Steffen Kopetzky – Atom

Mit seinem neuen Roman wandelt Steffen Kopetzky nicht nur literarisch auf den Spuren Ian Flemings. In Atom schickt er den Physiker Simon Batley im Dienste des britischen Geheimdiensts auf die Jagd nach einem SS-Offizier durch halb Europa, während der Kontinent in den Wirren des Zweiten Weltkriegs versenkt. Dabei beleuchtet er auch die schmutzigen Deals, die den Grundstein für das Atomzeitalter legten.


Hans Kammler ist ein Name, der heute selbst Geschichtsinteressierten kaum mehr etwas sagen dürfte. Dabei hat sein Leben und Treiben durchaus das Zeug zu einem Thriller, wie Steffen Kopetzky in seinem neuen Roman Atom beweist. Denn der SS Obergruppenführer und General der Waffen verantwortete er nicht nur die Errichtung von Konzentrationslagern, sondern war als Bevollmächtigter für den Bau der unterirdischen Bauten zur Fertigung von Flugzeugen und Raketen zuständig.

In Kopetzkys Roman wird jener Hans Kammler zu einem gefürchteten Phantom, dem der junge Simon Batley durch halb Europa hinterherjagt, um ihn zur Strecke zu bringen.

Auf der Jagd nach dem Phantom Kammler

Steffen Kopetzky - Atom (Cover)

Angeworben für den britischen Geheimdienst MI6 führte ihn schon vor dem Zweiten Weltkrieg eine Mission nach Deutschland, wo er als Physikstudent in Berlin für den Geheimdienst spionieren sollte. Nun, inmitten des tobenden Zweiten Weltkrieges wird Batley 1941 wieder von seinem Vorgesetzten Scully aktiviert. Er soll herausfinden, an was die Nazis in verschiedenen Fertigungswerken wie den Škoda-Fabriken in Pilsen oder anderen Produktionsstandorten in Europa so fieberhaft arbeiten.

Sind es Atomwaffen, an denen die Nationalsozialisten unter Hans Kammler forschen, die Hitler den erhofften Wendepunkt im immer hoffnungsloser werdenden Kriegsgeschehen bringen sollen?

Während die Deutschen England mit Angriffen ihrer neuartigen „Vergeltungswaffe“ V2 überziehen, die unter Wernher von Braun entwickelt wurde, macht sich Simon auf, um die Spuren Hans Kammlers in Europa aufzunehmen und herauszufinden, an was seine Ingenieure und Zwangsarbeiter arbeiten. Für Simon ein Einsatz mit besonderer Bedeutung, da er auch seine große Liebe aus der Berliner Studentenzeit Hedi im Dunstkreis um Hans Kammler vermutet…

Simon Batley als Wiedergänger James Bonds

Atom ist ein historischer Agententhriller, der Simon Batley als Wiedergänger James Bonds mit seiner Zündapp quer durch Europa schickt. Im Dienste seines Shakespeare zitierenden Vorgesetzten und dem Secret Service Chef C begibt sich Simon ausgestattet mit James Joyces Finnegans Wake, das als Codierungsschlüssel zum Funken dient, sowie einer Zündapp-Maschine auf die Jagd nach dem Phantom Kammler.

Von Lissabon über die belgische Nordseeküste und Oberammgerau bis nach Tschechien führt diese Jagd, die in einem Showdown mündet, der jedem Agententhriller aus Feder Ian Flemings würdig wäre. Jener Ian Fleming ist bei Kopetzky nicht nur literarischer Ideengeber, sondern taucht auch als Figur auf, schließlich stand auch er zur damaligen Zeit im Dienste des MI6, was ihn zu seinen späteren Romanen um den Geheimagenten im Dienste ihrer Majestät inspiriert.

Natürlich dürfen dabei auch keine genretypischen Dialog-Versatzstücke fehlen:

„Verbrecher oder nicht – er hat das Uran versteckt, nur er weiß, wo es ist. Kapierst du es denn nicht? Das Material ist nun einmal in der Welt. Da ist es ja immer noch besser, dass wir es bekommen. Und nicht die Sowjets. Wir werden es niemals einsetzen, natürlich nicht. Aber wir brauchen es! Denk doch einmal nach. Es geht nicht ohne Kammler, und wenn er tausendmal ein Verbrecher ist, woran ich keinen Zweifel habe. Aber die Zukunft der freien Welt ist wichtiger!“

„Hör nicht auf ihn. Drück ab, Simon! Hedi schrie ihm das wütend entgegen. Sie meinte es bitterernst. Sie sagte gerade Lebewohl. Nein, sie brüllte es. „In einer sogenannten freien Welt, in der so ein Schwein einfach davonkommt, lohnt es sich sowieso nicht zu leben. So eine Welt wird untergehen. Worauf wartest du, Simon?“

Steffen Kopetzky – Atom, S. 378

Wettrennen um die Atomkraft – und durch das kriegszerstörte Europa

Spannend ist dieser Roman, der das Wettrennen um die Atomkraft zugleich als Wettrennen durch das kriegszerstörte Europa inszeniert. Zudem ist dieser Roman verblüffend aktuell, da nun wieder über die Abschreckung durch Atomwaffen debattiert wird und ein globales Wettrüsten und Wettrennen um die beherrschenden Technologien beginnt.

