Tag Archives: Wohnen

Maria Messina – Das Haus in der Gasse

In dieses Haus möchte man wirklich nicht einziehen. Mit großem Geschick für psychologische Schwingungen und Konflikte inszeniert Maria Messina in Das Haus in der Gasse das problembehaftete Zusammenwohnen höchst unterschiedlicher Menschen in einem düsteren Haus irgendwo in einer sizilianischen Stadt. Es ist nichts weniger als die Wiederentdeckung einer vergessenen italienischen Autorin!


Sie zählt zu den vergessenen Autorinnen der italienischen Literaturgeschichte: Maria Messina. Früh konnte sie den Kritiker Giuseppe Antonio Borgese mit ihren Erzählungen begeistern, viel Ruhm war ihr aber nach den schriftstellerischen Erfolgen zeit ihres Lebens nicht beschert. Nicht einmal biografische Eckdaten oder Details ihres Lebens haben sich erhalten, wie Christiane Pöhlmann in ihrem kenntnisreichen Nachwort zu Das Haus in der Gasse ausführt.

So war lange Zeit der funktionale 1. Januar des Jahres 1944 als Sterbedatum von Marina Messina festgelegt, ehe sich nach einem Fund der Sterbeurkunde der 19. Januar als wirkliches Todesdatum von Messina datieren ließ. Kaum ein Fitzelchen von Information über die Schriftstellerin hatte Bestand. Das im toskanischen Pistoia aufbewahrte Archiv der Schriftstellerin war durch einer Bombardierung zerstört worden. Und so verlieren sich die Spuren Maria Messinas in den Wirren des Zweiten Weltkriegs, der zum Zeitpunkt ihres Todes schon längst Chaos und auflösenden Strukturen über das ganze Land gebracht hatte. Nicht einmal ein gravierter Grabstein erinnerte lange Zeit an die Autorin aus dem Süden Italiens.

Die vergessene Maria Messina

Maria Messina - Das Haus in der Gasse

Erst der ebenfalls in Sizilien geborene Autor Leonardo Sciascia sorgte für eine Wiederentdeckung der Autorin – die allerdings auch nicht von langer Dauer war. Auch die Welle der (Wieder)Entdeckung der feministischen Literatur in Italien sorgte allenfalls für ein kurzer Strohfeuer, das die Werke Maria Messinas für die die damaligen Leser*innen zu entfachen wussten. Denn nicht nur, dass Messina aufgrund ihrer kaum zu greifenden Biografie wenig Interesse weckte und schon gar nicht als markantes Vorbild taugte – auch ihr Werk selbst entzog sich griffigen Schlagwörtern und Parolen, die der damalige Zeitgeist bevorzugte, wie Pöhlmann im Nachwort ausführt.

Denn bewusste Botschaften, klare Einordnungen und eindeutige Figurenzeichnungen gibt es in Das Haus der Gasse nicht. Vielmehr erweist sich Maria Messina als Meisterin für Psychologie in ihren Figuren und erzählt eine Geschichte, die weniger in einer konkreten Zeit und Ort verhaftet ist, als vielmehr das Allgemeine im menschlichen Zusammenleben herausarbeitet und in den Mittelpunkt stellt.

Das Zusammenleben im Haus in der Gasse

Schauplatz des 1921 entstandenen Romans ist das titelgebende Haus in der Gasse, irgendwo in einer italienischen Stadt nahe des Meeres. Hier lebt Don Lucio, ein von seiner Familie gefürchteter Pedant. Ob Pantoffel, Zitronenwasser, Pfeife zum Rauchen oder die Massage seines Kopfes – alles muss zur rechten Zeit erfolgen und darf nicht vom gewohnten Gang abweichen.

Einst ehelichte Don Lucio Antonietta, deren Vater sich mit Schulden überhäuft hatte, die er Don Lucio als Gesandten des Barons, zurückerstatten musste. Aus diesem Schuldverhältnis ergab sich ein – natürlich – regelmäßiger Kontakt mit Don Lucio, dem auch bald der Antrag für die junge Antonietta erwuchs. Schon kurz nach dem Auszug Antonietta brach das restliche familiäre Gefüge zuhause zusammen. Der Vater starb, die Familie verstreute sich in alle Winde, nur die jüngere Nicola brauchte Obdach, das sie ebenfalls im Haus in der Gasse fand.

