Fünf Jahre ist es her, dass der vom Blogger Tobias Nazemi initiierte Bloggerpreis Blogbuster das letzte Mal über die Bühne ging. 15 Blogger*innen fungierten damals als eine Vorjury, an die sich Autor*innen mit ihren bislang unpublizierten Manuskripten wenden konnten. Diese sichteten die eingegangenen Texte und schickten den aus ihrer Sicht besten Text auf die Longlist, aus der eine Fachjury, bestehend aus Verlegern, Kritikern und Literaturagenten dann einen Siegertext kürte. Dieser wiederum erhielt dann einen Platz im Programm des am jeweiligen am Preis beteiligten Verlagshäuser, wie etwa Klett-Cotta oder Eichborn.
Drei Mal ging der Preis über die Bühne – und im bislang letzten Preisjahr 2020 wurde mir die Ehre zuteil, auch Teil der Bloggerjury beim Blogbuster zu sein. Zahlreiche Einsendungen von Manuskripten fanden den Weg zu mir. Alle nahm ich in Augenschein und entschied mich schlussendlich für das Manuskript von Yannick Dreßen, das damals noch den Titel Verdichtet trug.
Darin erzählt er die Geschichte eines Autors, der sich in zwei unterschiedlichen Welten wiederfindet. Realität und Wahn fließen ineinander über, sodass man beständig in seiner Beurteilung der Lage schwankt. Liegt der Mann delirierend in einem Krankenhausbett oder ist er ein erfolgreicher Schriftsteller, der in Italien urlaubt und der sich bei seiner Arbeit in die Welt des Delirierenden imaginiert? Ein reizvolles Wechselspiel nimmt seinen Ausgang, das ich gerne in der Endrunde des Preises schicken wollte.
Auch wenn das Buch damals nicht den Sieg errang, so war ich dennoch gespannt, wie es weitergehen würde mit dem Text, schließlich schafften es immer wieder Teilnehmer*innen aus dem Umfeld des Preises in ganz unterschiedliche Verlagsprogramme.
Jahre und einen Podcast später überbrachte mir Yannick auf der Frankfurter Buchmesse im vergangene Jahr die frohe Kunde, dass es auch bei ihm geklappt hatte und ein Verlag für sein Buch gefunden war. Nun ist das damalige Manuskript tatsächlich zu einem echten Buch geworden.
Grund genug, mich mit Yannick über die Geschichte und den Werdegang seines Romans Meravigliosa Creatura zu unterhalten!
Lieber Yannick, nimm uns doch einmal mit zur Entstehung deines Romans. Wie hat das mit dir und deinem Roman angefangen? Welche Überlegungen und Gedanken haben dich dazu verleitet, einen Roman zu schreiben?
Da müssen wir wirklich sehr weit zurückgehen, und zwar ins Jahr 2007. Ich habe schon in jungen Jahren viel und gerne geschrieben, aber in der Jugend rückten dann für lange Zeit erst einmal andere Interessen in den Fokus. Erst mit Anfang 20 wurde die Leidenschaft für Literatur und auch fürs Schreiben neu entfacht. Nach einigen Gedichten und Kurzgeschichten hatte ich schließlich die Idee zu diesem Roman, in dem es um zwei entgegengesetzte aber vermeintlich reale Welten gehen sollte, die ich dann auf circa 50 Seiten ausführte. In den folgenden Jahren habe ich die Geschichte immer wieder bearbeitet, weitergesponnen und umgeschrieben, auch wenn das Grundgerüst bis heute dasselbe blieb.
2012 habe ich die Geschichte mit damals rund 100 Seiten sogar zeitweise in einem Selbstverlag publiziert. Danach habe ich sie lange ruhen lassen und erst zum Blogbuster Preis 2019 wiederhervorgeholt. Uwe Kalkowski, dem ich das Manuskript damals zugeschickt hatte, schrieb mir netterweise seine Gedanken dazu, woraufhin ich intensiv daran weiter feilte. Ein Jahr später ging die Geschichte dann in gänzlich neuem Gewand zu dir in die Runde.
Ich selbst bin dann auf dein Manuskript im Rahmen des „Blogbuster“-Preises gestoßen, bei dem Autor*innen dazu aufgerufen waren, unveröffentlichte Manuskripte an teilnehmende Literaturblogger zu schicken, die sich dann für eines der Manuskripte entschieden, das sich dann der letztendlichen Auswahl einer Fachjury stellen sollte. Nun liegt der Wettbewerb ja schon wieder ein paar Jahre zurück – wie ist es dir seither ergangen und welche Wege hat das Manuskript dann genommen, ehe wir alles es nun lesen können? Und vor allem – wie fühlt es sich an, sein Buch erstmals in Händen zu halten?
Das Gefühl, dieses Buch endlich in den Händen zu halten, nach beinahe 18 Jahren, nach so vielen Fassungen und Überarbeitungen, nach so vielen Rückschlägen und Enttäuschungen … das kann ich nicht beschreiben. Das ist einfach nur unglaublich. Ich habe immer an die Geschichte geglaubt und war einfach davon überzeugt, dass auch andere es mit Freude lesen würden. Leider sahen das viele Verlage erst einmal nicht so. Nachdem du mein Manuskript auf die Longlist des Blogbuster Preises gesetzt hattest, begab ich mich intensiv auf Verlagssuche, erhielt aber eine Absage nach der anderen.
Das war natürlich enttäuschend, aber irgendwie habe ich mich nicht entmutigen lassen, habe nochmal viel Zeit in die stilistische Überarbeitung investiert und ganz nebenbei noch ein neues Ende gefunden. Als ich es dann schließlich fertig wähnte, habe ich mich nochmal auf die Suche nach Verlagen begeben und kul-ja! publishing gefunden, die sofort von der Story begeistert waren und die Geschichte unbedingt veröffentlichen wollten. Vom Verlagsvertrag bis zur Veröffentlichung vergingen aber nochmal mehr als anderthalb Jahre.
Begibt man sich in die Welt – oder besser die Welten – von Meravigliosa Creatura, stellt man schnell fest, dass Realität und Fantasie sowie deren Grenzbereiche eine große Rolle spielen. Denn die Welt des Autors Friedrich könnte fragiler sein, als es zunächst den Anschein hat. Er wird sich – ohne an dieser Stelle zu viel zu verraten – in einer anderen Welt wiederfinden als in der Toskana, in der er sich eigentlich mit seiner Familie befindet. Was hat dich am Spiel mit den zwei Realitätsebenen gereizt? Und wie bist du bei der Konstruktion dieser Welten vorgegangen?
Gereizt hat mich schon immer dieses Konstrukt der Realität, das wir auf unserer Wahrnehmung aufbauen und als unverrückbar erachten, das aber vielleicht nicht so stabil ist, wie wir annehmen. Denn was ist eigentlich Realität? Woraus besteht sie? Gibt es womöglich verschiedene Realitäten? Und welche Rolle spielen Erinnerungen dabei, die letztlich zu Bausteinen unseres Lebens werden? Ist ihnen zu trauen? Können Menschen dieselben Ereignisse erleben und trotzdem anders wahrnehmen? Was ist dann eigentlich wirklich wahr? Schmieden wir uns alle also wirklich nur eine Geschichte, die wir als wahr erachten, obwohl ein anderer Fokus oder Blickwinkel eine ganz andere Geschichte kreieren würden? Das sind Themen, die mich seit jeher reizen.
In Texten tritt noch eine völlig neue Dimension hinzu, nämlich die der Fiktion. Obwohl jeder weiß, dass man nur einen Text liest, akzeptiert man keine Unklarheiten. Der Kopf fordert auch hier eine klare Kausalität, eine Erzählstimme, die einen führt und leitet. Und das war für mich die Idee, anhand fiktionaler Welten Gegensätzliches zum Leben zu erwecken, also zwei verschiedene Realitäten zu erschaffen, die der Kopf nicht akzeptieren kann.
Durch lebendige Personen und Welten, besonders durch Perspektivwechsel habe ich versucht, beiden Welten den Anstrich von Realität zu verleihen. Da man als Leser aber auf Bestimmtheit pocht, will man wissen, welche Welt denn nun die „reale“ ist. Dieses Geheimnis zu lüften, bleibt jedoch dem Leser überlassen. Wenn man über den Schluss hinaus noch über diese Welten nachdenkt, habe ich erreicht, was ich wollte.
Nun spielt ein großer Teil deines Buchs ja auch in der Literaturbranche. Friedrich hat den Deutschen Buchpreis gewonnen und versenkt sich mit großer Wonne in Büchern und deren Sprache. Du selbst beschäftigst dich als Autor, Podcaster und Kritiker auch immer wieder auf ganz unterschiedliche Weise mit der Welt der Literatur. Was macht diese in deinen Augen so faszinierend, dass du auch deinen Roman in dieser Welt spielen lässt?
Die Welt der Literatur ist eine ganz besondere. Hier sind der Freiheit beinahe keine Grenzen gesetzt. Genauso wie Friedrich finde ich es erst einmal erstaunlich, wie aus nur 26 Buchstaben tausende Wörter entstehen können und aus diesen tausenden Wörtern unzählige eigenständige Welten, obwohl das alles ja nur Striche und Punkte sind, die wir mit Bedeutung aufgeladen haben. Wenn man aber diese Zeichen zu deuten weiß, hebt man einen unermesslichen Schatz. Denn man kann in tausende andere Leben eintauchen, sieht andere Kulturen und Meinungen, entwickelt Empathie und Verständnis für das, was man vielleicht vorher nicht gesehen hat.
Wenn man liest, begibt man sich auf eine Reise, bei der man Erfahrungen und Erlebnisse abseits der eigenen kennenlernt, eine Reise, bei der man andere Lebenswege beschreiten darf, neue Blickwinkel erhascht und in Umstände schlüpft, die den eigenen Horizont erweitern. Literatur zeigt uns fremde Wirklichkeiten, unterschiedliche Kulturen und Traditionen, aber auch untergegangene, phantastische und mögliche Welten und lässt uns so die Vielfältigkeit des Lebens erkunden. Durch die Literatur hinterfragen wir schließlich das Leben, das wir führen und als so selbstverständlich erachten. Durch sie hinterfragen wir letztlich uns selbst.
„Sprache war alles und alles war Sprache“ heißt es an einer Stelle in deinem Roman, der ja auch selbst durch Sprache und viele Bilder besticht. Wie bist du vorgegangen, um eine Sprache für deinen Roman zu finden und zu entwickeln?
Die richtige Sprache für den Roman zu finden, hat mich 15 Jahre gekostet. Die Geschichte war von Anfang an dieselbe, die Sprache hat sich im Laufe der Zeit jedoch stark geändert. Mit der Sprache steht und fällt alles, denn Sprache ist nunmal wirklich alles, besonders natürlich in einem Roman, der nur aus Sprache besteht. Mit Sprache erschaffe ich Leben. Mit Sprache erschaffe ich Realität, übrigens nicht nur im Roman, sondern auch außerhalb, also in unserem Denken, das unsere Realität kreiert. Ich bin der Überzeugung, dass Sprache die außersprachliche Wirklichkeit determiniert, also maßgeblich unsere Realität erschafft, in der wir leben.
Anhand der Sprache versetzen wir uns in diese Welt hinein, fühlen und erleben sie. Wir benennen die Dinge und begreifen sie durch Begriffe. Sprache ist also der wichtigste Bauteil beim Kreieren einer vermeintlichen Realität. Da es im Roman selbst um ebenjene Themen geht, also um einen Dichter, der sich mit dem Verhältnis von Sprache und Realität auseinandersetzt, musste auch die Sprache des Romans diesen Konflikt abbilden. Aus diesem Grund ist sie aufgeladen, doppelbödig, träumerisch, voller Bilder und Metaphern.
Meravigliosa Creatura steckt ja voller Anspielungen und Bezüge. Von Ludwig Wittgenstein bis hin zu E.T. A. Hoffmann reicht der Bogen an Zitaten und Verweisen, die sich im Roman finden lassen. Welche Werke oder Autorinnen hatten für dich persönlich den größten Einfluss auf die Geschichte?
Ich selbst empfinde die größte Freude beim Lesen, wenn ich Anspielungen, Verweise und Zitate, intertextuelle oder auch autoreferentielle Bezüge erkenne. Literatur ist ein großer Flickenteppich, alles ist miteinander verwoben und daher voller Zeichen, die mehr als das Gesagte bedeuten können, Zeichen, die auf etwas anderes deuten und verweisen, also eine Metaebene beinhalten. Ähnlich wie William von Baskerville in Umbertos Ecos Der Name der Rose muss man die Zeichen deuten und sich auf Spurensuche machen, um das Ganze zu erfassen. In der Tat habe ich mich deswegen viel mit Sprachphilosophie und Erkenntnistheorie auseinandergesetzt, mehr und weniger verdeckte Zitate und Anspielungen eingebaut.
Zudem wird natürlich auf einige literarische Werke referiert. Dabei haben mich besonders Leo Perutz und seine Werke geprägt, in denen stets ein unzuverlässiger Erzählerauftritt und man nie genau weiß, was da eigentlich „wirklich“ geschieht und ob man dem Erzählten trauen kann. Den größten Einfluss auf mich hatte aber wohl von Anfang an die tragische Liebesgeschichte von Friedrich Hölderlin und Susette Gontard, auf die hier, natürlich in großer literarischer Freiheit, angespielt wird. Letztlich ist es ein Spiel mit dem Leser, der nichts von all den Anspielungen und Zitaten erkennen muss, um die Geschichte mit Freude lesen zu können, dem aber vielleicht ein Lächeln über die Lippen huscht, wenn er etwas erkennt.
Nun, da das Buch nun in der Welt ist, gibt es etwas, das du deinem Buch wünschst oder das du dir als Schriftsteller wünschst?
Dieses Buch allein in den Händen zu halten, ist der größte Erfolg, den ich feiern darf. Das habe ich mirmehr als 17 Jahre lang ausgemalt. Natürlich wünscht man sich als Autor, dass die Werke auch gelesen werden, dass sie Gefallen finden und Aufmerksamkeit erregen. Aber darauf habe ich keinen Einfluss mehr. Ich habe dieses Kind nach 17 Jahren Schwangerschaft zur Welt gebracht, mehr kann ich nicht verlangen – außer natürlich wie Friedrich den Deutschen Buchpreis zu gewinnen und mir dann ein Strandhaus in der Toskana zu kaufen, um mich voll und ganz dem Schreiben zu widmen. Das natürlich schon, aber mehr nicht 🙂
Als Schriftsteller wünsche ich mir die Zeit und Freiheit, weiterschreiben zu können. Im meist hektischen Alltag ist Zeit zu einem kostbaren Gut geworden und vom Schreiben leben zu können, ist ein Privileg, in dessen Genuss nur sehr wenige gelangen. Da mache ich mir keine Illusionen. Deswegen hoffe ich, dass es nicht wieder 17 Jahre zum nächsten Roman dauern wird. Aber glücklicherweise habe ich bereits vor 14 Jahren einen zweiten Roman geschrieben. Blieben also noch 3-4 Jahre übrig, bis er komplett überarbeitet und geschliffen in den Buchhandlungen steht. Das wäre doch toll!
Dafür drücke ich die Daumen und bedanke mich für das Interview! Dir viel Erfolg mit deinem Buch und allem, was da noch so kommt. Ich bedanke mich auch für das Vertrauen, mir das Manuskript einst zuzusenden und freue mich über alle Entdeckungen, die die Literaturwelt noch für dich bereithält!
Wer jetzt neugierig geworden ist auf Yannicks doppelbödige Geschichte – hier die Daten zum Buch:
- Yannick Dreßen – Meraviligiosa Creatura
- ISBN 978-3-949260-39-1 (kul-ja! Publishing)
- 220 Seiten. Preis: 17,00 €