„Unsere Zukunft liegt in Europa, oder? Dem Kontinent unserer früheren Feinde. Wir müssen unseren Einfluss und unsere Kenntnisse nutzen, um diesen unseren zukünftigen Freundesraum zu beschützen.“

„Vor den Russen?“

„Und vor den Amerikanern.“

Steffen Kopetzky – Atom, S. 406

Wieder gelingt Steffen Kopetzky ein historischer Spannungsroman vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs, der zugleich auch in Zitaten und Figuren die Handlungen seiner früheren Werke Risiko, Propaganda, Monschau und Damenopfer wieder aufgreift. Zudem steckt sein Buch voller Figuren der (Spionage)Geschichte, von Kim Philby bis zum Raketenpionier Hermann Oberth oder Rolf Engel, der nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft einfach in Ägypten weiter an Raketen baute.

Atom ist reich an solchen Figuren. Besonders stark neben der Geheimdienstatmosphäre und der atemlosen Hatz durch das zerstörte Europa ist das Buch dort, wo es um die schmutzigen Deals rund um die Atomwaffen geht. Dass für die Kriegsgewinner die Frage der Moral in Sachen technologischer Vorherrschaft bei der Atomkraft deutlich hintenanstand, das zeigt der 1971 geborene Autor in seinem Roman deutlich.

Fazit

Wie ein Agententhriller liest sich Kopetzkys Buch, der einen Physiker durch das zerstörter Europa schickt und das zeigt, wie wenig Moral und Ethos zählen, wenn es um die Beherrschung der Kraft des Atoms geht. Ein packendes Buch, das Geschichte erlebbar macht und zugleich eine sanfte Einführung in die physikalische Wirkweise der Kernspaltung ist – und was diese so schwer beherrschbar macht. Das ist historische Unterhaltung über Vertrauen und Täuschung, Illusion und Hoffnung par excellence, mit der Kopetzky weiter an seinem Ruf als Experte für die Verbinder von Historie und Spannung arbeitet.


  • Steffen Kopetzky – Atom
  • ISBN 978-3-7371-0152-3 (Rowohlt)
  • 411 Seiten. Preis: 24,00 €
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Alan Murrin – Coast Road

Ein kleines Städtchen in Irland – und viele Probleme, vor denen vor allem Frauen mit ihren Männern stehen. Alan Murrin zeichnet das Zusammenleben in seinem ersten, von Anna-Nina Kroll ins Deutsche übersetzten Roman Coast Road nach und erschafft damit ein Gesellschaftsporträt des ländlichen Irlands am Beginn der 90er Jahre, bei dem der Staat bis in die Beziehungen hinein mitregiert.


Am 25. November 1995 waren die Einwohner*innen Irlands zur Stimmabgabe bei einem Referendum aufgerufen. Die Frage über die Abschaffung des Ehescheidungsverbotes stand zur Disposition. Sollte das 1937 im katholischen Irland eingeführte Verbot von Scheidungen Bestand haben oder sollten sich von nun an Paare auch wieder scheiden lassen dürfen?

Vor diesem Hintergrund spielt Coast Road, das Debüt des in Berlin lebenden Iren Alan Murrin. Er nimmt mit ins County Donegal, wo ganz unterschiedliche Frauen im kleinen Örtchen Ardglas leben. Beginnend im Herbst des Jahres 1994 erzählt Murrin von der mit dem Politiker James verheirateten Izzy, die sich Eigenständigkeit und einen eigenen Laden an der Coast Road wünscht.

Die Straße, die den kleinen Ort durchschneidet, ist dabei auch ein gutes Symbol auf für so manche der Beziehungen, die in Ardglas geführt werden.

Die zwei Seiten der Coast Road

Alan Murrin - Coast Road (Cover)

Oftmals stehen sich Männer und Frauen hier eher wie auf den zwei Seiten der Straße gegenüber, als gemeinsam auf dem Lebensweg voranzugehen. So auch Dolores und ihr Ehemann, der Elektriker Donal. Eher gezwungenermaßen haben sie sich in ihre Ehe gefügt. Mittlerweile pflegt der gewalttätige Donal seine Affären recht offen und Dolores harrt derweil hochschwanger im eigenen Zuhause aus.

Unerwünschte Konkurrenz bekommt sie von Colette, die im zum Haus gehörenden Cottage einzieht. Sie ist schon längst zum Dorfgespräch geworden, da sie etwas im Irland der frühen 90er Jahre Unerhörtes getan hat. Ihr Mann und sie haben sich getrennt, trotz in der Ehe vorhandener Kinder.

Dass eine – wenn auch qua Gesetz gar nicht möglich, aber de facto – getrennte Frau mit Billigung des Pfarrers in der Kirche die Lesung abhalten darf, es taugt zum Skandal.

Mit ihrer Trennung ist sie in Murrins Buch allerdings nicht alleine, im Gegenteil. Viele der im tief katholischen Milieu aufgewachsenen Frauenfiguren suchen und finden Trost und Beistand außerhalb ihrer eigenen Ehen.

Donal sucht zunehmend die Nähe zu der in Trauer, Einsamkeit und Alkohol versinkenden Colette, Izzy sucht zum Missfallen ihres Mannes geistigen Beistand und Eheberatung beim Pfarrer. So driften die Beziehungen immer weiter auseinander und Alan Murrin begleitet sie dabei und blickt tief ins Innere seiner Figuren.

Unerfüllte Wünsche und losgelöste Partner

Coast Road besticht durch seine gute Figurenzeichnung, den genauen Blick für Details und die Sehnsüchte, die seine Figuren umtreiben. Was macht das mit Menschen, die sich längst schon von ihren Partnerinnen und Partnern gelöst haben, bei anderen Menschen mehr Erfüllung finden oder die entstandene Gräben zwischen sich am liebsten wieder überwinden würden, immer vor dem Hintergrund, dass es eine Scheidung dank des staatlichen Reglements gar nicht geben darf?

Das betrachtet Alan Murrin sehr lesenswert und erschafft ein Buch, das ähnlich wie zuletzt etwa der Roman Mitternachtsschwimmer von Murrins Landsfrau Roisin Maguire die unerfüllten Sehnsüchte und seelische Verarbeitungsprozesse von Menschen im ländlichen Irland zeigt.

Im Vergleich zu Maguires „Wohlfühlbuch“ fällt Coast Road einige Noten dunkler und tragischer aus, zeigt aber ebenso einen warmherzigen Blick des Autors auf seine Figuren, deren Fehler und das, was Menschen trennt.

Er stand auf, nahm seinen Rucksack vom Boden und murmelte: „Danke“. Sie schaute ihm hinterher, doch sie konnte nicht lange hinsehen, es zerriss ihr das Herz. Stattdessen blickte sie aufs Meer hinaus und wollte eigentlich zum Auto gehen, blieb jedoch sitzen. In dieser Position, an dieser Stelle der geschwungenen Küste wurde ihr bewusst, dass sie sich fast genau auf halbem Weg zwischen ihrem eigenen Haus auf der einen Seite der Bucht und dem Cottage auf der anderen befand. Ihr Leben war so lange stehen geblieben, hatte zwischen diesen beiden Orten in der Schwebe gehangen.

Alan Murrin – Coast Road, S. 377

Feine Zeichnungen im Inneren, seelenlose KI-Kunst im Äußeren

Dazu gibt es im Roman das, was man gemeinhin mit Irland verbindet. Das Dorfleben im County Donegal, die Troubles, die aus der Ferne grüßen und dazu die hohe Literarizität des Landes, die hier in Form eines Schreibkurses daherkommt, den Colette abhält und der das lyrische Talent so mancher Figur zum Vorschein bringt.

Schade nur, dass die Kunstfertigkeit, die Alan Murrin in Bezug auf Menschen- und Gesellschaftszeichnung im Inneren seines Buchs beweist, im Äußeren keine Entsprechung gefunden hat.

Lieber hat man bei der deutschen Version des im dtv-Verlags erscheinenden Buchs auf die seelenlose Kunst gesetzt, die durch künstliche Intelligenz kreierte wurde, anstelle das Buch mit einer echten künstlerischen Leistung gestalterisch aufzuwerten. Das bleibt ein Wermutstropfen, zeigt sich hier umso deutlicher, was eine echte künstlerische Leistung im Inneren ist, hinter der die mit schiefen Proportionen gezimmerte KI-Kunst des Covers um Welten zurückbleibt.


  • Alan Murrin – Coast Road
  • Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
  • ISBN 978-3-423-28457-8 (dtv)
  • 380 Seiten. Preis: 24,00 €
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Mary Shelley – Mathilda

Erst postum erschienen erzählt Mary Shelleys Roman Mathilda von Depressionen und von einer Erzählerin, die am eigenen Leid langsam zugrundegeht. Keine sonderlich erbauliche Lektüre, dafür ein hochinteressanter Roman einer Autorin, die in ihrem Werk einmal mehr in tiefe Abgründe blickt und die starke Bilder für die Verzweiflung ihrer Heldin findet.


Blickt man ins Impressum des nun erstmalig auf Deutsch vorliegenden, von Stefan Weidle übersetzten und vom Pendragon-Verlag herausgegebenen Roman Mathilda, dann lässt eine Jahreszahl stutzen. 1959 prangt da als Jahreszahl des Erstveröffentlichungsdatums im Verlag The University of North Carolina Press. Obschon sich Mary Shelley in ihrem bekanntesten Werk mit der künstlichen Reproduzierbarkeit von Leben und der Unsterblichkeit auseinandergesetzt hat, wäre es schon ein ziemliches Kunststück, das wohl nicht einmal Viktor Frankenstein mit der 1851 verstorbenen Autorin hätte vollführen können, um eine plausible Erklärung jenseits des Umstands einer postumen Nachlassung liefern zu können.

Tatsächlich handelt es sich bei Mathilda um den zweiten Roman der 1797 geborenen Mary Shelley – der zu Lebzeiten der Autorin allerdings nie erschien, wie Übersetzer Stefan Weidle in seinem Nachwort ausführt. 1819 verfasst gelangte das Buch nie zur Publikation und wurde durch die Arbeit der Herausgeberin Elizabeth Nitchie erst hundertvierzig Jahre später in den USA erstmalig publiziert.

Mary Shelleys zweiter Roman – der nie publiziert wurde

Auf die Gründe geht Weidle in seinem Nachwort ebenso wie auf den editorischen Kraftakt ein, den die Herausgabe von Mathilda 1959 erstmals bedeutete. Die Reinschrift verloren und Spuren des Werks nur in Tagebüchern und Notizen auffindbar, kam die Rekonstruktion des Textes einer komplizierten Restauration gleich, die Weidle nun auch im Deutschen zugänglich macht.

Liest man Mathilda, dann steigt man tief hinab in seelische Abgründe, dringt vor zu Leid und unerfüllter Sehnsucht. Shelleys Werk ist eines, das vor Pathos und einer dichten Ausmalung der Seelenzustände nicht zurückschreckt, im Gegenteil.

O Stunden des tiefsten Glücks! So kurz ihr wart, seid ihr doch so lang wie ein ganzes Leben, wenn ich auf euch zurückblicke durch den Nebel der Trauer, der sich sofort danach erhob, wie um euch meinem Blick zu entziehen. Ach, ihr wart die letzten Strahlen des Glücklichseins in meinem Leben, ein paar, ein paar wenige Woche, und alles war zerstört. Wie Psyche lebte ich eine Zeit lang in einem Zauberpalast, von Wohlgerüchen und Musik umfangen, in verschwenderischer Opulenz; plötzlich fand ich mich auf einem kahlen Felsen wieder, ein unendlicher Ozean der Verzweiflung brandete um mich, über mir Schwärze, und auch mit geschlossenen Augen hauste ich inmitten eines weltumfassenden Todes.

Mary Shelley – Mathilda, S. 33

Schon der Anfang des Romans gibt eine Ahnung, dass Freude und Glück in diesem Werk nur spärlich gesät sind. Einsam wie weiland Caspar David Friedrichs Mönch am Meer präsentiert sich die Erzählerin Mathilda hier, die sich an die Niederschrift ihres Lebens macht, die nachzeichnet, was sie in das einsame Landhaus inmitten der ebenso einsamen Heidelandschaft im Norden Englands gebracht hat.

Mathilda im Tal der Tränen

Mary Shelley - Mathilda (Cover)

Der „Pesthauch des Unglücks“ ist über sie hinweggezogen und hat sie ausgedörrt, weshalb es nun auf das Ende für Mathilda zugehen soll. Doch zuvor blickt sie zurück, um von diesem Unglück zu erzählen, das seit Kindesbeinen an ihr Begleiter war.

Aufgewachsen als junges Mädchen bei ihrer lieblosen Tante in Schottland ließ sie ihr Vater als Kind nach dem Tod seiner Frau bei seiner Schwester zurück. Die dort erfahrene Kälte wandelt sich erst in Wärme, als ihr Vater zurückkehrt und sie bei diesem Liebe und Verständnis findet. Doch das Glück währt nicht lang.

Hochgradig depressiv wird ihr Vater immer wieder von Dämonen heimgesucht, versinkt in Lethargie und kaum erklärbaren Seelenzuständen. Als er dann stirbt, ist es mit dem kurzzeitigen Glück dann sowieso vorbei. Angekündigt wird dieser Tod wieder einmal von einem Blitz, der auch hier wie schon im ein Jahr zuvor erschienenen Frankenstein einen Baum spaltet und damit den Verlust und die Zerrissenheit seiner Figur eindrücklich illustriert.

Gelungen malt Shelley diese kaum erklärbaren Zustände von Mathildas Vater aus (womöglich auch grundiert durch die Verlusterfahrungen des Todes zweier eigener Kinder, ehe ihr drittes Kind dann drei Tage nach Beendigung des Manuskripts zur Welt kommen sollte). Sie zeigt Mathilda im Unglück, die ganze Täler der Tränen durchschreiten muss und zusehends ihren Lebenssinn ähnlich wie ihr Vater verliert.

Manchmal redete ich mir ein, es sei ein Zauberbann verhängt worden und ich müsste ihn abwehren. Mein Vater sei von einer schrecklichen Vision geblendet, die ich austreiben müsse. Da versichte ich wie David, den bösen Geist mit Musik auszutreiben; und während des Singens hob ich meinen Blick zu ihm auf und sah seine tränennasse Augen auf mich gerichtet, seine Muskeln schienen sich völlig entspannt zu haben. Mit einem Freudenschrei sprang ich auf ihn zu und wollte mich in seine Arme werfen, doch er schob mich grob von sich und verließ den Raum. Nach diesem so geringfügigen Zwischenfall wurde seine Stimmung noch düsterer und sein Verhalten mir gegenüber noch abweisender.

Mary Shelley – Mathilda, S. 37

Anschauliche Schilderungen von Depressionen

Anschaulich erzählt sie von diesen depressiven Phasen und Schüben. Mit schon fast ödipalen Untertönen durchzogen ist Mathilda das Dokument einer beziehungsweise gleich mehrere gequälter Seelen, in denen wenig Hoffnung aufscheint. Hoffnung und Zuversicht gibt es nur wenig – dafür viel Lebensmüdigkeit und düstere Töne, versetzt mit kraftvollen Naturschilderungen, die die innere Handlung dieses Romans fortführen, spiegeln und bebildern.

Immer wieder meint man Caspar David Friedrich oder John William Waterhouse als Kulissenmaler für die Schilderungen am Werk zu sehen, etwa in einer der stärksten Szenen dieses Romans, wenn Mathilda schon fast ätherisch, ganz in weiß gekleidet über den schottischen See ihrem Vater in einem Ruderboot entgegenfährt, um damit auch ihre Welt vom Dauergrau plötzlich in Farbe gesetzt zu sehen.

Ich lag im Gras, umgeben von einer Dunkelheit, die nicht der geringste Lichtschein durchdrang. Es herrschte völlige Stille, denn die tiefe Nacht hatte die Insekten einschlafen lassen, die einzigen Geschöpfe, die in dieser Einöde ohne Baum und Strauch überlebten. Die Luft war von einem eigenartigen Schweigen erfüllt, das meine Sinne beruhigte, doch meine Seele anregte: mein Geist flatterte von Bild zu Bild und schien eine ganze Ewigkeit zu umfassen. In meinem Herzen war alles dunkel und ruhig, bis meine Gedanken sich verhedderten und schließlich in den Schlaf mündeten.

MAry Shelley – Mathilda, S. 137

In diesen Schilderungen ordnet sich der Roman klar in die Epoche der Romantik ein und zeigt, dass Mary Shelley neben den großen Handlungsbögen auch den Blick in das Innere beeindruckend beherrscht.

Versetzt mit vielen Zitaten aus anderen Werken der Literatur lassen sich für Kenner im Text neben biographischen Koinzidenzen im Leben Marys und Mathildas zudem Bezüge zu Mary Shelleys Ehemann Percy Byce Shelley und ihren eigenen Vater herauslesen. Neben Zitaten von Dantes Göttlicher Komödie bis hin zu Shakespeare soll auch Percy Shelleys Schreiben im Text seiner Gattin paraphrasiert sein, wovon im Deutschen nicht zuletzt Dank des kaum mehr bekannten Werk Shelleys aber kaum etwas zeugt, wie auch Stefan Weidle in seinem Nachwort schreibt.

Fazit

Mit Mathilda ist nun über 200 Jahre nach dem Entstehen endlich auch auf Deutsch Mary Shelleys zweiter Roman zu lesen. In dunkle Farben getaucht spürt die Autorin der Verzweiflung und den Gründen für ebendiese Verzweiflung im Inneren ihrer Figur nach. Ihr gelingt ein Roman, der anschaulich von Depressionen und verlorenem Lebenssinn erzählt. Zwar stiftet Mathilda selbst wenig Grund zur Freude, die Veröffentlichung dieses Romans tut es aber umso mehr!


  • Mary Shelley – Mathilda
  • Aus dem Englischen und mit einem Nachwort versehen von Stefan Weidle
  • ISBN 978-3-86532-870-0 (Pendragon)
  • 196 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Was bleibt von einem Namen, wenn man stirbt? Wenn das Zuhause aufgelöst und das Klingelschild abgelöst wird, das einst vom Namen kündete? Ricarda Messner lässt ihre Protagonistin in Wo der Name wohnt in einen Trauer-, aber vor allem einen Erinnerungsprozess eintreten, während sie die Wohnung ihrer Großmutter leert. Mögen die physischen Spuren auch schwinden, so werden sie doch durch das Erzählen konserviert. Nur die Bewahrung des Namens, er stellt sich als das wahre Hindernis heraus.


Welch bürokratischer Akt ein Namenswechsel sein kann, das erfährt der geneigte Leser in Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt eindrücklich. Denn die verschiedenen Kapitel ihres Buchs werden durchs bestes Amtsdeutsch eingeleitet, in dem erklärt wird, welche Notwendigkeiten für und welche Gründe gegen einen Namenswechsel sprechen. Immer wieder unterbrechen und strukturieren diese bürokratischen Einschübe die sonst so angenehm dahinfließende und mit fremdsprachigen Bruchstücken durchsetzte Sprache Messners und holen zurück auf den Boden juristischer Tatsachen.

Die Verwaltungsgebühr für die Änderung von Familiennamen beträgt gem. §3 Satz 1 der Ersten Verordnung zur Durchführung des Gesetzes über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 07.01.1938 (Reichsgesetzblatt I S. 12/Bundesgesetzblatt III Nr. 401-1-1), in der jeweils aktuellen Fassung – NamÄndVo 2,56 bis 1022,00 €

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt

Bemühungen um die Bewahrung eines Namens

Der Grund für diesen behördlichen Schriftverkehr begründet Messners Erzählerin schon auf den ersten Seiten dieses schmalen Romans. Denn die namenlose Erzählerin ist darum bemüht, den Namen ihrer verstorbenen Großmutter anzunehmen, um so die Erinnerungen an das familiäre Erbe wachzuhalten und zu bewahren.

Und irgendwo zwischen den beiden Häusern, ich zählte während der Wohnungsauflösung zum ersten Mal die Schritte, überkam mich eine Sehnsucht. Ich wollte den Nachnamen wieder tragen, sehnte mich nach ihm wie nach Großmutters Gesicht, das ich nicht mehr sehen würde. Es waren ungefähr vierzig Schritte von Tür zu Tür.

Ricarda Messner – Wo der Name wohnt, S. 14

Einst lebte sie in der Wohnung des Hauses Nummer 37, ihre Großmutter quasi nebenan im Haus, das die Nummer 35 trägt.

Nun blickt die Erzählerin zurück. Auf das Ausräumen der Wohnung, die eigene Geschichte und die Risse, die sich nicht nur in Großmutters Wohnung, sondern auch der familiären Biografie zeigen. Denn die Familie Levitanus ist nicht das, was man im rechten Dumpfdeutsch aktuell als „biodeutsch“ bezeichnet. Vielmehr ist sie Teil der fünfundzwanzig Millionen Menschen in Deutschland, die einen Migrationshintergrund besitzen. Und dieser im Falle der Erzählerin ein durchaus illustrer.

Migration nach Deutschland

Ricarda Messner - Wo der Name wohnt (Cover)

So reisten die Mutter und Großmutter 1971 aus Lettland als Staatenlose nach Deutschland ein und begannen hier ein neues Leben. Schon mehrfach zählten Neuanfang und Anpassung zu den erforderlichen Fähigkeiten, die die Familie Levitanus beweisen musste.

Beim sogenannten Rigaer Blutsonntag überlebte die Großmutter das Rigaer Ghetto, in dem lettische Jüdinnen und Juden getötet wurden, um Platz für deutsche Jüdinnen und Juden zu schaffen. Auch ihr Großvater floh 1941 vor den herannahenden Deutschen, ganze 4200 Kilometer maß seine Fluchtroute. Später studierte er in Moskau, die Großmutter musste als Staatlose 1971 mit ihrer Tochter aus Lettland in der damaligen Sowjetunion fliehen.

Sprachfetzen, Gerichte, Rituale sind es, die über das Lebensende der Großmutter mit 95 Jahren hinaus blieben und die die Erzählerin in ihrem Erinnern bewahrt. Eine besonders große Rolle für sie nimmt der Familienname ihrer Großmutter ein. Er ist es, der als abstrakter und doch konkreter Besitz die Flucht überstand und nun zum Orientierungspunkt der Erzählerin wird. Ihn möchte sie mit ihrer Namensänderung bewahren und so die Erinnerungen an die familiäre Identität wachhalten.

Es sind die Erinnerungen, plötzlich aufblitzenden Gedanken und die in der Familie gesprochenen Sprachen und Wortfetzen, die sie in ihren Erinnerungen wachruft und damit auch noch einmal tief in die eigene Familiengeschichte zwischen Baltikum und Deutschland, Flucht und Neuanfang, Judentum und familiären Erbe vordringt. Doch in Reiner Geistesarbeit verharrt dieses Erinnern nicht. Auch physisch leistet die Erzählerin diese Arbeit. So sondert sie nicht nur den großmütterlichen Besitz aus, der eng mit den Erinnerungen verknüpft ist, auch begibt sie sich auf familiäre Spurensuche, die sie bis nach Lettland und damit auch gewissermaßen wieder an den Anfang ihrer Geschichte zurückführt.

Fazit

Wo der Name wohnt ist ein reduzierter Familienroman, der vom Ende und den Erinnerungen her den familiären Bezug denkt und der den Rissen in den Biografien nachspürt. In Zeiten, in denen Migration verteufelt und Einwanderung zur Mutter aller Probleme erklärt wird, zeigt Richarda Messner, was Migration und Ankommen eigentlich bedeutet. Dass man das 20. Jahrhundert und seine Geschichte bis in unsere Gegenwart hinein gar nicht ohne migrationsbedingte Brüche denken kann, das lässt sich aus Wo der Name wohnt eindrücklich erfahren.

Der Mitbegründerin und Herausgeberin des Flaneur-Stadtmagazins gelingt mit ihrem Roman ein ruhiger und knapper Roman, der das in der Gegenwartsliteratur kaum behandelte Schicksal lettischer Juden in den Blick nimmt. Ihr Debüt passt sich auch gut in die Riege junger Suhrkamp-Autor*innen ein, die mit ähnlichem sprachlichen Zugriff den Beziehungen zu Eltern und Großeltern oder dem jüdischem Familienerbe nachspüren.

Weitere Meinungen zu Ricarda Messners Buch gibt es unter anderem auf dem Blog Poesierausch.


  • Ricarda Messner – Wo der Name wohnt
  • ISBN 978-3-518-43232-7 (Suhrkamp)
  • 170 Seiten. Preis: 23,00 €
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Annegret Liepold – Unter Grund

Braun ist hier nicht nur der Grund der Weiher, in dem die Karpfen in Annegret Liepolds Roman Unter Grund gründeln. Der Autorin gelingt mit ihrem Debüt ein Roman, der vom verdeckten und offenen Rechtsradikalismus auf dem Land erzählt, und der erzählerisch das liefert, was der Titel schon verheißt. Eine Tiefenbohrung in Sachen Familie, Jugend und den Verstrickungen in rechtes Gedankengut.


Himmelsweiher, so werden die Teiche im Fränkischen genannt, die für Franka ein Stück Heimat sind. Tausende dieser für Fischzucht genutzten Teiche liegen in der Region Aischgrund in Mittelfranken zwischen Erlangen und Würzburg. Ihren Namen verdanken sie dem Umstand, dass sie an keine fließenden Gewässer angeschlossen sind, sondern nur durch Regenwasser befüllt werden.

Die Kontrolle der familieneigenen Teiche war einst Sache ihre Vaters, die er zusammen mit der jungen Franka an seiner Seite durchführte. Doch diese Zeiten sind lange vorbei. Der Vater ist tot, sie selbst inzwischen eine Referendarin in München, weit weg von den Himmelsweihern. Als sie nun Hals über Kopf zurückkehrt nach Franken, muss sie feststellen, dass sich vieles verändert hat. Die Teiche sind verkauft und auch das Haus ihrer „Fuchsin“ geheißenen Großmutter, der Fuchsbau, steht zum Verkauf. Für Franka, die nach ihrer überstürzten Flucht aus München sowieso schon höchst erregt ist, sind es Hiobsbotschaften, die dazu angetan sind, die Idylle ihrer Jugendjahre dort in der fränkischen Provinz endgültig zu zerstören.

Eine Flucht aus München in den Aischgrund

Dazu kommt es dann auch in diesem ebenso souverän erzählten wie geschickt montierten Roman, was allerdings weniger mit dem Abschied von familiären Besitztümern zu tun hat. Vielmehr sind es die Erinnerungen, die durch den Besuch des in München stattfindenden NSU-Prozess ausgelöst werden, den Franka mit ihrer Schulklasse besucht. Ein Wort dort lässt Franka nicht nur zurück aus München fliehen, sondern sie vor allem tief in die eigenen Erinnerungen eintauchen. Tiefer noch, als es jeder Himmelsweiher sein könnte.

„Hey“, sagt Hannah, „was ist denn los? Warum bist du weggerannt?“

Hannah wartet, aber Franka weiß nicht, was sie sagen soll.

Was sie weiß, ist: Sie hätte nie zum Prozess gehen dürfen.

„Jaros hat Zschäpe eine Nazischlampe genannt“, sagt sie stattdessen.

Hannah sieht sie verständnislos an. Franka sucht nach weiteren Worten, aber es fehlt ihr an allen. Jede Erklärung würde eine neue Erklärung verlangen. Wo soll sie anfangen, hier und jetzt an diesem zugigen U-Bahngleis, wo alle Fäden lose sind, und egal, an welchem sie zöge, immer nur ein weiterer einzelner Satz hervorkäme, der noch mehr Unverständnis bei Hannah hervorriefe.

„Und das findest du unangemessen?“

Franka schüttelt den Kopf. Wie sollte sie erklären, dass es nicht um Jaros oder Zschäpe geht. Am besten wäre, sie würde sagen: Lass uns Leben tauschen, ich nehme deine Vergangenheit und du meine. Nur dann könnte Hannah verstehen, was los ist.

Annegret Liepold – Unter Grund, S. 7f.

Unter Grund tut im Folgenden genau das, was Franka hier noch hypothetisch beschreibt. Annegret Liepold zieht an den Erinnerungsfäden und entwirrt diese Stück für Stück. Tieft taucht sie dabei in die Vergangenheit von Franka ein, die bis in die Gegenwart fortwirkt, wie das Wort der „Nazischlampe“ deutlich zeigt. Denn einst geriet die junge Frau in Kontakt mit rechtsradikalen Kreisen dort auf dem Land, wo sich die unter den schulterzuckenden bis goutierenden Blicken der restlichen Dorfbevölkerung die NPD zu Stammtischen im Dorfwirt traf.

Erstarkender Nationalismus – und erstarkender Rechtsradikalismus

Annegret Liepold - Unter Grund (Cover)

Ähnlich wie bei Luca Kiesers Roman Pink Elephant ist es auch hier der WM-Sommer 2006, der den erzählerischen Hintergrund der Rückblenden bildet. Als plötzlich Deutschlandfahnen in Autoscheiben klemmten, Nationalfarben auf Rückspiegeln und in Gesichtern prangten und die Welt zu Gast bei Freunden sein sollte – da rollte sie durch Deutschland, eine neue Welle des Patriotismus.

Vielfach wurden erregte Diskurse geführt, wie dieser neue Nationalstolz einzuordnen sein. Ob man das einfach dürfe, stolz auf sein Land zu zeigen. Ob nach all der Zeit nicht gut sei, mit dem verdrucksten und verschämten Patriotismus und ob man das nicht zeigen dürfe. Eine gehisste Deutschlandfahne mache einen nicht gleich zu einem Nazi, so der Tenor vieler Debatten. Eine durchaus richtige Feststellung, auf die Annegret Liepold allerdings gar nicht zielt. Vielmehr blickt sie auf die Phänomene, die im Windschatten der Schland-Euphorie jenes Sommers wieder offen zutage traten.

Denn das Sommermärchen geheißene Event führte nicht nur zu einem Erstarken des Nationalismus – auch dem Rechtsextremismus und seinem völkischen Denken kam die nun wieder stolz gezeigte Zuneigung zum eigenen Land zupass. Sinnbildlich für das Spannungsfeld der damaligen Debatten steht Frankas linker Positionen zuneigende Jugendfreund Leon. Dieser wendet sich angesichts von Schlagzeilen wie „Ihr Deutschen seid schwarz-rot-geil“ und dem allgegenwärtigen Fahnenwahnsinn mit Grausen ab, während Franka kurz nach dem Abiball die Bekanntschaft mit Patrick macht.

Dieser ist ganz anders als Leon, der mit seinen Ansichten dort auf dem Land in der Minderheit ist. Patrick nimmt sie mit auf eine Tagung der NPD ins Wirtshaus und bringt sie in Kontakt mit Janna, die Franka von Beginn an fasziniert. Lagefeuerabende und Hauspartys folgen, bei denen sich die Gäste als textsicher erweisen, was Lieder von den Böhsen Onkelz bis zum Horst Wessels-Lied anbelangt. Zum Unverständnis von Leon versinkt Franka binnen kurzem immer tiefer in diesem braunen Sumpf- mit fatalen Folgen.

Das Abgleiten in den braunen Sumpf

Das schnelle Abgleiten in die rechtsextreme Szene und die Verankerung von deren Gedankengut auf dem Land zeichnet Liepold ebenso nach, wie sie auch familiäre Verstrickungen in die Nazizeit aufarbeitet. Zusammengesetzt aus Frankas gegenwärtigem Aufenthalt dort im Dorf und den Geschehnissen im Sommer 2006 fügt sich ein Bild zusammen, das vom Fortwirken des Nationalsozialismus erzählt.

Wenn Liepold nur mit kurzen Szenen die heute immer noch geführten Debatten um Schlussstriche, Reparationen, notwendigem Landesstolz und die Umbenennung von Straßen antippt, dann zeigt sich ein zutiefst beunruhigendes Bild von rechtem Denken, dass immer noch im Untergrund lauert und von dem man sich besonders auch Franken nicht wirklich frei machen konnte. Sinnbildlich hier der im Roman geschilderte Ausflug der Clique nach Gräfenberg, in dem noch 2008 ganze 18 Demonstrationen von Neonazis innerhalb eines Jahres stattfanden.

Überhaupt, der Untergrund, er gibt dem Buch nicht nur den Titel, sondern ist auch ein hervorragend eingebundenes Motiv, das sich durch den ganzen Roman zieht. Vom Beginn, in dem Franka getriggert vom Begriff der „Nazischlampe“ unter der Erde am U-Bahnhof sitzt, über die Teiche, in deren braunen Morast die Karpfen gründeln, bis hin zum gesellschaftlichen Erbe der Zeit des „Dritten Reichs“, das unter der Oberfläche brodelt. Mal verharrt es subkutan, mal tritt es offen zutage, etwa auch in der Namenswahl der Neonazis, so auch beim eingangs erwähnten Prozess um Beate Zschäpe, die sich ja als Teil des rechtsradikalen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ versteht.

Fazit

Unter Grund ist ein eminent politischer Roman, der der Verankerung des Rechtsradikalismus in Gesellschaft, auf dem Land und in Familien nachspürt und der Franka tief in den eigenen Erinnerungen versinken lässt. Und auch wenn die AFD zum damaligen Zeitpunkt noch kein Thema war, hat dieser Roman doch ein Gespür für Kontinuitäten und Entwicklungen, in deren Lichte das heutige Erstarken der extrem Rechten konsequent erscheint.

Dass der Roman dabei ohne erhobenen Zeigefinger auskommt, literarisch hervorragend gearbeitet ist, Rückblenden und erzählte Gegenwart klug miteinander verschränkt und erst langsam die ganzen Facetten seiner Figuren und der Geschehnisse freischält, wobei das Buch stets wohltuend vielschichtig und genau beobachtend vorgeht, das steigert die Qualitäten von Unter Grund gleich noch mehr. Es lohnt sich, dieses Buch ebenso aufgrund seiner Literarizität als auch seiner politischen Botschaften zu lesen.

Man wünscht Annegret Liepolds Debüt in diesen oftmals so geschichtsvergessenen Zeiten viele LeserInnen. Besonders als Schullektüre könnte sich die Betrachtung des Buchs lohnen, ist Liepolds Debüt doch eng an seinen jugendlichen Figuren dran und weist eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz auf, die viele (schulischen) Diskussionen und eine breite Rezeption verdient – und das weit über Franken hinaus.


  • Annegret Liepold – Unter Grund
  • ISBN 978-3-89667-766-2 (Blessing)
  • 255 Seiten. Preis: 24,00 €
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