tierhaltung, einen wahnwitzigen Plan und idealistische Menschen im Mittleren Westen.


Bwwaauk, so heißt das Huhn, das der Betriebsprüferin Cleveland bei einer ihrer Routineinspektionen einer Hühnerfarm irgendwo in den Weiten des Mittleren Westens über den Weg läuft. Eigentlich sollte sich das Huhn wie seine Millionen von Artgenossen in einem Stall befinden und dort fleißig Eier produzieren. Doch das Huhn hat den Weg in die Freiheit gefunden und veranlasst Cleveland zu einer Tat, die so gar nicht ihrem Naturell entspricht. Statt das Huhn zu melden und auf den Hof zurückzubringen, nimmt sie es an sich und beschließt, es der Tierrettung zu überantworten.

Diese Huhnrettung ist die erste Aktion, die eine ganze Lawine auslösen soll. Doch einstweilen bleibt alles noch recht überschaubar. Immer wieder entnimmt die Prüferin Hühner aus den Ställen, die sie zuvor kontrolliert hat. Doch ihre Taten bleiben nicht unentdeckt. Die junge Halbwaise Janey wird Cleveland unterstellt, um ihr durch die Ausbildung als Betriebsprüferin in einer Hühnerfarm wieder etwas Halt und Orientierung im Leben zu verleihen. Sie beobachtet ihre Mentorin bei ihrem Tun und wird nach einer Konfrontation zur Mitwisserin und Helferin bei Clevelands Treiben.

Weitere Akteure folgen und bald erwächst aus der Hühnerrettungs-Ich-AG eine ganze Bewegung, die natürlich mit steigender Größe auch immer unwägbareren Gefahren unterliegt. Denn Cleveland und Janey haben sich ein mehr als ambitioniertes Ziel gesetzt, das sie mithilfe ihrer Unterstützer realisieren wollen: Eine Million Hühner sind es, die auf der Happy Green Family Farm ihr Dasein fristen. Und sie wollen diese in einer waghalsigen Aktion befreien. Doch der Plan ist äußerst riskant…

Der Wahnsinn industrieller Tierhaltung

Deb Olin Unferth - Happy Green Family (Cover)

Mit Happy Green Family hat Deb Olin Unferth ein Buch geschrieben, das den Wahnsinn der industriellen Tierhaltung eindrücklich illustriert. Sie nimmt die Leser*innen mit in die Ställe und Legebatterien und zeigt, wie aus Hühner dort Ei-Legemaschinen gemacht werden, die unter künstlicher Sonneneinstrahlung zum Dauerbrüten animiert werden. Dabei lernt man auch viel Wissenswertes über Hühner, etwa die Tatsache, dass Hühner eigentlich Freundschaften und Verbände gründen, ihr linkes Auge für die Fernsicht verwenden oder eigentlich nur etwa 60 mal im Jahr ein Ei legen, was durch die künstliche Beleuchtung in den Stellen auf das fünffache gesteigert wurde.

Den Wahnsinn dieser industriellen und auf Ertrag optimierten Tierhaltung und unseres schizophrenes Verhältnis zu den Tieren thematisiert Unferth eindrücklich, ohne dabei zu moralinsauer zu werden. Sie zeigt Cleveland und Janey bei ihrem idealistischen Kampf, verklärt diesen aber nicht zu Bauernhof-Kitsch, sondern bleibt angenehm realistisch (was auch der amerikanische Originaltitel Barn 8 zeigt, der bei der Rettungsaktion eine dramatische Rolle spielen soll).

Ambitioniertes und überzeugendes Erzählen

Neben der Form und ihrem Anliegen ist es auch Unferths Erzählen, das durch seine anspruchsvolle Form überzeugt und begeistert. Denn anstelle einer einfachen linearen Erzählung entscheidet sich Unferth für ein deutlich komplexeres Vorgehen. Immer wieder springt sie in Einsprengseln in der erzählten Zeit vor und zurück, ergänzt das Ganze mit einem Verhörprotokoll, schiebt gegenläufige Perspektiven ineinander und schreckt auch nicht davor zurück, aus der Perspektive eines Huhns zu erzählen.

Diese erzählerischen Extravaganzen werten Happy Green Family wirklich auf und erfordern zwar ein genaues Lesen, um bei der steigenden Komplexität in Sachen Zeit und Handlung den Überblick zu behalten, belohnen aber auch mit einem engagierten Buch, nach dessen Lektüre man im Supermarkt zweimal überlegt, ob es der billigste 10-Eierpack aus Bodenhaltung sein soll, oder ob man doch etwas mehr Geld investiert und dafür Eier aus Freilandhaltung oder mit mehr Tierwohl erwirbt. Happy Green Family öffnet dahingehend die Augen, wenn man zuvor nicht schon für dieses Thema sensibilisiert war.

Fazit

Deb Olin Unferths Buch ist außergewöhnliche, literarisch ambitionierte und von Barbara Schaden souverän ins Deutsche übertragene Literatur, die mir ausgesprochen gut gefallen hat. Und wer vom Thema Hühner in diesem Frühjahr noch nicht genug bekommen kann: in einem Monat erscheint mit Brüten von Jackie Polzin der nächste Roman, der sich mit dem Leben von Hühner in Amerika beschäftigt. Diesmal allerdings auf eine ganz andere Art und Weise.


  • Deb Olin Unferth – Happy Green Family
  • Aus dem Englischen von Barbara Schaden
  • ISBN 978-3-8031-3344-1 (Wagenbach)
  • 288 Seiten. Preis: 20,00 €