Immer und ewig einander gleich und bedrückend verstrichen die Stunden im Haus in der Gasse.

Maria Messina – Das Haus in der Gasse, S. 149

Und so verstricken sich im Laufe des Romans nun die Figuren gegenseitig in Neid, Rivalität und Begehren. In der stets untergründig bedrohlichen und angstgesättigten Atmosphäre des Hauses wachsen die Kinder von Don Lucio und Antonietta heran. Nicola übernimmt ebenfalls Betreuung und Hausarbeiten und bewegt sich im Spannungsfeld der Eheleute, während Don Lucio sie begehrt, im Gegensatz zu seinen Gefühlen für seine Schwägerin seine Kinder aber mit Distanz und Härte erzieht.

Neid, Rivalität, Enge und Kälte

Eindrücklich schildert Maria Messina das komplizierte Miteinander aus Anziehung und Abstoßung, Kälte und aufflackernder Liebe. Mit viel Gespür für psychologische Schwingungen, Rivalität und Verbrüderung beziehungsweise Verschwesterung inszeniert sie den Alltag der Familie, der sich wenig spektakulär ausnimmt, dafür umso eindringlicher die weiblichen Perspektiven im Haushalt unter einem despotischen Hausherren schildert.

Man verlässt das Haus so gut wie nie, Spaziergänge oder Ausflüge ans nahegelegene Meer gibt es nicht, sie sind Don Lucio verhasst. Alles was Freude bringt, ist in diesem Haushalt verpönt. Liebe und Wärme findet sich so gut wie gar nicht, nur die Enge umgibt Messinas Figuren. Folglich wirbeln die Gedanken Nicolas auch durcheinander, als ihre Schwester Don Lucio ein Mädchen gebärt:

Warum musste es in diesem traurigen Haus zur Welt kommen?

Aber als sie die rosigen, fest geschlossenen Fäustchen betrachtete, bekam sie auch mit dem Eindringling Mitleid.

Wenn es nur ein Junge wäre, sagte sie sich. Sein Los wäre einfacher. Frauen sind zum Dienen und zum Leiden geboren. Zu nichts anderem.

Maria Messina – Das Haus am Ende der Gasse, S. 76

Die Selbstaufgabe, Kasteiung und Verleugnung jeglicher eigenen Ansprüche oder Entfaltung von Frauen unter einer patriarchalen Herrschaft, sie nimmt Maria Messina in diesem Roman so gnadenlos und zeitlos in den Blick, dass sich Das Haus in der Gasse auch in unseren Tagen frei von Staub und Sentiment liest.

Hoffentlich eine dauerhafte Entdeckung

Dass Maria Messina nun in einer dritten Welle der Wiederentdeckung endlich der verdiente Ruhm und postume Bekanntschaft zukommt, das bleibt zu hoffen, schreibt doch hier eine Autorin mit genauem Blick für die Anhängigkeiten von Frauen und dem komplizierten Miteinander von Menschen, grundiert von tiefgreifendem psychologischen Gespür für Zwischenmenschliches.

Zumindest der herausgebende Verlag der Friedenauer Presse unter Christian Döring und Christiane Pöhlmann, die nicht nur als Autorin des Nachworts fungiert, sondern auch die vorliegende, sehr präzisen Übersetzung durch Ute Lipka durchgesehen hat, haben ihren Verdienst zweifelsohne erbracht.

Jetzt ist es an den Leserinnen und Lesern, diese Autorin neu zu entdecken. Im Jahr, in dem Italien das Gastland der Frankfurter Buchmesse ist, stehen die Zeichen dafür gut – es wäre allen Beteiligten von Herzen zu wünschen!

Ein Hinweis sei an dieser Stelle auch noch zum Beitrag der Kulturzeit gegeben, in der sich die Literaturkritikerin Ursula März dem Werk nähert und Hinweise gibt, warum Maria Messina so gründlich vergessen wurde.


