Mary Shelley – Mathilda

Erst postum erschienen erzählt Mary Shelleys Roman Mathilda von Depressionen und von einer Erzählerin, die am eigenen Leid langsam zugrundegeht. Keine sonderlich erbauliche Lektüre, dafür ein hochinteressanter Roman einer Autorin, die in ihrem Werk einmal mehr in tiefe Abgründe blickt und die starke Bilder für die Verzweiflung ihrer Heldin findet.


Blickt man ins Impressum des nun erstmalig auf Deutsch vorliegenden, von Stefan Weidle übersetzten und vom Pendragon-Verlag herausgegebenen Roman Mathilda, dann lässt eine Jahreszahl stutzen. 1959 prangt da als Jahreszahl des Erstveröffentlichungsdatums im Verlag The University of North Carolina Press. Obschon sich Mary Shelley in ihrem bekanntesten Werk mit der künstlichen Reproduzierbarkeit von Leben und der Unsterblichkeit auseinandergesetzt hat, wäre es schon ein ziemliches Kunststück, das wohl nicht einmal Viktor Frankenstein mit der 1851 verstorbenen Autorin hätte vollführen können, um eine plausible Erklärung jenseits des Umstands einer postumen Nachlassung liefern zu können.

Tatsächlich handelt es sich bei Mathilda um den zweiten Roman der 1797 geborenen Mary Shelley – der zu Lebzeiten der Autorin allerdings nie erschien, wie Übersetzer Stefan Weidle in seinem Nachwort ausführt. 1819 verfasst gelangte das Buch nie zur Publikation und wurde durch die Arbeit der Herausgeberin Elizabeth Nitchie erst hundertvierzig Jahre später in den USA erstmalig publiziert.

Mary Shelleys zweiter Roman – der nie publiziert wurde

Auf die Gründe geht Weidle in seinem Nachwort ebenso wie auf den editorischen Kraftakt ein, den die Herausgabe von Mathilda 1959 erstmals bedeutete. Die Reinschrift verloren und Spuren des Werks nur in Tagebüchern und Notizen auffindbar, kam die Rekonstruktion des Textes einer komplizierten Restauration gleich, die Weidle nun auch im Deutschen zugänglich macht.

Liest man Mathilda, dann steigt man tief hinab in seelische Abgründe, dringt vor zu Leid und unerfüllter Sehnsucht. Shelleys Werk ist eines, das vor Pathos und einer dichten Ausmalung der Seelenzustände nicht zurückschreckt, im Gegenteil.

O Stunden des tiefsten Glücks! So kurz ihr wart, seid ihr doch so lang wie ein ganzes Leben, wenn ich auf euch zurückblicke durch den Nebel der Trauer, der sich sofort danach erhob, wie um euch meinem Blick zu entziehen. Ach, ihr wart die letzten Strahlen des Glücklichseins in meinem Leben, ein paar, ein paar wenige Woche, und alles war zerstört. Wie Psyche lebte ich eine Zeit lang in einem Zauberpalast, von Wohlgerüchen und Musik umfangen, in verschwenderischer Opulenz; plötzlich fand ich mich auf einem kahlen Felsen wieder, ein unendlicher Ozean der Verzweiflung brandete um mich, über mir Schwärze, und auch mit geschlossenen Augen hauste ich inmitten eines weltumfassenden Todes.

Mary Shelley – Mathilda, S. 33

Schon der Anfang des Romans gibt eine Ahnung, dass Freude und Glück in diesem Werk nur spärlich gesät sind. Einsam wie weiland Caspar David Friedrichs Mönch am Meer präsentiert sich die Erzählerin Mathilda hier, die sich an die Niederschrift ihres Lebens macht, die nachzeichnet, was sie in das einsame Landhaus inmitten der ebenso einsamen Heidelandschaft im Norden Englands gebracht hat.

Mathilda im Tal der Tränen

Mary Shelley - Mathilda (Cover)

Der „Pesthauch des Unglücks“ ist über sie hinweggezogen und hat sie ausgedörrt, weshalb es nun auf das Ende für Mathilda zugehen soll. Doch zuvor blickt sie zurück, um von diesem Unglück zu erzählen, das seit Kindesbeinen an ihr Begleiter war.

Aufgewachsen als junges Mädchen bei ihrer lieblosen Tante in Schottland ließ sie ihr Vater als Kind nach dem Tod seiner Frau bei seiner Schwester zurück. Die dort erfahrene Kälte wandelt sich erst in Wärme, als ihr Vater zurückkehrt und sie bei diesem Liebe und Verständnis findet. Doch das Glück währt nicht lang.

Hochgradig depressiv wird ihr Vater immer wieder von Dämonen heimgesucht, versinkt in Lethargie und kaum erklärbaren Seelenzuständen. Als er dann stirbt, ist es mit dem kurzzeitigen Glück dann sowieso vorbei. Angekündigt wird dieser Tod wieder einmal von einem Blitz, der auch hier wie schon im ein Jahr zuvor erschienenen Frankenstein einen Baum spaltet und damit den Verlust und die Zerrissenheit seiner Figur eindrücklich illustriert.

Gelungen malt Shelley diese kaum erklärbaren Zustände von Mathildas Vater aus (womöglich auch grundiert durch die Verlusterfahrungen des Todes zweier eigener Kinder, ehe ihr drittes Kind dann drei Tage nach Beendigung des Manuskripts zur Welt kommen sollte). Sie zeigt Mathilda im Unglück, die ganze Täler der Tränen durchschreiten muss und zusehends ihren Lebenssinn ähnlich wie ihr Vater verliert.

Manchmal redete ich mir ein, es sei ein Zauberbann verhängt worden und ich müsste ihn abwehren. Mein Vater sei von einer schrecklichen Vision geblendet, die ich austreiben müsse. Da versichte ich wie David, den bösen Geist mit Musik auszutreiben; und während des Singens hob ich meinen Blick zu ihm auf und sah seine tränennasse Augen auf mich gerichtet, seine Muskeln schienen sich völlig entspannt zu haben. Mit einem Freudenschrei sprang ich auf ihn zu und wollte mich in seine Arme werfen, doch er schob mich grob von sich und verließ den Raum. Nach diesem so geringfügigen Zwischenfall wurde seine Stimmung noch düsterer und sein Verhalten mir gegenüber noch abweisender.

Mary Shelley – Mathilda, S. 37

Anschauliche Schilderungen von Depressionen

Anschaulich erzählt sie von diesen depressiven Phasen und Schüben. Mit schon fast ödipalen Untertönen durchzogen ist Mathilda das Dokument einer beziehungsweise gleich mehrere gequälter Seelen, in denen wenig Hoffnung aufscheint. Hoffnung und Zuversicht gibt es nur wenig – dafür viel Lebensmüdigkeit und düstere Töne, versetzt mit kraftvollen Naturschilderungen, die die innere Handlung dieses Romans fortführen, spiegeln und bebildern.

Immer wieder meint man Caspar David Friedrich oder John William Waterhouse als Kulissenmaler für die Schilderungen am Werk zu sehen, etwa in einer der stärksten Szenen dieses Romans, wenn Mathilda schon fast ätherisch, ganz in weiß gekleidet über den schottischen See ihrem Vater in einem Ruderboot entgegenfährt, um damit auch ihre Welt vom Dauergrau plötzlich in Farbe gesetzt zu sehen.

Ich lag im Gras, umgeben von einer Dunkelheit, die nicht der geringste Lichtschein durchdrang. Es herrschte völlige Stille, denn die tiefe Nacht hatte die Insekten einschlafen lassen, die einzigen Geschöpfe, die in dieser Einöde ohne Baum und Strauch überlebten. Die Luft war von einem eigenartigen Schweigen erfüllt, das meine Sinne beruhigte, doch meine Seele anregte: mein Geist flatterte von Bild zu Bild und schien eine ganze Ewigkeit zu umfassen. In meinem Herzen war alles dunkel und ruhig, bis meine Gedanken sich verhedderten und schließlich in den Schlaf mündeten.

MAry Shelley – Mathilda, S. 137

In diesen Schilderungen ordnet sich der Roman klar in die Epoche der Romantik ein und zeigt, dass Mary Shelley neben den großen Handlungsbögen auch den Blick in das Innere beeindruckend beherrscht.

Versetzt mit vielen Zitaten aus anderen Werken der Literatur lassen sich für Kenner im Text neben biographischen Koinzidenzen im Leben Marys und Mathildas zudem Bezüge zu Mary Shelleys Ehemann Percy Byce Shelley und ihren eigenen Vater herauslesen. Neben Zitaten von Dantes Göttlicher Komödie bis hin zu Shakespeare soll auch Percy Shelleys Schreiben im Text seiner Gattin paraphrasiert sein, wovon im Deutschen nicht zuletzt Dank des kaum mehr bekannten Werk Shelleys aber kaum etwas zeugt, wie auch Stefan Weidle in seinem Nachwort schreibt.

Fazit

Mit Mathilda ist nun über 200 Jahre nach dem Entstehen endlich auch auf Deutsch Mary Shelleys zweiter Roman zu lesen. In dunkle Farben getaucht spürt die Autorin der Verzweiflung und den Gründen für ebendiese Verzweiflung im Inneren ihrer Figur nach. Ihr gelingt ein Roman, der anschaulich von Depressionen und verlorenem Lebenssinn erzählt. Zwar stiftet Mathilda selbst wenig Grund zur Freude, die Veröffentlichung dieses Romans tut es aber umso mehr!


  • Mary Shelley – Mathilda
  • Aus dem Englischen und mit einem Nachwort versehen von Stefan Weidle
  • ISBN 978-3-86532-870-0 (Pendragon)
  • 196 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Was bleibt von einem Namen, wenn man stirbt? Wenn das Zuhause aufgelöst und das Klingelschild abgelöst wird, das einst vom Namen kündete? Ricarda Messner lässt ihre Protagonistin in Wo der Name wohnt in einen Trauer-, aber vor allem einen Erinnerungsprozess eintreten, während sie die Wohnung ihrer Großmutter leert. Mögen die physischen Spuren auch schwinden, so werden sie doch durch das Erzählen konserviert. Nur die Bewahrung des Namens, er stellt sich als das wahre Hindernis heraus.


Welch bürokratischer Akt ein Namenswechsel sein kann, das erfährt der geneigte Leser in Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt eindrücklich. Denn die verschiedenen Kapitel ihres Buchs werden durchs bestes Amtsdeutsch eingeleitet, in dem erklärt wird, welche Notwendigkeiten für und welche Gründe gegen einen Namenswechsel sprechen. Immer wieder unterbrechen und strukturieren diese bürokratischen Einschübe die sonst so angenehm dahinfließende und mit fremdsprachigen Bruchstücken durchsetzte Sprache Messners und holen zurück auf den Boden juristischer Tatsachen.

Die Verwaltungsgebühr für die Änderung von Familiennamen beträgt gem. §3 Satz 1 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 07.01.1938 (Reichsgesetzblatt I S. 12/Bundesgesetzblatt III Nr. 401-1-1), in der jeweils aktuellen Fassung – NamÄndVo 2,56 bis 1022,00 €

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Bemühungen um die Bewahrung eines Namens

Der Grund für diesen behördlichen Schriftverkehr begründet Messners Erzählerin schon auf den ersten Seiten dieses schmalen Romans. Denn die namenlose Erzählerin ist darum bemüht, den Namen ihrer verstorbenen Großmutter anzunehmen, um so die Erinnerungen an das familiäre Erbe wachzuhalten und zu bewahren.

Und irgendwo zwischen den beiden Häusern, ich zählte während der Wohnungsauflösung zum ersten Mal die Schritte, überkam mich eine Sehnsucht. Ich wollte den Nachnamen wieder tragen, sehnte mich nach ihm wie nach Großmutters Gesicht, das ich nicht mehr sehen würde. Es waren ungefähr vierzig Schritte von Tür zu Tür.

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt, S. 14

Einst lebte sie in der Wohnung des Hauses Nummer 37, ihre Großmutter quasi nebenan im Haus, das die Nummer 35 trägt.

Nun blickt die Erzählerin zurück. Auf das Ausräumen der Wohnung, die eigene Geschichte und die Risse, die sich nicht nur in Großmutters Wohnung, sondern auch der familiären Biografie zeigen. Denn die Familie Levitanus ist nicht das, was man im rechten Dumpfdeutsch aktuell als „biodeutsch“ bezeichnet. Vielmehr ist sie Teil der fünfundzwanzig Millionen Menschen in Deutschland, die einen Migrationshintergrund besitzen. Und dieser im Falle der Erzählerin ein durchaus illustrer.

Migration nach Deutschland

Ricarda Messner - Wo der Name wohnt (Cover)

So reisten die Mutter und Großmutter 1971 aus Lettland als Staatenlose nach Deutschland ein und begannen hier ein neues Leben. Schon mehrfach zählten Neuanfang und Anpassung zu den erforderlichen Fähigkeiten, die die Familie Levitanus beweisen musste.

Beim sogenannten Rigaer Blutsonntag überlebte die Großmutter das Rigaer Ghetto, in dem lettische Jüdinnen und Juden getötet wurden, um Platz für deutsche Jüdinnen und Juden zu schaffen. Auch ihr Großvater floh 1941 vor den herannahenden Deutschen, ganze 4200 Kilometer maß seine Fluchtroute. Später studierte er in Moskau, die Großmutter musste als Staatlose 1971 mit ihrer Tochter aus Lettland in der damaligen Sowjetunion fliehen.

Sprachfetzen, Gerichte, Rituale sind es, die über das Lebensende der Großmutter mit 95 Jahren hinaus blieben und die die Erzählerin in ihrem Erinnern bewahrt. Eine besonders große Rolle für sie nimmt der Familienname ihrer Großmutter ein. Er ist es, der als abstrakter und doch konkreter Besitz die Flucht überstand und nun zum Orientierungspunkt der Erzählerin wird. Ihn möchte sie mit ihrer Namensänderung bewahren und so die Erinnerungen an die familiäre Identität wachhalten.

Es sind die Erinnerungen, plötzlich aufblitzenden Gedanken und die in der Familie gesprochenen Sprachen und Wortfetzen, die sie in ihren Erinnerungen wachruft und damit auch noch einmal tief in die eigene Familiengeschichte zwischen Baltikum und Deutschland, Flucht und Neuanfang, Judentum und familiären Erbe vordringt. Doch in Reiner Geistesarbeit verharrt dieses Erinnern nicht. Auch physisch leistet die Erzählerin diese Arbeit. So sondert sie nicht nur den großmütterlichen Besitz aus, der eng mit den Erinnerungen verknüpft ist, auch begibt sie sich auf familiäre Spurensuche, die sie bis nach Lettland und damit auch gewissermaßen wieder an den Anfang ihrer Geschichte zurückführt.

Fazit

Wo der Name wohnt ist ein reduzierter Familienroman, der vom Ende und den Erinnerungen her den familiären Bezug denkt und der den Rissen in den Biografien nachspürt. In Zeiten, in denen Migration verteufelt und Einwanderung zur Mutter aller Probleme erklärt wird, zeigt Richarda Messner, was Migration und Ankommen eigentlich bedeutet. Dass man das 20. Jahrhundert und seine Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein gar nicht ohne migrationsbedingte Brüche denken kann, das lässt sich aus Wo der Name wohnt eindrücklich erfahren.

Der Mitbegründerin und Herausgeberin des Flaneur-Stadtmagazins gelingt mit ihrem Roman ein ruhiger und knapper Roman, der das in der Gegenwartsliteratur kaum behandelte Schicksal lettischer Juden in den Blick nimmt. Ihr Debüt passt sich auch gut in die Riege junger Suhrkamp-Autor*innen ein, die mit ähnlichem sprachlichen Zugriff den Beziehungen zu Eltern und Großeltern oder dem jüdischem Familienerbe nachspüren.

Weitere Meinungen zu Ricarda Messners Buch gibt es unter anderem auf dem Blog Poesierausch.


  • Ricarda Messner – Wo der Name wohnt
  • ISBN 978-3-518-43232-7 (Suhrkamp)
  • 170 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Annegret Liepold – Unter Grund

Braun ist hier nicht nur der Grund der Weiher, in dem die Karpfen in Annegret Liepolds Roman Unter Grund gründeln. Der Autorin gelingt mit ihrem Debüt ein Roman, der vom verdeckten und offenen Rechtsradikalismus auf dem Land erzählt, und der erzählerisch das liefert, was der Titel schon verheißt. Eine Tiefenbohrung in Sachen Familie, Jugend und den Verstrickungen in rechtes Gedankengut.


Himmelsweiher, so werden die Teiche im Fränkischen genannt, die für Franka ein Stück Heimat sind. Tausende dieser für Fischzucht genutzten Teiche liegen in der Region Aischgrund in Mittelfranken zwischen Erlangen und Würzburg. Ihren Namen verdanken sie dem Umstand, dass sie an keine fließenden Gewässer angeschlossen sind, sondern nur durch Regenwasser befüllt werden.

Die Kontrolle der familieneigenen Teiche war einst Sache ihre Vaters, die er zusammen mit der jungen Franka an seiner Seite durchführte. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Der Vater ist tot, sie selbst inzwischen eine Referendarin in München, weit weg von den Himmelsweihern. Als sie nun Hals über Kopf zurückkehrt nach Franken, muss sie feststellen, dass sich vieles verändert hat. Die Teiche sind verkauft und auch das Haus ihrer „Fuchsin“ geheißenen Großmutter, der Fuchsbau, steht zum Verkauf. Für Franka, die nach ihrer überstürzten Flucht aus München sowieso schon höchst erregt ist, sind es Hiobsbotschaften, die dazu angetan sind, die Idylle ihrer Jugendjahre dort in der fränkischen Provinz endgültig zu zerstören.

Eine Flucht aus München in den Aischgrund

Dazu kommt es dann auch in diesem ebenso souverän erzählten wie geschickt montierten Roman, was allerdings weniger mit dem Abschied von familiären Besitztümern zu tun hat. Vielmehr sind es die Erinnerungen, die durch den Besuch des in München stattfindenden NSU-Prozess ausgelöst werden, den Franka mit ihrer Schulklasse besucht. Ein Wort dort lässt Franka nicht nur zurück aus München fliehen, sondern sie vor allem tief in die eigenen Erinnerungen eintauchen. Tiefer noch, als es jeder Himmelsweiher sein könnte.

„Hey“, sagt Hannah, „was ist denn los? Warum bist du weggerannt?“

Hannah wartet, aber Franka weiß nicht, was sie sagen soll.

Was sie weiß, ist: Sie hätte nie zum Prozess gehen dürfen.

„Jaros hat Zschäpe eine Nazischlampe genannt“, sagt sie stattdessen.

Hannah sieht sie verständnislos an. Franka sucht nach weiteren Worten, aber es fehlt ihr an allen. Jede Erklärung würde eine neue Erklärung verlangen. Wo soll sie anfangen, hier und jetzt an diesem zugigen U-Bahngleis, wo alle Fäden lose sind, und egal, an welchem sie zöge, immer nur ein weiterer einzelner Satz hervorkäme, der noch mehr Unverständnis bei Hannah hervorriefe.

„Und das findest du unangemessen?“

Franka schüttelt den Kopf. Wie sollte sie erklären, dass es nicht um Jaros oder Zschäpe geht. Am besten wäre, sie würde sagen: Lass uns Leben tauschen, ich nehme deine Vergangenheit und du meine. Nur dann könnte Hannah verstehen, was los ist.

Annegret Liepold – Unter Grund, S. 7f.

Unter Grund tut im Folgenden genau das, was Franka hier noch hypothetisch beschreibt. Annegret Liepold zieht an den Erinnerungsfäden und entwirrt diese Stück für Stück. Tieft taucht sie dabei in die Vergangenheit von Franka ein, die bis in die Gegenwart fortwirkt, wie das Wort der „Nazischlampe“ deutlich zeigt. Denn einst geriet die junge Frau in Kontakt mit rechtsradikalen Kreisen dort auf dem Land, wo sich die unter den schulterzuckenden bis goutierenden Blicken der restlichen Dorfbevölkerung die NPD zu Stammtischen im Dorfwirt traf.

Erstarkender Nationalismus – und erstarkender Rechtsradikalismus

Annegret Liepold - Unter Grund (Cover)

Ähnlich wie bei Luca Kiesers Roman Pink Elephant ist es auch hier der WM-Sommer 2006, der den erzählerischen Hintergrund der Rückblenden bildet. Als plötzlich Deutschlandfahnen in Autoscheiben klemmten, Nationalfarben auf Rückspiegeln und in Gesichtern prangten und die Welt zu Gast bei Freunden sein sollte – da rollte sie durch Deutschland, eine neue Welle des Patriotismus.

Vielfach wurden erregte Diskurse geführt, wie dieser neue Nationalstolz einzuordnen sein. Ob man das einfach dürfe, stolz auf sein Land zu zeigen. Ob nach all der Zeit nicht gut sei, mit dem verdrucksten und verschämten Patriotismus und ob man das nicht zeigen dürfe. Eine gehisste Deutschlandfahne mache einen nicht gleich zu einem Nazi, so der Tenor vieler Debatten. Eine durchaus richtige Feststellung, auf die Annegret Liepold allerdings gar nicht zielt. Vielmehr blickt sie auf die Phänomene, die im Windschatten der Schland-Euphorie jenes Sommers wieder offen zutage traten.

Denn das Sommermärchen geheißene Event führte nicht nur zu einem Erstarken des Nationalismus – auch dem Rechtsextremismus und seinem völkischen Denken kam die nun wieder stolz gezeigte Zuneigung zum eigenen Land zupass. Sinnbildlich für das Spannungsfeld der damaligen Debatten steht Frankas linker Positionen zuneigende Jugendfreund Leon. Dieser wendet sich angesichts von Schlagzeilen wie „Ihr Deutschen seid schwarz-rot-geil“ und dem allgegenwärtigen Fahnenwahnsinn mit Grausen ab, während Franka kurz nach dem Abiball die Bekanntschaft mit Patrick macht.

Dieser ist ganz anders als Leon, der mit seinen Ansichten dort auf dem Land in der Minderheit ist. Patrick nimmt sie mit auf eine Tagung der NPD ins Wirtshaus und bringt sie in Kontakt mit Janna, die Franka von Beginn an fasziniert. Lagefeuerabende und Hauspartys folgen, bei denen sich die Gäste als textsicher erweisen, was Lieder von den Böhsen Onkelz bis zum Horst Wessels-Lied anbelangt. Zum Unverständnis von Leon versinkt Franka binnen kurzem immer tiefer in diesem braunen Sumpf- mit fatalen Folgen.

Das Abgleiten in den braunen Sumpf

Das schnelle Abgleiten in die rechtsextreme Szene und die Verankerung von deren Gedankengut auf dem Land zeichnet Liepold ebenso nach, wie sie auch familiäre Verstrickungen in die Nazizeit aufarbeitet. Zusammengesetzt aus Frankas gegenwärtigem Aufenthalt dort im Dorf und den Geschehnissen im Sommer 2006 fügt sich ein Bild zusammen, das vom Fortwirken des Nationalsozialismus erzählt.

Wenn Liepold nur mit kurzen Szenen die heute immer noch geführten Debatten um Schlussstriche, Reparationen, notwendigem Landesstolz und die Umbenennung von Straßen antippt, dann zeigt sich ein zutiefst beunruhigendes Bild von rechtem Denken, dass immer noch im Untergrund lauert und von dem man sich besonders auch Franken nicht wirklich frei machen konnte. Sinnbildlich hier der im Roman geschilderte Ausflug der Clique nach Gräfenberg, in dem noch 2008 ganze 18 Demonstrationen von Neonazis innerhalb eines Jahres stattfanden.

Überhaupt, der Untergrund, er gibt dem Buch nicht nur den Titel, sondern ist auch ein hervorragend eingebundenes Motiv, das sich durch den ganzen Roman zieht. Vom Beginn, in dem Franka getriggert vom Begriff der „Nazischlampe“ unter der Erde am U-Bahnhof sitzt, über die Teiche, in deren braunen Morast die Karpfen gründeln, bis hin zum gesellschaftlichen Erbe der Zeit des „Dritten Reichs“, das unter der Oberfläche brodelt. Mal verharrt es subkutan, mal tritt es offen zutage, etwa auch in der Namenswahl der Neonazis, so auch beim eingangs erwähnten Prozess um Beate Zschäpe, die sich ja als Teil des rechtsradikalen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ versteht.

Fazit

Unter Grund ist ein eminent politischer Roman, der der Verankerung des Rechtsradikalismus in Gesellschaft, auf dem Land und in Familien nachspürt und der Franka tief in den eigenen Erinnerungen versinken lässt. Und auch wenn die AFD zum damaligen Zeitpunkt noch kein Thema war, hat dieser Roman doch ein Gespür für Kontinuitäten und Entwicklungen, in deren Lichte das heutige Erstarken der extrem Rechten konsequent erscheint.

Dass der Roman dabei ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, literarisch hervorragend gearbeitet ist, Rückblenden und erzählte Gegenwart klug miteinander verschränkt und erst langsam die ganzen Facetten seiner Figuren und der Geschehnisse freischält, wobei das Buch stets wohltuend vielschichtig und genau beobachtend vorgeht, das steigert die Qualitäten von Unter Grund gleich noch mehr. Es lohnt sich, dieses Buch ebenso aufgrund seiner Literarizität als auch seiner politischen Botschaften zu lesen.

Man wünscht Annegret Liepolds Debüt in diesen oftmals so geschichtsvergessenen Zeiten viele LeserInnen. Besonders als Schullektüre könnte sich die Betrachtung des Buchs lohnen, ist Liepolds Debüt doch eng an seinen jugendlichen Figuren dran und weist eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz auf, die viele (schulischen) Diskussionen und eine breite Rezeption verdient – und das weit über Franken hinaus.


  • Annegret Liepold – Unter Grund
  • ISBN 978-3-89667-766-2 (Blessing)
  • 255 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Liz Moore – Der Gott des Waldes

Das Verschwinden einer jungen Frau steht im Mittelpunkt des neuen Buchs von Liz Moore. Doch nicht nur die Komposition ihres Romans ist ambitioniert – auch zeichnet ihr Roman Der Gott des Waldes ein Bild des Geldadels in Amerika und der besonderer Regeln, die für diesen gelten.


„Camp Emerson“, hatte er zu ihr gesagt. „Ein paar Stunden den Adirondack Northway hoch, im Van-Laar-Naturreservat“. Louise hatte ihn überrascht angesehen. „Das kenne ich“.

Liz Moore – Der Gott des Waldes

Nicht nur Louise kennt dieses Camp, das einen der zentralen Schauplätze von Liz Moores Roman bildet. Alle Familien aus Neuengland, die etwas auf sich halten, schicken ihre Kinder in das Camp Emerson, wo diese während des Sommers ein besonderes Ferienlager erleben. Unter Leitung von T. J. Hewitt sind die Kinder in unterschiedlichen Hütten untergebracht, wo sie der Aufsicht von Betreuerinnen und Auszubildenden unterstehen. Lagerfeuer, Übungen, Spaß aber auch am Ende des Sommers ein mehrtägiges Überlebenstraining im Wald stehen auf dem Plan des elitären Camps.

Hier verschwindet Barbara van Laar, die Tochter der Besitzer jener Güter in den Adirondacks, auf denen sich das Camp befindet, das einst von Peter van Laar begründet wurde. Besonders brisant wird dieses Verschwinden der Erbin der van Laars, da nicht nur Barbara verschwunden ist. Vor vierzehn Jahren verschwand dort im Wald ihrer Bruder Bear van Laar ebenfalls spurlos. Hat dieses Verschwinden eventuell etwas mit dem Serienmörder Jacob Sluiter zu tun, dem dort in den Adirondacks zahlreiche Morde zur Last gelegt werden?

Eine Meisterin der Erzählstruktur

Liz Moore - Der Gott des Waldes (Cover)

Mit Der Gott des Waldes erweist sich Liz Moore erneut als grandiose Bastlerin, die Erzählebenen und -stränge miteinander aufs Beste verknotet und verknüpft. War ihr Roman Long bright river in seiner Doppelmontage der Erzählperspektiven der zwei unterschiedlichen Schwestern fein gearbeitet, steigert sie hier den Schwierigkeitsgrad noch einmal um ein vielfaches. So sind es nicht nur über ein halbes Dutzend Figuren von der jungen Ermittlerin Judyta bis hin zu Jacob Sluiter, deren Perspektive Liz Moore schildert.

Sie verschränkt in ihrem Roman auch verschiedene Zeitebenen miteinander. Die Suche nach der verschwundenen Barbara van Laar und die Ermittlungsarbeiten über mehrere Tage hinweg nehmen einen großen Raum ein. Das Verständnis der aktuellen Ereignisse würde allerdings nicht ohne die Kenntnis der Geschehnisse rund um das Verschwinden von Bear van Laar vor vierzehn Jahren funktionieren. Dementsprechend nimmt auch die Erzählung im diese Ereignisse im Sommer 1961 eine zentrale Funktion ein. Darüber hinaus greift Liz Moore in ihrem Erzählen noch weiter aus, indem sie auch das Schicksal von Bears und Barbaras Mutter Alice van Laar in eingestreuten Rückblenden erzählt.

Spannend, erzählerisch ausgefeilt und komplex

Wo aus einer derartigen Konstruktion viel Chaos und Unübersichtlichkeit erwachsen könnte, ist es bei Liz Moore eine große Übersichtlichkeit, die daraus erwächst und die durch die vielen Sprünge vor allem Spannung und Drive für die umfangreiche Erzählung generiert. Ähnlich versiert wie Joel Dicker mit seinen vielfachen Rückblenden ist auch hier Abwechslung garantiert, ohne dass die Orientierung in der Geschichte an einer Stelle auch nur unter der Vielzahl an Stimmen und Zeiten leidet.

So gelingt Liz Moore eine stets vorantreibende Erzählung, die neben der Frage über das Schicksal Bear van Laars vor vierzehn Jahren oder das aktuelle Verschwinden von Barbara auch viel über den Geldadel dort an der Westküste erzählt Die besonderen Rechte, die mit Geld einherzugehen scheinen, die gar nicht ausbuchstabierte Möglichkeit, die Ermittlungen in eine für die Familie genehme Richtung zu lenken, die Skrupellosigkeit, mit der man sich falsche Verdächtige zurechtlegt bis hin zu fatalen Konsequenzen und ganz generell die Abhängigkeiten, die mit dem immensen Reichtum der Familie van Laar einhergehen.

All das schwingt in der Der Gott des Waldes mit und macht das Buch zu einem fabelhaften Spannungs- und Gesellschaftsroman, dessen Status als New York Times Bestseller und Empfehlungsbuch von der Lektüreliste Barack Obamas nach der Lektüre als absolut folgerichtig erscheint.

Fazit

Dieses Buch ist ein Glücksfall, ist es doch in seiner erzählerischen Anlage reichlich komplex aber nie kompliziert, erzählt es vom Verschwinden und der Nonchalance alten Geldes und nimmt Der Gott des Waldes nicht zuletzt auch mit in die Wälder der Adirondacks zwischen Ferienlager und Survivaltraining. Liz Moore gelingt ein fabelhafter Spannungsroman mit gesellschaftlichem Anspruch, der ein wenig an Wes Andersons Film Moonrise Kingdom aus dem Jahr 2012 erinnert, der aber im Vergleich zu Andersons Werk deutlich düsterer und vielgestaltiger daherkommt. Ein großer Spannungsroman und schon jetzt eines der Buchhighlights dieses Jahres!


  • Liz Moore – Der Gott des Waldes
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-82977-2 (C. H. Beck)
  • 590 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier

Vom Stachelschwein bis zum Käfer – alles in María Ospina Pizanos Naturgeschichte ist beseelt. Sie erzählt in Für kurze Zeit nur hier vom Leben und Überleben der Tiere – und ihrem Nebeneinander neben dem Mensch. Leider lässt der Roman dabei eine überzeugende Idee hinter den einzelnen Episoden vermissen.


Alles beginnt mit einem Straßenhund, der im ersten Teil dieses aus insgesamt vier Episoden bestehenden Romans von den Straßen Bogotás weggefangen wird. Kati – so der spätere Name der Hündin – trifft im Tierheim auf die Hündin Mona, mit der sie sich anfreundet. Damit kommt dieses Hündinnengespräch übertitelte Kapitel schon zu seinem Ende und María Ospina Pizano wendet sich dem nächsten Tier in ihrer Reihe zu. Dafür geht es in die Luft, denn die Wanderung eines Scharlachkardinals steht im Fokus jenen Kapitels, das sowohl das längste und das überzeugendste in diesem Buch ist.

Der Weg dieses Zugvogels ist einer voller Mühen und Gefahren, die Pizano ausführlich schildert. Der zur Ordnung der Sperlingsvögel zählende Kardinal entgeht auf seinem Weg in den Süden nur knapp einem großen Vogelsterben zwischen den Wolkenkratzern Manhattans. Er überfliegt Statuen, sieht Geflüchtetencamps voller Minderjähriger an der Grenze zwischen den USA und Mexiko unter sich hinwegziehen. Er taucht auf dem Radar von Flughäfen auf und lässt sich weder von ausgebrachten Pestiziden noch von Ozeanen aufhalten, die er überquert, um dann am Ende seiner Kräfte doch noch sein Ziel zu erreichen.

Von Hunden, Vögeln, Maden und Stachelschweinen

María Ospina Pizano - Für kurze Zeit nur hier (Cover)

Dieser Episode folgen noch zwei kürzere Geschichten. Die erste handelt von einer Made, die in der Tradition Eric Carles zum Käfer wird und nach ihrer Verpuppung einige Abenteuer erlebt. Nach ihrem Weg aus der Erde gelangt das Käferweibchen zunächst in einen Kühlschrank – was dann schon eher an den Käferspezialisten Franz Kafka erinnert. Aus dem Kühlschrank setzt sich die Reise per Mangoldblatt und Auto über hundert Kilometer bis nach Bogotá fort, um schlussendlich im Magen einer Amsel zu landen.

Die letzte Geschichte in diesem fast ausschließlich aus tierischer Perspektive geschilderten Erzählreigen ist eine Erzählung, in der die menschliche Perspektive am ausgeprägtesten ist. Hier erzählt die 1977 in Bogotá geborene María Ospina Pizano von einer Frau, deren Hund einst ein trächtiges Stachelschwein riss. Das kaum überlebensfähige Stachelschweinbaby rettete die Frau aus dem Bauch der Mutter und zog es auf. Doch angesichts der Strafen, die die kolumbianische Regierung für die private Haltung solcher Wildtiere vorsieht, überantwortet sie das Jungtier nun einem sogenannten Wildtier- und Wildpflanzenversorgungs- und -begutachtungszentrum in Bogotá. Dort soll das junge Stachelschwein ausgewildert werden.

Es sind vier Geschichten, die nicht nur im Ausdruck und der Länge recht verschiedene sind. Sie alle verbinden sich zu einem mehr oder minder funktionierenden Reigen, da Pizano im letzten Teil des Romans das Zwiegespräch zwischen denen im ersten Teil eingeführten Hündinnen Kati und Mona wieder aufgreift, ehe es durch eine Adoption Katis zum Erliegen kommt.

Nezahualcóyotl und das indigene Erbe Kolumbiens

Wirklich rund oder stimmig ist das leider nicht wirklich, obschon Pizanos Debüt gleich mit einem Literaturpreis, nämlich dem Premio Sor Juana Inés de la cruz ausgezeichnet wurde und viele lobende Pressestimmen auf dem Buchrücken versammelt.

Kommend von der Forschung über Gewalt, Natur und Erinnerung in der zeitgenössischen kolumbianischen Kultur hat María Ospina Pizano an der Harvard University studiert – und diesen gelehrten Hintergrund merkt man Für kurze Zeit nur hier auch an.

So ist das Zitat, das dem von Peter Kultzen aus dem Spanischen übersetzten Buch den Titel gibt, eine Zeile des Herrschers und Dichters Nezahualcóyotl, der im 15. Jahrhundert im präkolumbischen Mesoamerika lebte. In seinen Zeilen beschwört er die Vergänglichkeit unseres Daseins auf der Erde. Damit liefert Pizano den wohl deutlichsten Hinweis, in welcher Tradition sich Maria Ospina Pizanos Text sich sieht.

Das kulturelle und indigene Erbe Südamerikas speist diesen Roman, nicht nur in vielen Zitaten. Vor allem der Gedanke des Animismus, als der Beseeltheit der ganzen Welt und damit auch der Tiere, spielt eine entscheidende Rolle in diesem Buch, das Tieren auf der Erde und in der Luft eine Perspektive gibt.

Dazu gesellen sich viele Gedanken und Theorien von Denker*innen und Autor*innen wie Ocean Vuong, Cristina Peri Rossi, Jaques Derrida oder Gabriela Mistral, die im Text aufgegriffen werden.

Der fehlende rote Erzählfaden

Doch leider ist die animistische Perspektive ebenso wie die ganze Erzählhaltung dieses Romans nicht überzeugend, da sich María Ospina Pizano mit erzählerischer Halbherzigkeit begnügt. Statt konsequent aus den Augen der Tiere auf die Welt zu blicken, ist es ein wenig überzeugendes Gemisch aus auktorialem Erzähler und Tierperspektive. Woher soll das Käferweibchen wissen, dass es hundert Kilometer zurückgelegt hat und sich nun in Bogotá befindet? Woher weiß die Hündin, dass es ein Bolero ist, der der Kehle ihrer neuen Besitzerin entströmt oder dass die Statue, die sie in Bogotá passiert, Simon Bolivar zeigt? Die profunde Kenntnis menschlicher Kulturbegriffe der Tiere bleibt ebenso unklar, wie das erzählerische Ziel María Ospina Pizanos.

Statt sich wirklich konsequent auf die tierische Perspektive eizulassen und daraus auch auf das zerstörerische Verhalten der menschlichen Spezies in puncto Vergangenheit und Gegenwart zu schauen, schwankt sie zwischen Tier und Mensch, zwischen indigenem Erbe und unterschiedlich überzeugenden Kapitel, denen zumindest für mich in der Gesamtschau einen überzeugenden roten Faden vermissen ließen, der dabei helfen würde, die einzelnen Episoden zusammenzuhalten.

Alles wird kurz angerissen, verfliegt dann aber wieder wie der über Manhattan kreisende Vogelschwarm. In ihrer Erzählhaltung und Qualität sind Pizanos Geschichten, deren Verbindung nicht über kleine gegenseitige Cameos der Tiere und Figuren in den anderen Geschichten hinausreicht, einfach zu disparat.

Eher Kurzgeschichten denn ein stimmiger Roman

Was hätte dieses Buch für Chancen geboten. Der Umgang mit dem indigenen Erbe in Kolumbien, das Miteinander von Tier und Mensch auf dem Planeten, das eher einem Gegeneinander gleicht, und die Veränderungen, denen dieses Miteinander unterliegt. Auch die Wanderungen der Tiere hätte ein spannender Ansatzpunkt werden könnten, ahmt doch der Mensch zunehmend das Wanderverhalten von Tieren nach, und das nicht nur im gezeigten Grenzland zwischen Süd- und Nordamerika. All das hätte hochinteressantes Erzählmaterial ergeben.

Aber leider blitzt all dies nur kurz auf. Durch die Unverbundenheit der Episoden hat Für kurze Zeit nur hier eher den Charakter von Kurzgeschichten, die kaum in faszinierende Tiefen vordingen wollen oder können. Dass es möglich wäre, das zeigt ja wie schon erzwähnt die Geschichte des Scharlachkardinals, die Pizanos Erzähltalent und die profunde Beschäftigung mit ihren Themen erahnen lässt. In der Ganzheit aller Geschichten ergibt sich aber leider trotz viel Potential kein überzeugender und stimmiger Roman.

Mir ist das leider zu wenig. Wie man überzeugender den Blickwinkel ändert und aus ungewohnter Perspektive erzählt, das hat Samantha Harvey zuletzt mit Umlaufbahnen bewiesen. Dahinter bleibt María Ospina Pizano in allen Belangen leider zurück.


  • María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-293-00622-5 (Unionsverlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen