Monthly Archives: Juni 2021

Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber

Ein Roman wie ein Orgelkonzert. Von wuchtig brausend bis hin zu verspielten Passagen präsentiert Mathias Énard Literatur einer anderen Liga. Ein grenzen- und rahmensprengendes Werk, aufregend, fordernd und überwältigend. Eine Sinfonie der Sinne – ich bin begeistert.


Für seinen neuen Roman greift Mathias Enard so richtig in die Tasten. Sein Roman Das Jahresbankett der Totengräber liegt eine umfangreiche Klaviatur von Stimmungen und Klängen zugrunde. Das ist am ehesten mit einer volltönenden und registerreichen Orgel zu vergleichen, auf der der Meister für seinen Roman in die Vollen geht und nicht nur eine Geschichte erzählt, sondern – um im Bild zu bleiben – ein ganzes Konzert präsentiert, wie zumindest ich es schon lange nicht mehr gehört beziehungsweise gelesen habe.

Dabei beginnt alles noch ganz überschaubar mit der Exposition. Ein junger Ethnologe kommt in ein kleines Dorf im Westen Frankreichs in der Nähe von La Rochelle. Dort bezieht er Quartier – das er in Erinnerung an Claude-Levi Strauss Das Wilde Denken tauft. Sein Ziel ist es, für seine Promotion eine anthropologische Studie des Lebens auf dem Dorf anzufertigen. Nicht weniger als ein Standardwerk schwebt dem jungen Mann vor.

In Tagebucheinträgen lernen wir das Dorf namens La Pierre-Saint-Christophe kennen, das eine soziologische Struktur aufweist, wie sie auch vielen deutschen Dörfern gemein ist. Eine Kneipe als Gesellschaftsmittelpunkt, eine Kirche, ein paar Zugezogene, die nicht wirklich in die Dorfgemeinschaft integriert sind. Ihnen allen fühlt David Mazon, so der Name des jungen Forschers, mal mehr und mal weniger erfolgreich auf den Zahn. Seine Feldforschung beginnt, während er sich in seiner Behausung in einem Bauernhof mit zahlreichen Tieren einrichtet (unter anderem zwei Katzen, die er passenderweise Nigel und Barley tauft) Doch nach etwas mehr als einem Monat Tagebucheinträgen bricht dieser erste Teil des Buchs unvermittelt ab.

Ein Anthropologiestudent, Seelenwanderungen und ein Schweine-Priester

Ging es zuvor um das Leben dort im Dorf, wendet sich Enard in der Folge auch dem Sterben und dem ewigen Leben zu. Hierfür wechselt er die erzählerischen Register. Denn statt der Tagebucheinträgen David Mazons wählt er nun die auktoriale Erzählperspektive, aus der er auf das Dorf blickt. Er erzählt von den Dorfbewohner*innen und deren Sterben, das keineswegs das Ende des Lebens ist. Denn in Enards Welt Welt herrscht die Idee eines Bardo, auch genannt Seelenrad oder Transmigration. Der Tod führt hier stets zu einer Wiedergeburt der Dörfler*innen, die sich auch schon mal als Geziefer in David Mazons Badezimmer oder als mnemotechnisch begabter Automechaniker manifestieren können. Der skurrilste Fall ist sicherlich der des Dorfpfarrers Largeau, dessen Seele nach seinem Verscheiden in den Körper eines Wildschweins fährt. Ein klarer Fall eines Schweine-Priesters, könnte man sagen.

Mit solchen Einfällen ist Das Jahresbankett der Totengräber randvoll. Höhepunkt dieser sprudelnden Seelenwanderungsfantasien ist das Kapitel And we shall play a game of cards…, bei dem Enard in die Vollen geht. Vordergründig beschreibt er dabei zunächst graphisch und literarisch die waghalsien Zockerpartien im Dorfwirtshaus. Doch dabei bleibt es nicht. Er verknüpft diese Spielbereichte mit Schilderungen der Feldzüge Chlodwigs 507, Episoden um Heinrich von Navarra oder Napoleon Bonaparte. Das ist fantasievoll und in Sachen Erfindungsgabe und Ideenreichtum mehr als bemerkenswert. Schon lange ist mir kein Buch mehr untergekommen, das eine derart überbordende Schöpfungs- und Ideenkraft an den Tag legte. Das lässt sogar den vielgelobten und ähnlich waghalsigen Roman Lincoln im Bardo von George Saunders hinter sich. Aber auch die Sprachmacht Enards ist mehr als bestrickend.

Das Jahresbankett der Totengräber

Mathias Enard - Das Jahresbankett der Totengräber (Cover)

Das wird im Kernstück des Romans dann vollends offenbar. Dieses bildet das titelgebende Kapitel Das Jahresbankett der Totengräber. In ihm schildert Énard das rituelle jährliche Zusammentreffen der Totengräber, das in diesem Jahr vom lokalen Bestatter ausgerichtet wird, der auch als Bürgermeister des Dorfes fungiert. Während sich die Totengräber der Völlerei hingeben, steht das Rad des Sterbens still. Die Zeit scheint aufgehoben und der Tod hat Pause. So können sich die Totengräber, Sargkutscher und Leichenwäscher einem Schmaus hingeben, der alle Veganer*innen, Diabetiker*innen oder Weight Watchers um den Verstand bringen dürfte. Mit größter Freude schildert Enard die Orgie, bei der geschmaust und gezecht wird, das selbst die Saturnalien im alten Rom oder barocke Tafeleien daneben verblassen. Wie es ihm hier gelingt, die lukullischen Ausschreitungen und sinnlichen Grenzüberschreitungen erfahrbar zu machen, das ist größte literarische Kunst, die bleiben wird. Dessen bin ich mir sicher.

Während die Totengräber tafeln, werden Debatten geführt (sehr aktuell etwa die Debatte, ob Frauen auch zum Bankett zugelassen werden sollten) oder Erzählungen dargeboten. Mit diesen Erzählungen knüpft Enard an die Größen der französischen Literatur an. So ist es während des Jahresbanketts etwa die Sage von Gargantua und Pantagruel von Jean Rabelais, die Enard zitiert und interpretiert. Sein junger Anthropologe David Mazon liest in seinem Wilden Denken 1793 von Victor Hugo. Und nicht nur die beim Jahresbankett gereichten Meerestiere sind á la Dumas zubereitet. Auch einige Passagen im Buch selbst erinnern an den Großmeister der Mantel- und Degenromane. Hier wandelt Enard auf großen literarischen Spuren – kann aber angesichts seiner Sprachmacht, Ideenfülle und Fabulierlust im Konzert der Großen bestehen.

Eine nuancenreiche und bemerkenswerte Übersetzung

Die literarische Meisterschaft von Mathias Enard wird in diesem Kapitel genauso wie im Rest des Buchs offenbar. Dabei sollte man allerdings Eines nicht vergessen. Dass wir diese rauschhafte und so vielstimmige Literatur auch im Deutschen genießen können, hat einen, besser gesagt zwei Gründe. Diese hören auf die Namen Holger Fock und Sabine Müller. Ihnen ist das Kunststück gelungen, diesen Sprachrausch auch ins Deutsche zu übertragen.

Marcel Gendreau, der schriftstellernde Lehrer, wartete also ungeduldig auf die Kommentare von Honoratioren und Journalisten.

Die Reaktionen übertrafen seine Erwartungen bei Weitem.

Während der Bürgermeister die Mehrheit der Romanfiguren wiedererkannte und sich über einige Porträts gewaltig amüsierte, war das bei seiner Gattin weniger der Fall, die sich als gnadenlose Klatschbase beschrieben fand und teilweise für Louises Leiden verantwortlich gemacht wurde; sie beklagte sich sofort bei ihrem Mann darüber und forderte entweder das Einstampfen des Werks oder zumindest eine komplette Neufassung, was den Ädilen in Bedrängnis brachte.

Der Tierarzt erkannte in dem Roman nur die Frau des Ädilen, aber das genügte zunächst, um ihn im höchsten Maße zu belustigen, bis die Jeremiaden der Frau Bürgermeister aus Solidarität ein Echo bei seiner eigenen Lebengefährtin fanden und er ebenfalls in Bedrängnis kam.

Mathias Enard – Das Jahresbankett der Totengräber, S. 165

Jeremiaden, Klatschbase, Ädile oder auch Wortschönheiten wie Schnabulieren, die sich im Text finden. Ganze Gedichte, die übertragen wurden. Kulinarische Beschreibungsexzesse, Gerichtsverhandlungen mit Zeuginnen, die einen unverständlichen Dialekt sprechen: Die sprachliche Fülle, die die beiden Übersetzer*innen für Enards Wortrausch finden, ist überzeugend. So gelingt es ihnen auch kreativ, den Abschluss des Jahresbanketts ins Deutsche übertragen. Hier muss jeder Totengräber eine Formulierung fürs Sterben finden. Was die beiden Übersetzer*innen daraus gemacht haben, das ist aller Ehren wert. Man kann dieses Buch in meinen Augen nicht rühmen, ohne die Übersetzungsleistung bei diesem Buch auch in den Blick zu nehmen.

Fazit

Das Jahresbankett der Totengräber ist wahrlich ein literarisches Konzert. Überbordend und donnerend wie eine Sinfonie aus der Feder von Bruckner oder Strauss. Verspielt, experimentell, mal schnell, mal verträumt, mal historisierend, mal romantisierend. Das alles ist dieses Enard’sche Werk. Das Buch weist eine Fülle an Themen und Leitmotiven auf, die sich zwischen den einzelnen Kapiteln hindurchschlängeln. Immer wieder unterbrechen kleine Zwischenspiele in Form der Chansons das Buch und geben ihm Struktur.

Mag manch einer auch einen fehlenden Fokus oder die (nur scheinbar) disparaten Teile des Buchs kritisieren, so greifen für mich diese Kritikpunkte nicht. Enard gelingt in seinem Buch ein schier berstendes Poträt eines Landstrichs und seiner Bewohner*innen, das man in dieser überbordenden barocken Fülle so lange nicht mehr gelesen hat. Zudem ist das Buch sinnig durch das Leitmotiv von Leben und Sterben durchkomponiert.

Oder um es etwas bündiger zu sagen: Die Lust am Geschichtenerfinden ist überzeugend, die Themen decken eine große inhaltliche und zeitliche Breite ab, der Anspruch ist angenehm fordernd. Zudem ist das Buch ein großer Sprachrausch, der ebenso überzeugend übersetzt wurde. Große Literatur, die bleiben wird!


  • Mathias Énard – Das Jahresbankett der Totengräber
  • Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
  • ISBN 978-3-446-26934-7 (Hanser)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
Diesen Beitrag teilen

Ann Petry – Country Place

In der Coronakrise hat das Dorf und die Kleinstadt wieder an Prestige gewonnen. Viele sahen und sehen dort die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung. Viel Platz für Eigenheim und Kinder, ein begrenztes soziales Umfeld und (noch) erschwingliche Grundstückspreise. Das ist in heutigen Zeiten für viele Städter mehr als verlockend. Doch auch in der Literatur hat das Dorf jüngst eine Renaissance erfahren. Angefangen von Juli Zehs Bestseller Unterleuten über Dörte Hansen bis hin zu Christoph Peters reicht die Reihe an Büchern, die sich mit dem Dorfleben beschäftigen. Dabei schwingt auch immer die Gefahr der Verklärung mit, die das Dorf als Hort der Nostalgie und des reibungslosen Miteinanders personifiziert.

Ein Antidot zu solchen Verklärungen und falschen Vorstellungen ist Ann Petrys Roman Country Place. Ursprünglich 1947 erschienen, liegt das Buch nun erstmals in einer Übersetzung von Pieke Biermann auf Deutsch vor. Im Jahr zuvor erschien das grandiose und zu Unrecht vergessene Buch The Street Petrys in der Übersetzung von Uda Strätling. Es scheint, als beginne langsam die Renaissance dieser so kraftvollen und talentierten Autorin. Eine sehr begrüßenswerte Entwicklung!

Heimkehr nach Lennox

Ann Petry - Country Place (Cover)

Dabei beginnt alles mit einem klassischen Motiv: ein Held kehrt heim aus der Schlacht zu seiner Frau. Sein Name ist Johnnie, er hat im Zweiten Weltkrieg gekämpft und kehrt nun in das kleine Küstenstädtchen Lennox heim. Dort wartet seine Frau Glory auf ihn. Doch von Anziehung und Begehren nach der langen Absenz ihres Mannes kann keine Rede sein. Sie hat sich in der Abwesenheit mit dem Besitzer einer Tankstelle eingelassen, der im Städtchen als unverbesserlicher Frauenheld berüchtigt ist. Und so muss dieser moderne Odysseus erkennen, dass er sich in seinen Vorstellungen ein ganz anderes Bild gemacht hat, als es sich dann in der Realität präsentiert.

Doch nicht nur Johnnies Ehefrau war ihm untreu und wurde ihm abspenstig gemacht. Auch all die anderen Bewohnerinnen des Städtchens haben ihre Abgründe. Ehebruch, Antisemitismus und sogar versuchter Mord gibt es im kleinen Lennox, wie Ann Petry zeigt. Man belauert sich gegenseitig, intrigiert und spricht schlecht hinter dem Rücken übereinander. Oftmals braucht es dazu auch gar nicht den Rücken, sondern man sagt sich ins Gesicht, was man voneinander hält. Besonders die Figur des Taxifahrers, das „Wiesel“ sticht hier hervor und macht seinem Spitznamen alle Ehre. Er intrigiert, stichelt und hat dabei selbst doch auch eigene Leichen im Keller.

Die Hölle, das sind die anderen

Das Bild des Kleinstadtlebens, das Ann Petry in ihrem Buch zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft. Wie man übereinander herzieht, sich gegenseitig in schlechtem Licht dastehen lässt und sich das Leben schwermacht, daran hätte auch Jean-Paul Satre seine Freude gehabt. Erstaunlich an diesem Buch aus dem Jahr 1947 ist auch, wie Ann Petry als schwarze Autorin ihren weißen Mitmenschen gnadenlos den Spiegel vorhält. Sie zeigt all die Verlogenheit der sich so überlegen fühlenden Weißen. Schwarze kommt in diesem Roman allenfalls als Bedienstete vor.

Für einen Roman aus den 40er Jahren ist das wirklich bemerkenswert (man denke nur an den ähnlich gelagerten Fall von James Baldwins Roman Giovannis Zimmer). Da verzeiht man der Autorin auch manch arg plakativen Figuren und Motive. Dass der verschlagene und intrigante Taxifahrer „Das Wiesel“ heißt, dass es einen Sturm braucht, der die Beziehungen und Verhältnisse durcheinanderwirbelt, das ist alles etwas uneleganter als in The Street gelöst, dessen Qualität Country Place nicht ganz erreicht.

Und dennoch ist das Buch in seiner soziologischen Schärfe, seinen mit Krimi- und Kolportageelementen versetzten Plot durchaus stark und völlig zurecht jetzt auf Deutsch zugänglich gemacht worden. Zu keinem Zeitpunkt wirkt das Buch antiquiert oder inszenatorisch angestaubt. Country Place besitzt eine Frische und Stärke, die die diese deutsche Erstausgabe evident macht, wenngleich man als deutschsprachige Leser*in gute 70 Jahre Wartezeit in Kauf nehmen musste.

Das Nachwort von Farah Jasmine Griffin rundet das Buch hervorragend ab. Gelobt sei an dieser Stelle auch Pieke Biermann für ihre Übertragung und der Verlag Nagel & Kimche für den editorischen Mut, sukzessive das Werk Petry neu auf Deutsch zugänglich zu machen!

Eine weitere Besprechung zu diesem Buch gibt es bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Ann Petry – Country Place
  • Aus dem Englischen von Pieke Biermann
  • Mit einem Nachwort von Farah Jasmine Griffin
  • ISBN 978-3-312-01225-1 (Nagel&Kimche)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam

Ein Jurist legt eine Beichte ab. Im Todestrakt, wartend auf seine Hinrichtung erzählt er uns sein Leben. Er schildert dabei Wie alles begann und wer dabei umkam. Und zeigt sich als ambitionierter Jurist, dem das Recht schon früh nicht mehr ausgereicht hat. Simon Urban hat einen Roman geschrieben, der Entwicklungsroman, juristische Einführung, psychologische Feldstudie und Schelmenroman miteinander kombiniert. Ein Roman, der unterhaltsam, aber nicht ganz rund und schlüssig ist.


Schon früh zeigt sich im Leben des Justus Hartmann: dieses Kind ist nicht wie andere. Zusammen mit den Eltern wohnt er in der Einliegerwohnung des Hauses der eigenen Großmutter. Diese tyrannisiert die ganze Familie, die Schwiegertochter muss zum Hungerlohn bei ihr putzen. Aber immerhin: den Lohn zieht sie der eigenen Familie dann vom Mietpreis der Wohnung ab. Mit ihren Tiraden und wohlgesetzten Spitzen knechtet sie die ganze Familie, sodass Justus schon im Kinderzimmer einen Prozess gegen die eigene Großmutter anstrengt. Als Beisitzer fungieren Kuscheltiere, das Ergebnis seines kindlichen Richterspruchs ist eindeutig: die Todesstrafe.

Ab nach Freiburg

Simon Urban - Wie alles begann und wer dabei umkam (Cover)

Doch bis dieses Todesurteil bei der eigenen Großmutter rechtsgültig in Kraft tritt, werden noch viele Jahre vergehen. Einstweilen absolviert er erst einmal die allgemeine Hochschulreife und tritt nach der Schulzeit den Weg aus Stuttgart nach Freiburg an. Er will der Enge der Wohnung und der großmütterlichen Tyrannei entfliehen und erwählt das heruntergekommene Freiburger Studentenwohnheim als sein neues Domizil. Immer noch mit den Auswüchsen der Pubertät geschlagen beschließt er, sich dem Studium des Rechts zu widmen.

Schnell wird er zu einem Überflieger, der Tutorien leitet, allerdings wenig soziale Kompetenz an den Tag liegt. Seine größte Erfüllung findet er in schonungslosen Gesprächen mit Kommilitoninnen oder jüngeren Studenten, in denen man gnadenlos Geheimnisse oder wahre Ansichten über das Gegenüber teilt. An diesen Gesprächen berauscht sich Justus und schreckt dabei auch vor Manipulation nicht zurück.

Alles ändert sich, als man der etwas biederen Strafrechtslehre in Freiburg mehr Glamour verleihen will. So erhält eine Berliner Starprofessorin einen Lehrauftrag an der Freiburger Uni. Sie krempelt gleich mit ihrer Antrittsrede den Laden auf links und verstört mit ihren Ansichten zur Rechtsprechung Justus nachhaltig. Er beginnt, sich als Gegenspieler der Professorin zu sehen und treibt in seiner Freizeit den Versuch der globalen Renovierung des Strafrechts voran. Doch seine Überlegungen haben für ihn und seine Mitmenschen Konsequenzen. Konsequenzen, die Justus um den halben Erdball führen werden.

Zwei unterschiedlich überzeugende Teile

Wie alles begann und wer dabei umkam teilt sich in zwei Hälften. Endet der erste Teil mit einem wahren Paukenschlag, setzt Urban die Geschichte seines Juristen mit psychopathischen Zügen dann auf der anderen Seite der Erdkugel fort.

Dabei fällt ein qualitativer Unterschied der beiden Hälften ins Auge. Während der erste Teil des Romans recht stringent und vorwärtstreibend erzählt ist, verliert sich diese Dynamik in der zweiten Hälfte fast gänzlich. Hier lässt Urban den Erzählungsfluss deutlich stärker mäandern und unterbricht die Handlung immer wieder durch kurze Erzählepisoden, die sich nicht wirklich homogen einfügen. Zwar sind Teile der Miniaturen großartig (ein humoristischer Höhepunkt sicherlich die Schilderung des Heino-Konzerts, das Justus zusammen mit der tyrannischen Großmutter besuchen muss), andere Geschichten bringen eher erzählerische Längen in den Roman ein (der mit über 500 Seiten eh recht umfänglich geraten ist).

Fehlender Drive im zweiten Teil

Auch schafft es Simon Urban nicht so recht, aus den beiden Hälften mitsamt der ganzen Erzählminiaturen ein literarisches Ganzes zu formen. Der Paukenschlag, der den ersten Teil beendet, läuft im zweiten Teil ins völlige Nichts, ehe der dann am Ende des Romans mithilfe einer Mail halbgar zu Ende gebracht wird. Auch weckt der Auftakt mit der Beichte aus dem Todestrakt heraus Erwartungen, die das Buch nicht erfüllen kann.

Statt einem skrupellosen Mr Ripley, dessen Taten nach und nach eine Lawine auslösen oder zu einem kriminellen Crescendo anschwellen, dümpelt die Handlung oft einfach vor sich hin. Justus scheint in seinen Schilderungen eher an sexuellen Erlebnissen, entblößenden Gesprächen und juristischen Fragestellungen oder Paradoxa Interesse zu haben, als sich als das zu präsentieren, was Klappentext und Geständnis am Anfang des Buchs insinuieren. So bleibt ein etwas unrunder Leseeindruck zurück.

Etwas nervig auch die Angewohnheit, sämtliche besonderen oder hervorgehobenen Wörter ständig kursiv zu setzen. Mit fortschreitender Dauer erweist sich diese Marotte als manieriert und erzählerisch nicht zweckdienlich. Ohne diese Kursivsetzung hätte das Buch kein Gran an Literarizität verloren. So zumindest mein Eindruck

Fazit

Wie alles begann und wer dabei umkam ist ein unterhaltsamer Roman, der besonders im ersten Teil vorandrängt und einen skrupellosen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt rückt. Wer viele juristische Fallbeispiele und Betrachtungen über Recht und Unrecht abkann, den dürfte das Buch gut unterhalten. Einige Straffungen und Überarbeitung hin zu einem homogenen erzählerischen Ganzen hätten dem Buch gutgetan. So bleibt für mich der Eindruck, dass hier etwas mehr drin gewesen wäre. Ich empfehle vorrangig Simon Urbans Debüt Plan D, in dem er ein alternatives Deutschland entwirft, in dem die DDR noch fortbesteht. Diesen Thriller würde ich persönlich nach wie vor Wie alles begann und wer dabei umkam vorziehen.

Ein gesonderter Hinweis sei an dieser Stelle noch auf den originellen Trailer des Verlags zum Buch:


  • Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam
  • ISBN 978-3-462-05500-9 (Kiepenheuer Witsch)
  • 544 Seiten. Preis: 24,00 €
Diesen Beitrag teilen

J. Todd Scott – Die weite Leere

Garrison lehnte sich zurück. „Tja, was denken Sie?“. Er schaute ebenfalls zum Fenster. „Haben Sie eine Ahnung“, wie viele Menschen da drüben noch vor Kurzem in einem Jahr ermordet wurden? Über dreitausend. Macht neun pro Tag. Ein Jahr später waren es zweitausend mehr. Meistens Killer, die sich gegenseitig umbringen, die ihren eigenen schmutzigen kleinen Krieg führen, aber trotzdem sind das eine Menge Tote. Darunter auch sehr viele Unschuldige, Unbeteiligte … Frauen, Mütter. Ganz zu schweigen von den Verbrechern, die das Blutbad nutzen und ein eigenes Schlachtfeld aufmachen. Die vielen Lichter da hinten, wo Sie gerade hingucken? Das ist Ciudad Juaréz. Eine Zeit lang war es, abgesehen von echten Kriegsgebieten, die gefährlichste Stadt der Welt.“

J. Todd Scott – Die weite Leere, S. 345

Verlorene Menschen in einer unbehausten Umgebung. Menschen, die sich nach Anerkennung und Liebe sehnen. Und Gewalt und Korruption, die mit diesem Wunsch einhergeht. Davon erzählt J. Todd Scott in seinem Debüt Die weite Leere.


Dabei stellt J. Todd Scott gut ein halbes Dutzend Figuren in den Mittelpunkt seines Romans, deren Beziehungen und Entwicklungen er beobachtet. Hauptfigur ist der Sheriff der fiktiven Kleinstadt Murfee irgendwo im Nirgendwo zwischen Mexiko und Texas, genannt der „Judge“. Er kontrolliert die öffentliche Ordnung und ist in der Kleinstadt hoch angesehen. Ganz anders als die Bewohner*innen Murfees beurteilt allerdings sein Sohn Caleb den Charakter und das Tun des Sheriffs. Dieser hat den Sheriff nämlich im Verdacht, seine eigene Mutter sowie zwei ihrer Vorgängerinnen getötet zu haben.

Misstrauen in Murfee

Um diese Figuren gruppieren sich weitere Bewohner Murfees, allen voran der Deputy Chris Cherry. Einst ruhten die sportlichen Hoffnungen der Stadt auf ihm, doch eine Knieverletzung brachte den vielversprechenden Quarterback um seine Karriere. Und so versieht er nun in Murfee unter Sheriff Ross seinen Dienst. Als ein Farmer Knochen in der Wüste findet, läuft Cherry zu großer Form auf. Schließlich verschwand vor einiger Zeit ein Ermittler spurlos. Geben die Knochen nun Auskunft über sein Schicksal?

Eine Lehrerin, neu in der Stadt und mit einem traurigen Geheimnis versehen, ein Crystal Meth-abhängiger Deputy, ein mexikanischer Sicario und eine Freundin Calebs vervollständigen das Ensemble.

J. Todd Scott - Die weite Leere (Cover)

All diese Figuren und ihre Beziehungen untereinander bilden den Motor dieses Romans. Denn statt einfach linear eine Handlung zu präsentieren und diese mithilfe gerade geeigneter Perspektiven zu schildern und voranzutreiben, wählt der schreibende DEA-Agent einen anderen Ansatz. Er blickt in das Seelenleben der Figuren, die allesamt die räumliche Leere des Handlungsortes auch in ihrer Seele verspüren. Caleb vermisst seine Mutter. Die Freundin von Deputy Cherry ist in der Beziehung unglücklich, beide gehen sich aus dem Weg. Die Lehrerin erfährt die Leere in Folge des Schicksalsschlags, der sie nach Murfee geführt hat. Manche Figuren betäuben sich mit Drogen, andere suchen im Flirt Erfüllung. Dass diese seelische Unbehaustheit tödliche Konsequenzen zur Folge haben wird, das führt Scott konsequent zu Ende. Dabei nimmt er sich aber Zeit, die Konsequenzen zu entwickeln und investiert viel Zeit in die Anlage der Figuren und ihrer Spannungsfelder.

Gut ausbalanciertes Erzählgewicht

Dabei fließt die Expertise des DEA-Agenten angenehm zurückhaltend ein. Denn neben den Schilderungen von Crystal Meth-Abhängigkeit, verdeckten Ermittlungen und täglicher Ermittlungsarbeit nimmt sich Scott eben auch ausreichend Zeit für die Psychologisierung seiner Figuren. Ihre Wünsche und Sorgen, die ihr Handeln motivieren, zeichnet er glaubwürdig und plausibel nach. Das ist alles gut ausbalanciert und hat weder auf psychologischer noch auf handlungstechnischer Ebene Schlagseite.

Nach und nach durch die Figuren das Porträt einer typischen amerikanischen Kleinstadt, in der das Unrecht und die Kriminalität vor allem bedingt durch die eigentliche Vertreter von Recht und Ordnung wie ein Krebsgeschwür wuchert. Das ist beeindruckend und verschafft dem Buch in der ganzen Fülle an ähnlich gelagerten Krimis und Thrillern in letzter Zeit eine eigene Nische und macht es lesenwert.

Fazit

Mit Die weite Leere gelingt J. Todd Scott ein wirklich beachtenswertes Debüt, das Erwartungen weckt auf das, was da noch folgen mag. Erneut gelingt dem Polar-Verlag eine Entdeckung eines ungewöhnlichen Erzähltalents, die durch die Übersetzung von Harriet Fricke und das Nachwort von Carsten Germis abgerundet wird.


  • J. Todd Scott – Die weite Leere
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke
  • Mit einem Nachwort von Carsten Germis
  • 448 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen