Category Archives: Historischer Roman

Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee

Mit Nacht unterm Schnee liegt nun der Abschluss der autobiographisch grundierten Erzähltrilogie Ralf Rothmanns aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs vor. Darin tauchen viele Figuren auf, die man aus dem Rothmann’schen Erzählkosmos bereits kennt, allen voran der Melker Walter, das Alter Egos von Ralf Rothmanns Vater. Im Mittelpunkt des Romans steht aber die Ich-Erzählerin Luisa, die bereits in Der Gott jenes Sommers, dem Mittelteil von Rothmanns Triptychon, die zentrale Rolle spielte.

Nun, nach den Erlebnissen an der Heimatfront, hilft sie in der Nachkriegszeit in der Gaststätte ihrer Eltern in Kiel aus und macht die Bekanntschaft mit Elisabeth, deren bewegte Geschichte sich erst langsam ergibt. Die Klasse von Im Frühling sterben erreicht das Buch aber leider nicht.


Welch ein hehrer Wunsch, der Rothmanns Heldin Luisa umtreibt. Sie, die Halbwaise, will der Enge der elterlichen Schankstube im Hafen von Kiel entkommen, indem sie Bibliothekswesen studiert. In ihrer Jugend hat sie den Krieg und das Elend am eigenen Leib eindrücklich erfahren. Jetzt, in der Aufbruchszeit nach dem Weltkrieg erscheint ihr die Welt ganz offenzustehen. Sie verliebt sich, pflegt Affären und findet vor allem in der Person des Melkers Walter einen Seelenverwandten. Dieser ist mit Elisabeth verbandelt, der promiskuitiven Untermieterin von Luisas Mutter, die sie mit dem Führen der Kneipe beauftragt hat.

Walters ruhiges Wesen, sein Job als Melker auf einem Gut bei Missunde und sein Werben um Elisabeth faszinieren Luisa. Als Walter und Elisabeth Eltern des kleinen Wolfs (Rothmanns Alter Ego) werden, ziehen sie mit ihrem Kind ins Ruhrgebiet, wo Walter als Bergmann arbeiten wird. Doch der Kontakt zu den beiden reißt nicht ab und während sich Luisa in ihr Studium des Bibliothekswesens vertieft, geht auch das Leben des widersprüchlichen Paares im Ruhrgebiet weiter.

Vertrautes Personal, vertraute Geschichten

Um seine Geschichte zu erzählen, setzt Ralf Rothmann auf Altervertrautes. Abermals reißt er die Lebensgeschichte von Walter an, wenngleich die traumatischen Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg hier nur angedeutet werden. Auch Luisa ist Leser*innen der Trilogie vertraut. Noch immer liebt sie Bücher und macht jetzt ihre Leidenschaft zum Beruf.

Elisabeths Geschichte ist die, die nun im letzten Teil im Mittelpunkt steht. Ihre Erfahrungen aus dem Weltkrieg verbinden sich hier mit dem Nachkriegs-Porträt der Frau, zu deren Lebensmaximen nicht unbedingt Treue und Ehrlichkeit zählen.

Ralf Rothmann - Die Nacht unterm Schnee (Cover)

Nun ist Vertrautes und die stilistische Variation von Themen und Motiven in einem schriftstellerischen Oeuvre nichts, das man unbedingt bekritteln könnte. Wenn das Ganze dann aber eher zur Kopie und dem Pastiche der eigenen Werke wird, dann ist das für mich allerdings ein klarer Kritikpunkt. So könnte man über die erzählerischen Überlappungen der drei Bücher wirklich hinwegsehen, ergeben sich doch manchmal reizvolle Perspektivverschiebungen.

Aber gerade in der zweiten Hälfte von Die Nacht unterm Schnee hatte ich den Eindruck, dass Ralf Rothmann sein großartigen Ruhrgebietsroman Milch und Kohle einfach noch einmal geschrieben hat.

Die Beschreibung des Arbeitens der Bergleute unter Tage, ihre Kolonne auf dem Heimweg, die fremde Welt der Italiener im Pott, die biederen Abend mit der Suche nach Freiheit im staubigen Alltagstrott, die Enthemmung beim Tanz in der Kiezkneipe. All diese Beschreibungen bringt Ralf Rothmann nun auch in diesem Buch ein, das sich durch (zumindest in meinen Augen) nichts von dem bereits Erzähltem in seinem 2001 erschienenen Roman abhebt. Das ist schade, hätte es doch auch hier in Bezug auf Rothmanns eigene Kindheit im Ruhrgebiet noch vieles abseits der bekannten und schon auserzählten Bilder gegeben.

Fazit

So bleibt ein nicht wirklich überzeugendes Lesegefühl bei mir zurück. Natürlich sind die literarischen Talente Ralf Rothmanns unbestritten, auch hier kann er wieder unvergleichlich gut die dumpfe Enge der Ruhrgebietsstube mitsamt ihres Gelsenkirchener Barock oder die warme, dampfige Atmosphäre eines Kuhstalls schildern. Seine Beschreibungen des Melkhandwerks sind derart plastisch, dass man nach der Lektüre selber das Handwerk halb erlernt zu haben meint. Auch sind die Figuren wieder wunderbar gelungen.

Und doch ist mir da zu viel Bekanntes und bereits Erzähltes, das Rothmann hier einfach noch einmal aufbereitet, als dass ich das Gefühl habe, ein frisches Buch zu lesen, das mir einen neuen Blick auf Rothmanns Kindheit und das Nachkriegs-Deutschland erlaubt. Steigt man in den Erzählkosmos von Ralf Rothmann frisch ein, dann ist das Buch sicherlich ein Gewinn. Für Rothmann-Kenner*innen hingegen fehlt das Neue, kommt der Autor doch nicht über eine Variation bekannter Themen und Bilder hinaus.


  • Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee
  • ISBN 978-3-518-43085-9 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Maggie Shipstead – Kreiseziehen

Einmal um die ganze Welt – oder fast. Maggie Shipstead begibt sich in ihrem neuen Roman Kreiseziehen auf die Spuren einer Weltumfliegerin, die beim Versuch, einmal die gesamte Weltkugel zu umkreisen, im Jahr 1950 verschwand. Jahrzehnte später werden die Pläne zur Verfilmung des Lebens der Pilotin konkreter – und zum Rettungsanker für einen strauchelnden Hollywoodstar.


Es ist ein monumentales Werk, das Maggie Shipstead mit Kreiseziehen (oder Great Circle, wie das Buch etwas eleganter im Original heißt) vorlegt. Beschränkte sie sich in ihren beiden zuvor erschienen Romane Leichte Turbulenzen bei erhöhter Strömungsgeschwindigkeit und Dich tanzen sehen auf Plots, die unter 450 Seiten blieben, so knackt sie diesmal diese Marke deutlich. Sage und schreibe über 860 Seiten umfasst der von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz ins Deutsche übertragene Roman, der durch seine Soghaftigkeit und das Erzähltalent Shipsteads besticht.

Der Wunsch zu fliegen

Inhaltlich dreht sich in Kreiseziehen (fast) alles um Marian Graves, die schon seit Kindesbeinen an der Wunsch zu Fliegen umtreibt. Zusammen mit ihrem Bruder Jamie wächst sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts nach einem Schiffsunglück bei ihrem Onkel auf, der in der Nähe von Missoula in Montana lebt.

MAggie Shipstead - Kreiseziehen (Cover)

Just an dem Tag, an dem Charles Lindbergh im Mai 1927 zum ersten Mal nonstop den Atlantik von New York in Richtung Paris überquert, macht Marian die Bekanntschaft mit den Brayfogles, einem schillernden Kunstfliegerpaar. Diese Begegnung lässt die schon seit jeher in Marian schlummernde Flugbegeisterung vollends ausbrechen. Um sich Flugstunden zu verdienen, steigt Marian ins Schmugglergeschäft ein und liefert während der Hochphase der Prohibition als Minderjährige Schwarzgebrannten im ganzen Hinterland von Montana aus, stets unbeirrbar mit dem Ziel einer Fliegerkarriere vor Augen.

Dabei macht sie auch die Bekanntschaft mit Barclay MacQueen, dem mächtigsten Prohibitionsgangster von ganz Montana. Für diesen bringt sie zunächst noch Alkohol per Flugzeug über die Grenze, ehe sie zu seiner Geliebten und später sogar zu seiner Ehefrau wird. Ihr Bruder Jamie hingegen strebt eine Karriere als Maler an, was er in Seattle umzusetzen versucht. Dabei macht er die Bekanntschaft einer jungen Dame aus gutem Hause, in die er sich unsterblich verliebt und die ihn nie wieder richtig loslassen wird.

Ein Hollywoodstar auf Spuren von Marian Graves

Verbunden wird diese Geschichte von Maggie Shipstead mit der Erzählung aus Sicht des Hollywoodstars Hadley Baxter, die aktuell in Ungnade gefallen ist, hat sie doch eine vom Boulevard genussvoll ausgeschlachtete Affäre, die so gar nicht mit dem von ihr verkörperten Star der Archangel-Franchise zusammenpassen will. Um sich zu rehabilitieren und weg vom Image des Kinderstars zu kommen, übernimmt sie in einem Filmprojekt die Rolle der Marian Graves, deren Schicksal sich in dem von Hadley spiegelt.

Denn während die flugverrückte Marian Graves beim Versuch einer Erdumrundung per Flugzeug in der Anatarktis verscholl und nur ein Tagebuch zurückließ, so sind auch Hadleys Eltern bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen. Stück für Stück erfährt man mehr vom unglaublichen Leben von Marian, während sich Hadley immer tiefer in das Leben der Fliegerin einarbeitet, um ihr bei ihrer Verkörperung nahezukommen.

Ein großartig unterhaltsamer Roman

Dabei gelingt Maggie Shiptstead mit Kreiseziehen einer der unterhaltsamsten Roman, die ich in letzter Zeit lesen durfte. Immer mal wieder mit leicht experimentellen Erzählansätzen arbeitenden, mit Raffungen, Sprüngen zwischen Marian, ihrem Bruder Jamie und Hadley in der Jetztzeit schafft sie ein mitreißendes, abwechslungsreiches, höchst farbiges und unterhaltsames Buch, das ich schon jetzt als heißen Kandidaten für die anstehende Geschenkesaison zu Weihnachten handle.

Kreiseziehen ist voller exotischer Schauplätze, die von Neuseeland bis in die Antarktis reichen. Komponiert ist das Ganze als großer Kreis, der sich nicht nur im (sehr spät im Buch stattfindenden) Erdumrundungsvorhaben erschöpft, sondern auch in der Konstruktion der Rahmenhandlung und den immer wieder auftauchenden Volten des Schicksals eingewebt ist. Immer wieder ergeben sich Bezüge zwischen den Figuren und ergeben schlussendlich ein – pardon – rundes Bild.

Maggie Shipstead vermag es, von der Magie des Fliegens ebenso eindringlich zu erzählen, wie von den existenziellen Entbehrungen in der Antarktis, dem Untergang des Schiffs Josephina Eterna oder dem Tagewerk der weiblichen Pilotinnen im Zweiten Weltkrieg. Sie kombiniert das Erzählen vom Set eines Filmdrehs mit der Zeit der Prohibition und den Nöten einer höchst unglücklichen Ehe, ohne dass man das Gefühl hat, dass ihr literarischer Kreis große Unwuchten hätte.

Die Bandbreite der Emotionen, Erlebnisse und Affekte ist in Kreiseziehen so unwahrscheinlich breit, dass es einem Wunder gleicht, dass Maggie Shipstead diese motivische Fülle gebändigt bekommt und darüber hinaus plausibel zu vermitteln weiß. Dabei kommt es zu keinem Zeitpunkt der 860 Seiten zu einem literarischen Strömungsabriss, vielmehr generiert die Autorin immer wieder Aufwind und weiß von ihren drei Hauptfiguren zu erzählen.

Diese große Unterhaltsamkeit und das stete Vorantreiben des Plots gleichen für mich auch den Punkt aus, den ich vielleicht als den schwächsten Punkt des Buchs identifiziert hätte, nämlich das ungleich verteilte Erzählgewicht in diesem Buch. Denn nicht nur in Sachen Screentime ist Hadley die Hauptfigur, die in Kreiseziehen das Nachsehen hat. Aber auch dieses potentielle Manko gleich Maggie Shipstead geschickt aus, indem sie sich in den erzählerischen Schlaglichtern aus der Gegenwart auf weniger, aber dafür aussagekräftige Momente fokussiert, die wieder eine Engführung mit dem Schicksal der ebenso unabhängigen und manchmal um Orientierung kämpfenden Marian erlauben.

Fazit

Kreiseziehen von Maggie Shipstead bringt alles mit, was einen grandiosen Unterhaltungsroman ausmacht: Makelloses Erzählhandwerk, ein überbordende Plot mit Ambition, ein Porträt zweier ganz unterschiedlicher und doch ähnlicher Frauen – und zu keiner Minute Langeweile. Auch wenn ihr Buch mit Überlänge ausgestattet sein mag, so lohnt sich das Durchhalten doch auf alle Fälle. Und speziell in der kommenden Winterzeit hat man doch mehr Zeit zum Lesen, was dieses Buch in meinen Augen zum unbedingten Geschenktipp macht.

Besprochen hat das Buch auch Constanze Matthes auf ihrem Blog Zeichen & Zeiten. Hier gehts zu ihrer Besprechung.


  • Maggie Shipstead – Kreiseziehen
  • Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susanne Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz
  • ISBN 978-3-423-29020-3 (dtv)
  • 861 Seiten. Preis: 28,00 €
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Sebastian Guhr – Chamissimo

Adelbert von Chamisso – war da nicht etwas? Vielleicht entsinnt sich manch einer noch des bekanntesten Werks des 1781 geborenen Autors, nämlich Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Vielleicht kramt man aus der Tiefe des eigenen Erinnerns noch den Adelbert von Chamisso-Preis hervor, der bis 2017 an Autor*innen nichtdeutscher Sprachherkunft verliehen wurde, etwa an Esther Kinsky oder Abbas Khider. Damit dürfte es dann aber alles gewesen sein, was man als durchschnittlich gebildeter Nicht-Germanist zu Chamisso beitragen kann.

Was für ein spannendes Leben Adelbert von Chamisso tatsächlich geführt hat, das zeigt der Berliner Autor Sebastian Guhr in seiner Romanbiografie Chamissimo, in der Fantasie und Wirklichkeit verschwimmen, ganz wie im Schaffen von Chamisso selbst.


Unstetigkeit, sie war Adelbert von Chamisso schon von Kindesbeinen an vertraut. So musste die Familie im Jahre 1971 vor den anrückenden napoleonischen Aufständischen aus ihrem Schloss in Frankreich fliehen. Chamisso kam nach Bayreuth und fand Anschluss am preußischen Hof, an dem er trotz Romanzen und Freundschaftsbünden mit Männern wie Eduard Hitzig oder Karl August Varnhagen (dem später Mann von Rahel Varnhagen), Außenseiter blieb.

Sebastian Guhr - Chamissimo (Cover)

Zwar nahm Chamisso am höfischen Leben teil, verliebte sich und trat 1798 als Kadett dem Infanterieregiment Ferdinand von Goetzes ein und versuchte sich als preußischer Soldat – so recht wollte dieses Leben aber nicht zu ihm passen.

Er lernte im Rahmen von Salons Berühmtheiten seiner Zeit kennen, darunter Wilhelm Humboldt, Ludwig „Turnvater“ Jahn oder E.T.A. Hoffmann, das Rezept für ein gelingendes Leben lieferten sie ihm aber alle nicht. Seine Schreibversuche blieben in der Welt zwischen Frankreich und Deutschland beschränkt – und erst die (imaginierte?) Episode der Begegnung Chamissos mit einem Mann, der ihn um seinen Schatten ersuchte, brachte die Wende im Leben des unsteten Poeten.

Trotz gegenteiliger Anweisung veröffentlichte ein Freund Chamissos die Erzählung des gestohlenen Schattens als Peter Schlehmils wundersame Geschichte – die fortan für Ruhm und Ehre sorgte. Doch auch dieser erzählerische Durchbruch sorgte nicht für Konstanz – und Chamisso heuerte an Bord des russischen Schiffs Rurik unter Leitung des Kapitäns Otto von Kotzebue als Titulargelehrter einer Expedition an, die ihn bis nach Brasilien, den Nordpol und Kamtschatka bringen sollte.

Dort wird er zum Robinson, entdeckt auf der Reise neue Algenarten – und doch bleibt die Unstetigkeit auch dort in seinem Leben ein treuer Begleiter.

Voller Zeit- und Literaturgeschichte

Adelbert von Chamisso - Porträt
Adelbert von Chamisso

Chamissimo ist ein Werk, das von Zeit- und Literaturgeschichte durchzogen ist. Seit den Kindertagen Chamissos, als er mit der Familie vor Napoleons Aufständischen fliehen muss, ist der korsische General ein Wegbegleiter, dessen Treiben immer wieder Auswirkungen auf Chamisso haben wird. Entzweigerissen zwischen seinem Herkunftsland und seiner neuen Heimat wird Chamisso ein unangepasster Mensch bleiben, der zwischen Frankreich, Preußen und Russland hin und hermäandert und nicht zur Ruhe kommt, weder geographisch noch psychisch.

Genauso unklar wie seine wirkliche Heimat und Identität ist auch sein Schreiben, dass durch die Begegnungen mit vielen Schriftstellerinnen geprägt wurde und das sich irgendwo zwischen Klassik (Jean Paul), Vormärz (Kotzebue), dunkle Romantik (E.T.A. Hoffmann) und der hellen Seite der Romantik verortet.

Schön, dass sich Sebastian Guhr hier entscheidet, die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion zu verwischen, indem er Chamissos erfolgreichstes Werk Peter Schlemihl auch auf Chamissos Leben selbst überträgt.

Ihm gelingt eine gut geschriebene und ebenso gut lesbare Romanbiographie, die in ihren Grundzügen etwas an Daniel Kehlmanns Die Vermessung der Welt oder an die Pfaueninsel von Thomas Hettche erinnert. Sehr zugänglich und mit dem kleinen literarischen Twist der Vermengung von Fakt und Fiktion ist ihm so ein Buch gelungen, das durchaus empfehlenswert ist.

Fazit

Mit der bewegten Lebensgeschichte von Adelbert von Chamisso hat Guhr ein ergiebiges Ausgangsmaterial gefunden, das unter seinen Händen zu einem gut lesbaren Roman wird, der Lust macht, sich auch mit den Werken von Chamissos eingehender zu beschäftigen. Bravissimo für Chamissimo!


  • Sebastian Guhr – Chamissimo
  • ISBN 978-3-7374-1199-8 (S. Marix-Verlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Lauren Groff – Matrix

Nein, mit den Spielfilmen der Wachowskis hat Lauren Groffs neuer Roman Matrix wirklich nichts zu tun, auch wenn das Cover mit seiner leicht psychedelischen Anmutung falsche Fährten setzt. Vielmehr hilft der Blick ins lateinische Wörterbuch, das für Matrix die Bedeutungen der Mutter, des Muttertiers und der Stammmutter ausweist. Alle diese Funktion nimmt in Groffs historischem Roman die Nonne Marie war, die zur Beginn des Hochmittelalters ein Kloster zur wirtschaftlicher Blüte führt und dem Patriachat den Kampf ansagt.


Mit diesem Roman ist Lauren Groff eine wirkliche Überraschung gelungen. Bislang waren ihre Romane im Bezugsrahmen der jüngeren amerikanischen Geschichte oder Gegenwart angesiedelt (etwa die Flower-Power- Ära in Arcadia oder die Gegenwart in Licht und Zorn) und spielten stets in Amerika (so zuletzt auch Groffs Kurzgeschichtensammlung Florida). Nun aber bricht sie mit diesen erzählerischen Gepflogenheiten vollständig.

Statt amerikanischer Gegenwart setzt Matrix nämlich im Jahr 1158 ein. Eleanore von Aquitanien verbannt Marie, eine uneheliche Schwester der Krone, und schickt sie in die Einöde nach England. Dort soll sie Priorin in einem darbenden Kloster werden und so möglichst vom Thron und ihrem bisherigen höchst annehmlichen Leben ferngehalten werden.

Sister, act!

Lauren Groff - Matrix (Cover)

Vor Ort stellt sich die Situation als katastrophal heraus. Zu Essen gibt es so gut wie nichts, Kälte und Entbehrung dominieren das Leben der wenigen Schwestern. Doch als Maries Sehnen nach der Heimat keinen Erfolg zeitigt, beschließt die junge Priorin in einem Akt der Selbstermächtigung, von nun an die Geschicke des Klosters in die eigenen Hände zu nehmen.

Beharrlich setzt sie auf neue Strategien, um das Leben der Schwestern annehmlicher zu gestalten. Vom benediktinischen Ideal des vita contemplativa hält Marie gar nichts, vielmehr strebt sie ein vita activa an.

Dabei schrickt sie auch vor Gewalt und Einschüchterung nicht zurück, um betrügerische Pachtbauern und unwillige Chorherren auf Linie zu bringen. Dank ihrer überragenden und wenig femininen Gestalt wird sie schon zu einem gefürchteten und bewunderten Mythos, der das Kloster zu neuer Blüte führt.

Sie verwandelt die Abtei in ein prosperierendes Refugium, in dem Männer keinen Zutritt haben. Visionen verheißen ihr neue Aufträge wie etwa ein riesiges Labyrinth oder ein Äbtisinnenhaus, das mit der Zeit entsteht. Doch wo Frauen Erfolge feiern und sich ihrer Privilegien zu gewiss sind, da wächst auch der Hass.

Sowohl Klerus als auch die Dorfbevölkerung blicken neidisch auf das Werk Maries, das diese mit ihren Nonnen immer wieder verteidigen muss, um ihr Kloster gegen missliebige Einflüsse und Gewalt von Außen zu schützen.

Eine moderne Geschichte in altem Gewand

Matrix ist eine moderne Geschichte im Gewand einer alten Erzählung. So sind die Themen, mit denen sich die Äbtissin Marie auseinandersetzen muss, heute genauso aktuell wie im Setting des Hochmittelalters, das Lauren Groff hier ausgewählt hat. Neid, Missgunst und die Gefahr von Männern, denen Frauen mit zu viel Einfluss und Erfolg ein Dorn im Auge sind, die von diesen lieber kleingehalten werden sollen, es sind die Themen, die in Maries Klosterwelt genauso wie in unserer Gegenwart präsent sind.

Schön, dass Groff in ihrer Selbstermächtigungsgeschichte aber nicht den Fehler einer Hagiographie Maries begeht. Ihre Äbtissin ist fehlerhaft, wenig heilig, kämpft mit Worten und Taten und biegt sich auch das Wort Gottes zurecht, um sich ihrer Widersacher oder Konkurrentinnen zu entledigen. Heilig ist an Marie häufig nichts – von ihrem Begehren bis hin zu ihrem Handeln. Das schafft das plastische Bild einer widerspenstigen und kreativen Frau, die als Denkerin und Managerin des Klosters geradezu einem BWL-Seminar über Produktivitätssteigerung entsprungen sein könnte oder die als Schutzheilige aller Betriebsprüfer eine gute Figur machen würde.

Mutter für die Priorinnen, Muttertiere als militante Beschützerin ihres Klosters und der Gemeinschaft von Frauen sowie Stammmutter, die für eine neue Form der Weiblichkeit steht und der das Fortleben ihres Klosters von höchster Bedeutung ist, all diese Facetten finden sich so im Wesen der Matrix Marie.

Auf den Spuren der Säulen der Erde

Mit diesem Buch rückt Lauren Groff dabei natürlich auch in die Nähe des Referenztitels, was historische Schmöker im mittelalterlichen Umfeld angeht, nämlich Ken Folletts Bestseller Die Säulen der Erde.

Was im Mittelalter-Roman des Briten der Bau einer Kathedrale auf englischem Boden war, ist bei Lauren Groffs Matrix der Ausbau des Klosters, der von einer zugigen Ruine mit einer verschreckten Schar Nonnen zu einem prosperierenden und einflussreichen Wirtschaftszentrum unter weiblicher Selbstverwaltung gerät.

Neben vielen erzählerischen Parallelen beider Bücher liegt natürlich aber auch eine entscheidende Frage auf der Hand: kann Lauren Groff dem Millionenseller von Follett literarisch die Stirn bieten?

Das ist zweifelsohne der Fall, denn wo bei Follett stereotype Figuren den Roman bevölkern, die sich ganz banal in Gut-Schlecht-Kategorien einsortieren und denen kaum Entwicklung zugestanden wird, so gerät die Sache bei Groff doch deutlich differenzierter und interessanter. Hier gibt es kein simples Schwarz und Weiß, sondern widersprüchliche Menschen, die das Leben im Kloster auch nicht vor Fehlern (oder meinetwegen Sünden) wie Hoffart, Lügen oder Mord schützt.

Das ist ausnehmend interessant erzählt und besticht trotz allem Drängen und Vorwärtsstreben Maries eben auch durch nuancierte Zeichnungen aller Figuren und Konflikte – was man bei Follett oftmals vergeblich sucht.

Fazit

Mit Matrix liefert Lauren Groff die feministische Antwort auf Ken Folletts Mittelalter-Schmöker Die Säulen der Erde – und überflügelt ihren Kollegen in meinen Augen deutlich. Ihre Beschreibung vom Kampf der Äbtissin Marie um Selbstständigkeit und den Erfolg des von ihr verwalteten Klosters besticht durch eine differenzierte Zeichnung ihrer Heldin, die sich mit einem Lob der feministischen Selbstermächtigung verbindet. Überraschend und überzeugend ist dieses Buch!


  • Lauren Groff – Matrix
  • Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs
  • ISBN 978-3-546-10037-3 (Claassen)
  • 320 Seiten. Preis: 24,00 €
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Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata

Alles kehrt irgendwann wieder. So tauchen vererbte Merkmale in verschiedenen Generationen immer wieder auf – und auch literarische Themen und Trends folgen den Gesetzen der Vererbungslehre, gerade wenn es um das Erzählmuster von Familiensagas geht. So sollte Leser*innen folgende Grundkonstellation bekannt vorkommen:

Ein abgeschiedenes Dorf in der Weite der Natur, verschiedene Generationen von Dorfeinwohner*innen, magische und übersinnliche Ereignisse, die in verschiedenen Generationen immer wieder auftauchen. Das sind nicht nur die Zutaten, die Gabriel García Márquez‚ für seinen Welterfolg Hundert Jahre Einsamkeit dienten. Auch in der italienischen Po-Ebene funktioniert das Erzählen mit diesen Ingredienzen, wie Daniela Raimondi in ihrem gute fünfzig Jahre nach Marquez‘ Welterfolg erschienenem Familien- und Generationenroman An den Ufern von Stellata zeigt.


Obschon wir uns bei Raimondi nicht im fiktiven Dörchen Macondo im unwegsamen Dschungel Lateinamerikas befinden – auch in der Region der Po-Ebene gibt es Dörfer, die der blühenden Fantasie von Gabriel García Márquez entsprungen sein könnten.

Es war ein Dorf mit wenigen Hundert Einwohnern, das zwischen der Straße und dem Fluss lag; ein armes Dorf, das allerdings einen so schönen Namen hatte, dass man glaubte, er sei erfunden. Denn abgesehen von seinem sternenfunkelnden Namen war an Stellata nur wenig Poetisches: eine Piazza mit Bogegengängen, ein bescheidenes Kirchlein aus dem vierzehnten Jahrhundert, zwei Trinkbrunnen sowie die Ruinen einer alten Festung gleich am Fluss.

Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata, S. 19

Dort, in der Po-Ebene, wo das Veneto, die Lombardei und die Emilia-Romagna aufeinandertreffen, liegt jenes Stellata, dessen Geschichte eng mit der der Familie Casadio verknüpft ist. Außerhalb des Ortes an einem kleinen Kanal befindet sich das Haus dieser Familie, die durch die Ankunft von fahrendem Volk zu Beginn des 19. Jahrhunderts gehörig durcheinandergewirbelt wird, wie der Prolog des Buchs erzählt.

Generationen von Casadios

Daniela Raimondi - An den Ufern von Stellata (Cover)

Der Sohn Giacomo, ein träumerischer und zugleich schwermütiger Mann, nimmt sich eine zingara namens Viocalla zur Ehefrau. Sie ist so ganz anders als die Frauen, die bislang das Geschick der Familie bestimmten, und bringt das eingefahrene und tradierte Weltbild der Familie Casadio gehörig ins Wanken. Neben ihrer ganz eigenen Weltsicht und ihren Gebräuchen ist auch das Tarot eine von den Casadios kritisch beäugte Methode, mit der Viocalla das Familienleben bereichert. Es dient ihr zur Vorhersage des Schicksals und um den Verlauf des eigenen und fremder Lebens zu deuten.

Dabei sieht Viocalla für die kommenden Generationen Unglück, ebenso wie Freuden und gedeihliches Auskommen voraus. Propehzeiungen, die sich tatsächlich bewahrheiten werden – und stets wird auch das Übersinnliche Begleiter von Generationen der Casadios sein. Mal ist es ein Schwein, das eine überlebenswichtige Rolle spielen wird. Mal können Abkommen der von Giacomo und Viocalla begründeten Dynastie mit den Toten reden. Mal folgen ihnen nach Heilungswundern Bienen.

Das erinnert an den magischen Realismus von Gabriel Garcia Marquez‘, drängt sich aber nicht in den Vordergrund von Daniela Raimondis Erzählung. Das Esoterische ist hier allenfalls schmückendes Beiwerk und sollte niemanden von der Lektüre abschrecken, allzu stimmig binden sich diese Elemente in das Gesamtwerk ein und passen ganz wunderbar zu Milieu und Ton dieses Romans.

Generationen wie Wellen

Mit den Ufern von Stellata hat die Autorin ein schönes titelgebendes Bild gefunden, denn hier sind die verschiedenen Generationen Casadios die Wellen, die ans Ufer von Stellata schlagen. Mögen sie sich auch von der Heimat entfernen, in Kriege ziehen oder auf brasilianischen Plantagen ihr Glück suchen, irgendwann kommen sie alle wieder nach Stellata zurück und finden dort ihr Glück – oder auch nicht.

Fünf Generationen sind es, die den erzählerischen Bogen vom Jahr 1800 bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen. Generationen voller unterschiedlicher Menschen, die mal von ihrem Charakter und Wesen nach der Patriarchin Viocalla kommen, mal sind es die Gene des schwermütigen Giacomo, die sich in einem Familienzweig durchsetzen. Raimondi gelingt es, das alles abwechslungsreich und mitreißend zu schildern. Und auch wenn man bei einer Länge von über 500 Seiten befürchten könnte, dass der Spannungsbogen irgendwann bricht oder sich mit einer weiteren Generation Casadios so etwas wie Langeweile oder Ermattung einstellen könnte – allein: es passiert nicht.

Geschickt variiert Raimondi ihre Generationenporträts, die sich immer wieder überlappen und in den jede Menge Zeitgeschichte steckt. Die einschneidenden Erlebnisse des Ersten und Zweiten Weltkriegs, der Freiheitskampf Garibaldis oder die Auswanderungsbewegungen, etwa wenn Teile der Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Schweiz abwandern, weil auf dem flachen Land kaum mehr ein Auskommen ist. All das vermittelt fügt sich organisch in den erzählerischen Bogen ein und ergibt ein – wenngleich ich das Wort eigentlich nicht mag – absolut süffiges Leseerlebnis.

Fazit

Daniela Raimondi erschafft hier einen ganz großen Bilderbogen, der in der Tradition des Magischen Realismus von Gabriel Garcia MarquezHundert Jahre Einsamkeit steht. Sie erzählt über fünf Generationen hinweg von 170 Jahren Krieg und Frieden, Not und Leid, Glück und Erfüllung. Ihr gelingt eine abwechslungsreiche Familiensaga, die über die gesamte Länge von 500 Seiten trägt und die ebenso stimmig von Zeitgeschichte, wie von Übersinnlichem, von Liebe und familiären Zusammenhalt erzählt. Ein großer Schmöker aus Italien, der hier zu entdecken ist.


  • Daniela Raimondi – An den Ufern von Stellata
  • Aus dem Italienischen von Judith Schwaab
  • ISBN 978-3-550-20176-9 (Ullstein)
  • 512 Seiten. Preis: 23,99 €
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