  • Maria Messina – Das Haus in der Gasse
  • Aus dem Italienischen von Ute Lipka
  • Durchgesehen und mit einem Nachwort versehen von Christiane Pöhlmann
  • ISBN 978-3-7518-8017-6 (Friedenauer Presse)
  • 210 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe

Aus kleinen Handlungen entsteht das Leben, aus vielen Leben entsteht die Welt, so heißt es in Cho Nam-Joos neuem Roman Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe. Doch was ist, wenn diese Handlungen immer nur negative Auswirkungen haben und man sich auf einer schiefen Ebene wiederzufinden meint, auf der es immer nur nach unten geht? Davon erzählt die südkoreanische Autorin anschaulich und zeigt eine kleine Familie, der das Scheitern in den Genen zu liegen scheint.


Dass unser Viertel zu den ärmsten in Seoul gehörte, konnte man sich an fünf Fingern ausrechnen. Die Quote von Jugendlichen, die von zu Hause ausrissen, war hier am höchsten, die derjenigen Schüler, die auf die Oberstufe gingen, am niedrigsten. Und auch wenn es hierzu keine Statistiken gab, stand doch fest, dass die Vielfalt der Beilagen auf dem abendlichen Essenstisch, die Anzahl der Schuhpaare pro Person und die Häufigkeit, mit der man ein Bad nahm, hier am geringsten waren. Das Viertel S-dong, ein typisches Seouler „Mondviertel“, kleine Häuschen auf steilen Hügeln, „dem Mond nahe“, mein Zuhause.

Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nahe, S. 25

Sie, die hier so schonungslos über ihr Zuhause spricht, ist Mani, die zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter in einem dieser Mondviertel in einer Wohnung in erbarmungswürdigem Zustand lebt oder besser gesagt haust.

Eine offene Toilette in Form eines Lochs im Boden wurde zwar einmal durch ein Sitzklo ersetzt, für die allgemeinen Zustände ist aber der vorherige Zustand der Toilette bezeichnend. Fernab der pulsierenden Stadtviertel lebt die kleine Familie in einer zu kleinen Wohnung mit schlechter Isolierung, heruntergekommenem Äußeren und gesperrten Zugangswegen, was im Gesamteindruck eher einem Slum aus dem Mittelalter denn einer wirklichen Wohnung in einer Großstadt Ende der 2000er-Jahre gleicht.

Ein Leben wie in einem Slum

Zwar wird immer wieder eine Aufwertung der Wohnungen in Aussicht gestellt, gar von einem Neubau und einer damit einhergehenden Entschädigung der Bewohner des Wohnviertels ist die Rede – konkret ändert sich aber nichts an den defizitären Zuständen.

Cho Nam-Joo - Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah (Cover)

Doch nicht nur die Wohnung der Familie Manis ist heruntergekommen, auch die restlichen Faktoren ihres Lebens sind alles andere als glücksbegünstigt. Ihre Arbeitsstelle hat sie verloren, ihr Traum einer Karriere als Kunstturnerin nach Vorbild der rumänischen Kunstturnerin Nadia Comaneci hat sich längst zerschlagen, Beziehungen sind auch gescheitert und so wohnt sie nun mit 37 Jahren als eine Art alter Jungfer, so ihre kritische Selbstbetrachtung, noch immer mit ihren Eltern unter dem durchlässigen Dach der Wohnung in S-dong.

Mit der Ehe ihrer Eltern steht es nicht viel besser. Für ihre Tochter hatten sich Manis Großeltern eigentlich einen Sprössling aus gutem Hause vorgestellt, den Absolventen einer höheren Schule – stattdessen wurde es einer der Arbeiter, der die höhere Schule baute. Statt einem Studium an einer Fachhochschule wurde Manis Mutter noch im ersten Semester schwanger und brach den vorgesehenen Bildungsweg ab. Die Karriere ihres Vaters sieht auch nicht besser aus. Er arbeitete in einer Brikettfabrik, gab diese Arbeit aber zugunsten seines Traums von einem eigenen Schnellimbiss auf, der allerdings immer konkreter vom Ruin bedroht wird.

Gescheiterte Lebensentwürfe, gescheiterte Leben?

Die Konsequenz der lebensplanerischen Fehlschläge der südkoreanische Kleinfamilie am Übergang zu gescheiterten Leben zeigt Cho Nam-Joo mit großer Genauigkeit, wofür sie immer wieder zwischen erzählter Gegenwart und Rückblenden hin und herwechselt. So beschreibt sie die Kämpfe um besseres Wohnen dort im „Mondviertel“, die Wahlkämpfe und Bestechungen der Bauträger, geht aber auch zurück in die Schulzeit Manis und zeigt den Wunsch der Schülerin nach einer Karriere im Kunstturnen, der aber auch durch Mobbing und das mangelnde Geld ihrer Eltern vereitelt wurde.

Betrachtet man Nam-Joos Erzählung hinsichtlich des eingangs benannten Zitats, lässt sich auf Hinblick der Familie konstatieren, dass die meisten Handlungen der Familie gescheitert sind. Auch das Leben der drei, das aus diesen Handlungen erwuchs, kann man – zumindest bis zum Zeitpunkt der Handlung von Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah – nach gewöhnlichen Maßstäben als gescheitert ansehen. Nun bleibt in letzter Konsequenz dann die Frage nach der Welt, die aus den kleineren Schicksalsschlägen und Ausgrenzungen solcher Menschen wie der Familie Manis erwächst.

Diese schwingt in Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah immer mit, in dem sich Cho Nam-Joo als wahrhaft sozialkritische und genau beobachtende Autorin präsentiert, die auch vor Beschreibung sanitärer Ausnahmesituationen und der damit verbunden fäkalen Zustände oder anderer hygienisch heikler Themen nicht zurückschreckt.

Eine sozialkritische Autorin mit genauem Blick

Es ist eine Genauigkeit und Schonungslosigkeit, die sie auch schon in ihrem ersten auf Deutsch erschienenen Roman Kim Jiyoung, geboren 1982 unter Beweis stellte und den sie hier nach dem Thema der Benachteiligung von Frauen nun auf die gesellschaftliche Ausgrenzung der Menschen in den Slums der „Mondviertel“ erweitert.

Ihre Schilderungen des Lebens dort in den Vierteln und die Erbarmungslosigkeit, mit der das Leben Menschen wie der prototypischen Kleinfamilie mitspielt, lässt nichts Gutes für die Gesellschaft in Südkorea erahnen. Der Mond mag zwar nah sein, wo diese Familien wohnen, die Sonnenseite des Lebens bekommen sie allerdings nicht zu sehen.

Dieses Thema der Sozialkritik und der Anklage herrschender Verhältnisse führt auch in einer klaren Linie von Cho Nam-Joos eigener Kindheit in Armut über ihren Überraschungserfolg Kim Jiyoung, geboren 1982, den vor drei Jahren erschienen Roman Miss Kim weiß Bescheid bis hin zu dem diesem Buch, das zeigt, dass Cho Nam-Joo über diese Jahre nichts von ihrer Sozialkritik eingebüßt hat. Im Gegenteil.

Fazit

Hier erzählt eine engagierte und genau beobachtende Autorin, die ihre Wut über die herrschenden Zustände in wuchtige und zugleich fein ausbalancierte Prosa zu überführen weiß. Schriebe die Autorin auf Deutsch, sie wäre eine geradezu prädestinierte Aspirantin für den Brecht-Preis, die Sozialkritik mit spannenden Plots und großer erzählerischer Genauigkeit verbindet.

Ein spannender Titel, der Einblicke in südkoreanische Milieus und Zustände erlaubt, die man hierzulande so gar nicht auf dem Schirm hat, obgleich natürlich auch die Hoffnung besteht, dass sich nun einige Jahre nach der beschriebenen Handlung auch in den Mondvierteln alles zum Besseren gewendet hat. Liest man Wo ich wohne, da ist der Mond ganz nah, darf man daran aber durchaus so seine Zweifel haben…


  • Cho Nam-Joo – Wo ich wohne, ist der Mond ganz nah
  • Aus dem Koreanischen von Jan Henrik Dirks
  • ISBN 978-3-462-00583-7 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 288 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen