Lina Schwenk – Blinde Geister

Fluchtraum Bunker: in ihrem Debüt Blinde Geister betrachtet Lina Schwenk einmal mehr die Traumata der Nachkriegsgeneration und wie sich diese durch die Generationen ziehen und wirken. Daraus entsteht ein dichter und dunkler Text, der nun auch für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2025 nominiert wurde.


Die Frage der transgenerationalen Traumata ist eine, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur schon seit längerem beschäftigt. So stehen die Bücher von Antonia Baum oder Rabea Edel stellvertretend für die Fülle an Büchern, die das Fortwirken von Traumata insbesondere seit der Zeit des Zweiten Weltkriegs innerhalb familiärer Gefüge untersuchen. Wie vererben sich Verletzungen, psychische Erkrankungen oder das Schweigen über Erlebtes? Warum bricht Generationen später das wieder auf, was die Generationen zuvor doch erlebt und einfach beschwiegen wähnten?

Während mit Jehona Kicaj neben Lina Schwenk eine weitere Debütantin auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises steht, die in ë diesen Komplex in Bezug auf den Kosovokrieg untersucht, steht bei Lina Schwenk eine schon fast bilderbuchhafte BRD-Familie im Mittelpunkt. Vater Karl, Mutter Rita, Oma Fritzchen, dazu die zwei Kinder Martha und Olivia, sie bilden die Familie, auf die wir Leser*innen hauptsächlich aus Olivias Augen blicken.

Vom Fortwirken des Kriegs

Der Krieg ist lange her, sagt man. Schon über zwanzig Jahre. Wir leben jetzt in Frieden.

Lina Schwenk – Blinde Geister, S. 35

Es ist die Nachkriegszeit, aus dem Radio dringen die Beatles, man fährt mit dem Bulli ans Meer – und doch ist die Idylle und Sorglosigkeit nur Fassade. Denn im Inneren wirken die Kräfte fort, die sich zwanzig Jahre zuvor im Zweiten Weltkrieg zeigten. Oma Fritzchen bekommt immer wieder Angstattacken und will sich im Dunklen verstecken, um einer Entdeckung zu entgehen. Vater Karl kämpft ebenfalls mit den Dämonen und sieht im Bunker, den er als Schutzraum für die Familie angelegt hat, die Rettung. Immer wieder müssen Martha und Olivia mit ihm dort hinabsteigen, akribisch kontrolliert er die Vorratspackungen.

Lina Schwenk - Blinde Geister (Cover)

Doch das kann seine Tochter auch nicht behüten – denn kaum zuhause ausgezogen treten auch bei ihr besondere Verhaltensweisen auf.

So erweist sie sich als radikale Anhängerin des Minimalismus und veräußert immer mehr Besitz aus ihrer Wohnung. Aufs Heizen verzichtet sie ebenfalls und regrediert zusehends, ehe sie in eine Psychiatrie eingewiesen wird (womit sich Blinde Geister in eine weitere bemerkenswerte Riege an jüngst erschienenen deutschsprachigen Romanen einreiht, die in Psychiatrien spielen und um psychische Erkrankungen kreisen, von Leon Englers Botanik des Wahnsinns angefangen über Anna Prizkaus Frauen im Sanatorium bis hin zu Svealena Kutschkes Gespensterfische).

Die Gefahr im Augenwinkel

Die Ängste vor dem Krieg und Unsicherheiten, sie manifestieren sich in den verschiedenen Generationen und beeinträchtigen das Leben über Jahrzehnte hinweg, mag auch auf den ersten Blick Frieden herrschen. Die Angst vor dem Krieg, man wird sie nicht so leicht los, insbesondere da der Krieg zumindest in der Wahrnehmung von Schwenks Familie ja immer da war und sich immer wieder wandelt. Vom Zweiten Weltkrieg hinein in den Kalten Krieg bis in unsere Tage, in denen der russische Präsident durch Angriffskriege und beständige Drohgesten auffällt – die Gefahr ist stets präsent, wenn man einen so wachen Blick auf die schlafenden Geister hat, wie es in dieser Familie der Fall ist.

Von diesem Blick auf die stets im Augenwinkel lauernde Gefahr und die psychischen Abgründe in der Familie erzählt Lina Schwenk sprachlich reduziert und unauffällig, dafür aber sehr pointiert und auf ihr Figurenensemble konzentriert. Alle Traumata und Versehrungen lassen sich im Inneren dieser Familie ablesen, was das Buch auch gut in diese Zeit einfügt, in der das Sprechen und der Blick auf blinde Flecken zunehmend auf Nachfrage und Interesse stößt.

Fazit

Den Traumata kann man auch nicht im Bulli davonfahren – aber man kann davon erzählen. Das lehrt Lina Schwenks Debüt, das genau hineinblickt ins Gefüge dieser so durchschnittlichen und damit auch recht repräsentativen Familie, in der alle mit den blinden Geistern kämpfen müssen. Gerade einmal 180 Seiten benötigt sie für ihren präzisen Blick, der in ebenfalls genau gesetzten Sprache dargeboten wird. Gesellschaftlich relevant, verdichtet und vielfach übertragbar, greift dieses stimmige Debüt viele aktuelle Themen auf und ist damit ganz folgerichtig für den Deutschen Buchpreis sowie für den Debütpreis des Harbourfront-Festivals und den ZDF Aspekte-Literaturpreis nominiert.


  • Lina Schwenk – Blinde Geister
  • ISBN 978-3-406-83704-3 (C. H. Beck)
  • 190 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Hannah Lühmann – Heimat

Raus aus der Stadt, rein ins Grüne. Das Einfamilienhaus mit genug Platz für die Kinder und keinem Raum mehr für die Anonymität der Stadt, dafür nachbarschaftliche Verbundenheit und den Wald vor der Haustür. So sieht auch der Traum von Jana aus, die zusammen mit ihrem Mann Noah und den zwei Kindern den Traum eines Eigenheims auf dem Land in die Tat umgesetzt hat. Doch eine neue Heimat findet die junge Frau in Hannah Lühmanns gleichnamigen Roman auf andere Weise als gedacht.


Während die AfD weiter in schwindelerregende Zustimmungsregionen emporklettert (zumindest den Prognosen der Demoskopen nach), steht die deutschsprachige Gegenwartsliteratur dem Phänomen weiter recht hilflos gegenüber. Die Journalistin Hannah Lühmann unternimmt nun einen literarischen Versuch, um die Anschlussfähigkeit an das Gedankengut der in Teilen rechtsextremen Partei zu beleuchten. In ihrem Roman Heimat ist es aber zunächst weniger der Partei, als die neue Nachbarin Karolin, die eine Faszination auf ihre Heldin Jana ausübt.

Zusammen mit ihrem Mann Noah lebt Jana in einem Neubaugebiet fern der Stadt. Zwei Kinder hat Jana bereits und ein drittes ist auf dem Weg. Grund zur Freude bietet das allerdings weniger. Die Schulden für das neue Heim drücken, ihr Mann, Lehrer, glänzt durch Abwesenheit und ist bis abends in der Schule, während Jana ihren Job in einer Agentur für die Kinder aufgegeben hat. Die von ihr zu leistende Care-Arbeit sorgt bei Jana für regelmäßige Überlastung – und so ist die Begegnung mit Karolin eine Wohltat. Sie, ebenfalls Mutter, zieht Jana schon beim ersten Treffen in ihren Bann.

Das Tradwife nebenan

Hannah Lühmann - Heimat (Cover)

Ebenfalls Mutter erkennt sie Janas Schwangerschaft mit einem Blick und ist so anders im Umgang mit ihren Kindern als Jana, die sich oft überfordert fühlt. Die Faszination Janas für sie und ihre Familie ist mit Händen zu greifen. Erst folgt sie Karolins erfolgreichem Auftritt auf Instagram – und sucht auch im echten Leben immer mehr Karolins Nähe. Sie, die mit ihrem Mann Clemens und den Kindern einen so ganz anderen Umgang pflegt, die Jana zum Mütter-Lesezirkel einlädt und der alles scheinbar mühelos zu gelingen scheint, sie wird zum Vorbild für Jana.

Auch seltsame Ansichten zu Themen wie Kindergarten, Impfung oder Überfremdung irritieren Jana nicht. Immer mehr lässt sie sich in den Dunstkreis von Karolin ziehen und entwickelt fast so etwas wie eine Abhängigkeit zu dieser Frau, deren Ansicht unmerklich auch Janas eigene Wahrnehmung und Verhaltensweisen ändern.

Heimat zeichnet die schleichende Übernahme von reaktionärem Gedankengut bei Jana nach. Karolins traditionelles, um nicht zu sagen erzreaktionäres Familienbild, demnach etwa der Wald ein deutlich besserer Lehrer für die Kinder als ein Kindergarten sei oder die Frau dem Mann untertan sein sollte, sie fallen bei Jana in ihrer Überforderung und Suche nach Orientierung auf fruchtbaren Boden.

Vom Lesekreis zum Standdienst für die AfD

Was mit einem Lesekreis beginnt, setzt sich bei Hannah Lühmann bis hin zum Standdienst für die AfD fort, bei der Clemens und Karolin aktiv sind. Morde von Tätern mit Migrationshintergrund und die geplante Asylbewerber-Unterbringung im Dorf stacheln die Menschen auf – und Jana wird zunehmend zur Verfechterin der Werte, die Karolin mit ihren digitalen Auftritten und im echten Leben propagiert.

Dabei ist es manchmal vielleicht etwas arg plakativ, wenn der Aufstieg der AfD immer wieder mit Bildern wie der vom Titelblatt lächelnden „kaltblonden“ Parteivorsitzenden ins Bild geschoben werden oder passenderweise in einem Kapitel die Titelseite mit den neuesten Umfragewerten aus einer Tasche herausblugt. Stilistisch ist das Buch doch eher schlicht gehalten und ist auf der sprachlichen Ebene das Äquivalent zum biederen Einfamilienhaus (auch wenn Emily Dickinsons Poesie eine Rolle im Buch spielt).

Aber Heimat zeigt eben auch, wie vermeintlich harmlos eine Radikalisierung erfolgen kann. Über Vorbilder wie die Tradwife Karolin und deren Einfluss auch auf Gebildete und emanzipierte Frauen wie Jana, die doch empfänglich sind für das Gedankengut, das langsam aber stetig in die Gesellschaft und in die Köpfe einsickert – dazu eine klare und ungeschönte Beschreibung familiärer Überforderung, die die Suche nach Halt und die Orientierung an fragwürdigen Vorbildern schlüssig erklärt.

Fazit

Die großen Erkläransätze für die Faszination AfD für Teile der Bevölkerung kann Heimat freilich nicht liefern – und will es auch nicht. Aber gerade weil Hannah Lühmann hier eher aufs Privatleben denn die große Politik blickt, zudem keine einfachen Wahrheiten anbietet und lieber den schleichenden Weg Janas in die Radikalisierung zeigt, ohne sich wertend einzumischen, hat Heimat für mich Qualitäten. Das Buch ist mit dem klaren Blick auf familiäre Dynamiken und Verschiebungen im Kleinen auch Sinnbild für das Große, das sich in diesem Land verändert, befeuert durch mediales Dauerfeuer und vermeintlich harmlose Gesichter wie die Karolins, deren Ziel Rückschritt anstelle von echtem Fortschritt ist.


  • Hanna Lühmann – Heimat
  • ISBN 978-3-446-28282-7 (Hanser Blau)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns

Was tun, wenn es in der ganzen Familie psychologische Erkrankungen und wahnhaftes Verhalten gibt? Der Erzähler in Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns tut das Konsequente: er geht in die Psychiatrie. Das allerdings als Arzt und nicht als Patient.


Viel ist es nicht, das vom Leben übrigbleibt. War es bei Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt nur das Klingelschild, das nach der Wohnungsauflösung den sichtbaren Hinweis auf die Existenz der eigenen Großmutter lieferte, so ist der Erzähler in Leon Englers Debüt nun mit einigen Kisten an Hinterlassenschaften beschäftigt, die sich ihm sieben Jahre nach ihrer Einlagerung wie eine Zeitkapsel präsentieren. Beim Öffnen wird er mit der eigenen Familiengeschichte und deren Besonderheiten konfrontiert.

Am Ende bleiben sieben Kartons. In diesen Kartons, gestapelt in einem dunklen Lagerabteil in Wien, befinden sich ausgerechnet die Dinge, die meine Mutter aussortiert hatte: alte Rechnungen, Steuererklärungen, Müll.

Ich gehe die Kartons durch. Einer davon ist randvoll mit ungeöffneten Briefen. Schreiben von Inkassobüros und Anwälten, Vollstreckungsbescheiden und fristlose Kündigungen. Ihre Bedrohlichkeit haben die Briefe längst verloren. Die Poststempel darauf sind sieben Jahre alt. Ich setze mich auf den Boden, öffne den ersten Brief. Das Licht geht aus. Ich hebe meinen Arm. Das Licht geht wieder an.

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 7

Alle Plagen aus den Bibeln der Psychiatrie

Die eingelagerten Kisten sind Spuren eins zunehmend aus den Fugen geratenen Lebens, das nicht das einzige in der Familie des Erzählers ist. Denn in Botanik des Wahnsinns spürt der Erzähler den einzelnen Figuren seiner Familie bis in die Großelterngeneration hinein nach – und allem, was sie dabei verband. Denn psychologischen Krankheiten und auffälligen Symptome ziehen sich durch die Generationen. Die Aufzählung der psychologischen Auffälligkeiten, die der Erzähler seinem Wiener Nachbarn offenbart, gerät so mehr als eindrücklich:

Eines Tages erzähle ich ihm von meiner Furcht, verrückt zu werden. Der Nachbar lacht nur. Wir zeichnen einen Stammbaum und überschlagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mich welches Schicksal ereilen könnte: Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 22

Doch nicht nur die Familie ist schon längst zerfallen, auch sein kurzer Text springt von Vergangenem zur Gegenwart, vom eigenem Erleben des Erzählers hin zu den Erinnerungen an seine Familie. Dadurch zerfällt der Text zwar strukturell, bildet aber dennoch ein Ganzes.

Depressionen, Schizophrenie und suizidale Tendenzen

Leon Engler - Botanik des Wahnsinns (Cover)

In seinen kurzen Kapiteln widmet sich der Erzähler all den familiären Figuren und nimmt ihre Eigenheiten und ihre jeweiligen Wesen und Kämpfe mit ihren Krankheiten in den Blick.

Die Mutter, die als Journalistin reüssierte, ein mondänes Leben führte und dann doch in einer zwangsgeräumten Wohnung in Wien endet, der Vater, der sich von der Mutter trennt und Zeit seines Lebens mit den eigenen Dämonen der Depression kämpft, all diese Figuren aus dem familiären Kosmos stellt der Erzähler in seinem Buch vor, blickt dabei aber auch auf seine eigene Position in diesem Kosmos und seine Befürchtungen, den psychologischen Dispositionen ebenfalls zu erliegen.

Sein Lebenswandel hin zu einem Studium der Psychologie (was den Erzähler mit dem Autor Leon Engler selbst verbindet), der dann folgende Alltag als Therapeut in einer psychiatrischen Einrichtung (was wiederum an Joachim Meyerhoffs Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war erinnert), verbunden mit allgemeinen Reflektionen über das „Normale“ und das „Verrückte“, all das fügt sich zu den Porträts seiner Familie und gibt einen Eindruck vom breiten Spektrum psychischer Verfasstheit, auf dem sich Englers Figuren an ganz unterschiedlichen Stellen einsortieren.

Die Überwindung der Sprachlosigkeit

In seinem manchmal fast ein wenig zu sehr auf Pointe oder eine markante Punchline geschriebenen Text gelingt dem Erzähler das, was er am Ende des Buchs als sein erzählerisches Anliegen formuliert. Die Sprachlosigkeit, in der sich die Mitglieder seiner Familie immer wiederfanden, er überwindet sie mit seinem Erzählen und verschafft ihr so eine Geschichte, weit über bloße sieben Kisten in einem Abstellraum in Wien hinaus.

Botanik des Wahnsinns ist der Blick auf eine besondere Familie und ihre Kämpfe und Probleme – und der Beweis, wie Literatur Stigmata überwinden, Verständnis schaffen und ein literarisches Familienalbum schaffen kann, das für die dunklem Töne ebenso Raum vorsieht wie für das Helle.


  • Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
  • ISBN 978-3-7558-0053-8
  • 206 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Mario Desiati – Spatriati

Rastlos bezüglich der eigenen Identität, rastlos bezüglich des Lebensziels, rastlos bezüglich der Bindung, rastlos bezüglich des Lebensortes und des eigenen Platzes im Leben. In seinem preisgekrönten Roman Spatriati zeigt Mario Desiati die Rastlosigkeit eines jungen Mannes, der in seinen Jugendtagen in Claudia eine Freundin findet, deren Beziehung zueinander aber auch eines bleibt – rastlos.


Es ist ein Wort, das sich kaum übersetzen lässt: Spatriati. Die Rastlosigkeit, die Unruhe und Bindungslosigkeit schwingt in diesem Wort mit, wie Mario Desiati bei der Vorstellung seines Buchs im Rahmen der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst erklärte. Die Ruhelosen, die Außenseiter, die Spinner und nicht ganz in die Norm passenden Menschen werden im apulischen Dialekt so bezeichnet. In Desiatis Roman erklärt es der Erzähler wie folgt.

„Zurückgekehrt, aber immer noch spatriato“, sagen sie, eine Anspielung darauf, dass ich keine Frau, keine Kinder und auch keinen festen Job habe, dass ich immer auf gepackten Koffern sitze. Ich bin ein Verlorener. Ein Unbehauster, zumindest in ihrem Weltbild. Einer meiner wenigen Freunde ist etwas umsichtiger und bezeichnet mich als scapulèta, was ein bisschen besser ist als spatrièta, man verwendet den Ausdruck für Rinder, die sich von ihrem Joch befreien.

Mario Desiati – Spatriati, S. 240

Dass der Erzähler sonderlich sesshaft wäre, sowohl in Bezug auf seinen Platz im Leben als auch seinen Platz in einem sozialen Gefüge, man könnte es wirklich nicht behaupten. Denn dieser Francesco „Frank“ Veleno, der im kleinen Ort Martina Franca im Südosten Italiens aufwächst, bekommt das Unvollständige, das Unperfekte schon qua Familienstatus mit auf den Lebensweg gegeben.

Aus Apulien nach Berlin

Ich heiße Francesco Veleno, ich bin das einzige Kind von Elisa Fortuna und Vincenzo Veleno, zweier ehemaliger Amateursportler, die sich bei einer Folge von Spiel ohne Grenzen ineinander verliebt und mich in der Hoffnung großgezogen hatten, ich würde sie eines Tages aus dem rätselhaften Unglück erlösen, mich in die Welt gesetzt zu haben.

Noch war ich weit entfernt von der Erkenntnis, dass viele Beziehungen lediglich „aus Gründen der Staatsräson“ aufrechterhalten werden, wie Claudia es einmal ausdrücken sollte. Und dank ich würde ich zudem begreifen, dass es keine noch so zwingende Staatsräson gab, die drei derart unterschiedliche Menschen dazu verpflichtete, zusammenzuleben, es sei denn, es ginge darum, eine Strafe abzusitzen.

Mario Desiati – Spatriati, S. 7

Die Tradition der unorthodoxen und dysfunktionalen Beziehung überträgt sich bei ihm auch auf sein Leben, wie Desiatis Roman zeigt. Doch Halt verheißt dem durchs Leben Taumelnden die Freundschaft mit Claudia, die schon in Schulzeiten ihr Außenseitertum verbindet. Doch könnte da noch mehr sein zwischen den beiden – oder fühlt er sich doch zu Männern hingezogen, wie es eine erste Begegnung in der Sakristei der örtlichen Kirche verheißt? Alles ist spatriati – unscharf, quecksilbrig, fluide.

Dynamische Beziehungen und unklare Verhältnisse

Anziehung und Eifersucht, Distanz und Nähe, über die ganzen Jahre seit dem ersten Kontakt, es verbindet die beiden Menschen – und auch ihre Eltern. Denn Francescos Mutter pflegt eine Affäre mit Claudias Vater, eine weitere Verbindung in dem Netz, in dem sich die beiden jungen Italiener*innen befinden.

Auch ein Wegzug Claudias aus Apulien nach Mailand, während Francesco gleichzeitig vor Ort in Apulien verharrt, löst die Bindung nicht, im Gegenteil. Später werden beide nach Berlin und durch die Nachtclubs wie das Berghain oder den KitKat-Club ziehen. Affären mit Männern und Frauen, ein mehr als nur chaotisch zu nennendes und von Mario Desiati explizit geschildertes Liebesleben, doch keine Klarheit, wie man zueinander eigentlich wirklich stehen will. Es ist alles reichlich dynamisch in ihren Leben.

Ähnlich wie Vincenzo Latronico in seinem (jüngst mit einer Nominierung beim International Booker Prize geehrten) Roman Die Perfektionen spürt auch Desiati hier in großen Passagen der Rastlosigkeit italienischer Expats in der deutschen Hauptstadt nach. Auch wenn Claudia und Francesco weit entfernt von der oberflächlichen Perfektion und Sorglosigkeit von Latronicos Figuren Anna und Tom sind, so verbindet das Dasein als Spatriati sie alle doch auch irgendwie.

Neben der Rastlosigkeit und Ratlosigkeit über die Macht der Anziehung ist Spatriati auch ein Buch, das von Literatur gesättigt ist. Besonders Claudia ist eine leidenschaftliche Leserin, die in Zitaten von Alba de Céspedes bis zu den Werken von Maria Marcone, Naomi Klein, Italo Calvino oder Banana Yashimoto viel Identifikationsräume für sich ausmacht – und Mario Desiati lässt die Leser*innen in vollen Zügen daran teilhaben.

Fazit

Spatriati erkundet eingehend das Lebensgefühl der Orientierungslosigkeit, sowohl im zwischenmenschlichen, als auch auf ganze Leben bezogen. Die sexuelle Identität ist hier genauso unscharf auszumachen wie das Verhältnis, in dem die Figuren zueinander stehen.

Übersetzt durch Martin Hallmannsecker ist Mario Desiatis Roman in Italien bereits mit dem Premio Strega ausgezeichnet worden und lässt sich nun auch im Deutschen dank der vorzüglichen italophilen Arbeit des Wagenbach-Verlags entdecken.


  • Mario Desiati – Spatriati
  • Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker
  • ISBN 978-3-8031-3368-7 (Wagenbach)
  • 256 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit

Um die Wahrheit ist es nicht bestellt in diesen Tagen. Fake News, alternative Fakten und eine Flut von KI generiertem Müll bedrohen die Wahrheit und machen die Verständigung auf eine gemeinsame Realität immer schwerer. In Raphaela Edelbauers Roman Die echtere Wirklichkeit probt eine Gruppe namens Aletheia den Widerstand dagegen. Wie dieser Kampf aussieht, davon erzählt die österreichische Autorin in ihrem Buch und zielt dabei mitten hinein in unsere Gegenwart.


Wir wollen keine konkreten Reformen vorschlagen, wofür wir andere, mit uns kooperierende Gruppen als zuständig erachten. Wir sind philosophische Revolutionäre, deren sogenannter Terror gewissen Denkbewegungen die Waffe an die Schläfe drückt

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 376

So formuliert es die Vereinigung namens Aletheia in ihrem thesenstarken Manifest, das die in Wien beheimatete Gruppe gemeinsam erarbeitet hat. Mit einer gehörigen Portion Revoluzzer-Nostalgie angefertigt in einer besetzten Wohnung per Matrizendruck sind es 71 Thesen, die für die Gruppe entscheidende Bedeutung besitzen.
Man liest Heidegger, nur ist es diesmal die Musik von Depeche Mode anstelle von Ton, Steine, Scherben, die aus den Lautsprechern dröhnt, während man diskutiert und streitet. Aber nur bei Diskursgewittern soll es nicht bleiben – denn Aletheia ist mehr als ein philosophischer Lesekreis und steht damit in der Tradition des Terrors einer RAF: mithilfe eines Anschlags will mit einem sprichwörtlichen Knall auf die eigenen Thesen hinweisen und die eigene Mission zum Erfolg zu führen.

Terror und Philosophie

Raphaela Edelbauer - Die echtere Wirklichkeit (Cover)

Doch wie kam es so weit, das inmitten Wiens der bewaffnete Aufstand und Terror geprobt wird? Und was will die Gruppe eigentlich? Das erzählt nicht nur das immer wieder aufgegriffene thesenreiche Manifest, das den Leser*innen von Raphaela Edelbauers neuem Roman gleich als Einstieg um die Ohren gehauen wird. Auch die im Rollstuhl sitzende Romy alias Byproxy nimmt uns zurück an die Anfänge, als das mit Aletheia begann – beziehungsweise, als sie zur Gruppe stieß. Denn Byproxy ist der jüngste Neuzugang der Gruppe, die sich aus Paul, Bernward, Brigitte und der Chirurgin konstituiert.

Nachdem sie aus ihrer Wohngruppe hinausgeflogen ist, stößt Romy in den kalten Straßen Wiens auf die Spur der Revolutionäre – und findet Anschluss bei denen in einer besetzten Wohnung beheimateten Gruppe. Als Einstieg in die Welt der Wahrheitsverfechter muss sie durch die ganz große Denkschule durchfräsen und die Lektüre von Parmenides, Husserl oder Hegel nebst Hausarbeit erledigen, um bei Aletheia Aufnahme und Anerkennung zu finden.

Mithilfe des philosophischen Rüstzeugs soll die gehbehinderte Byproxy die Gruppe in ihrem großen Kampf unterstützen. Diesen führt die nach der griechischen Göttin für die Wahrheit benannte Gruppe für die Wahrheit. Denn die Wahrheit, sie gerät seit dem Erfolg des Poststrukturalismus zunehmend in Gefahr – und das von höchster Stelle.

Längst schon arbeiten Kräfte auf dem ganzen Kontinent gegen die Wahrheit an. Man erfindet Begriffe wie alternative Fakten und hat gar kein Interesse mehr, sich zu verständigen und eine gemeinsame Verständnisbasis auszumitteln. Die Verbindlichkeit dieser gemeinsamen, verbindenden Wahrheit ist in Gefahr – doch Aletheia will sie verteidigen.

Der Kampf für die Wahrheit

Es ist ein Kampf, der mehr mit Worten und Gedanken als mit echten Taten geführt wird. Zwar besuchen Paul und Byproxy eine Wahlveranstaltung der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs oder planen einen Anschlag auf die Kronenzeitung, die in den Augen der Gruppe eine Schleuder für Fake News darstellt (und die in der Alpenrepublik trotz ihres boulevardesken und unterkomplexen bis rassistischen Charakters eine Zielgruppe von über drei Millionen Menschen erreicht) – das Ergebnis dieser Anstrengungen bleibt aber kärglich. Eine schlampig gemauerten Mauer vor dem Universitätsbüro von Wahrheitsfeinden, sie ist alles, was bleibt. Dass dieses Bauwerk dann fast von alleine kollabiert ist sinnbildlich zu sehen.

Vieles bei Aletheia bleibt allein beim Wollen, ehe der Roman auf den letzten Seiten doch noch seinen explosiven Charakter entfaltet.

Und dann erlöste Brigitte uns aus dieser Totenstille: „Ich glaube, Byproxy hat recht. Moment mal, lasst uns nachdenken, vielleicht hat sie wirklich recht.“
„Seid ihr beide wahnsinnig geworden?“, fragte Bernward.
„Eine Geiselnahme? Glaubt ihr, wir wollen RAF spielen? Wir sind eine philosophische Gruppe.“
„Eine philosophische Terrorgruppe.“
„Eine philosophisch-aktionistische Gruppe!“, schrie Bernward.

Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit, S. 213

Theorie und Diskussion

Über weite Strecken erschöpft sich die Gruppe in der Planung und Diskussion ihrer Aktionen – und steht damit stellvertretend für die Leistungsschwäche der Linken angesichts eines globalen Rechtsrucks und der Tendenz hin zu Autoritärem. Die Protagonisten dieses Rechtsrucks von der medialen Öffentlichkeit (Kronenzeitung) über akademischen Betrieb bis hin zu den politischen Mitspielern (FPÖ) beleuchtet Edelbauer immer wieder als einen großen Komplex, gegen den Aletheia gar nicht ankommen will und kann.

Verlockender scheinen die Dialoge über Wahrheit und der Blick der Philosophen auf den kaum zu greifenden Komplex. Was ist Wahrheit, auf welche Wahrnehmung der Wahrheit kann man sich verständigen? Die echtere Wirklichkeit geizt dabei nicht mit Thesen und Denkern. Immer wieder verliert sich die Gruppe in Diskussionen zwischen Poststrukturalismus und Pläneschmieden und strapaziert damit auch die Geduld der Leser*innen. Edelbauers Faible für Philosophie und die Widersprüche des Denkens scheinen in diesem Roman wohl so deutlich auf wie nie.

Das macht ihren Roman bisweilen zu einer zähen Lektüre, die mit den 71 Thesen, Theorietexten und Dauerstreitereien Hingabe der Konsument*innen erfordert. Dafür belohnt der Roman auch etwa mit der großartigen Bierzelt-Szene, die die Agitation rechter Kräfte ohne Fakten aber mit ganz viel Gefühl dokumentiert. Auch ist ihr Roman wieder ein großes Sprachfest, da Byproxy eine sprachstarke Erzählerin mit gewähltem Vokabular ist. Man verabsentiert sich, ist spornstreichs unterwegs oder befleißigt sich verschiedenster Dinge. Auch geizt die Autorin nicht mit hinreißenden Austriazismen der Marke Spom­pa­na­deln oder Gleich spielt’s Granada.

Fazit

So ist Die echtere Wirklichkeit ein wilder philosophischer wie sprachliche Tanz, der sich auf dem schwindenden Grund einer gemeinsamen Realität unserer Gesellschaft vollzieht. Edelbauers Buch zielt mitten hinein in die Gegenwart und das brüchig gewordene Vertrauen in Staat – und die Erzählerin.
Trotz eines klaren Österreich-Fokus ist das Buch damit doch auch universell übertragbar. Wackere Leser*innen, die sich nicht von vielen Thesen und Denkgirlanden und Diskussionsdauerfeuern abschrecken lassen, die finden in Raphaela Edelbauers Buch höchst gegenwärtige Lektüre zwischen Philosophie und Bombenanschlag.


  • Raphaela Edelbauer – Die echtere Wirklichkeit
  • ISBN 978-3-608-96630-5 (Klett-Cotta)
  • 448 Seiten. Preis: 28,00 €
Diesen Beitrag teilen