Category Archives: Historischer Roman

Christine Dwyer Hickey – Schmales Land

Nachkiegszeit auf Cape Cod. Sommerliche Strände, zwei Jungs ohne Vater und nebenan der berühmte Maler Mister Aitch alias Edward Hopper und dessen Frau, die sich selber auf einigen Schlachtfeldern gegenüberstehen. Schmales Land von Christine Dwyer Hickey.


Künstlerromane, in denen sich unbedarfte Kinder oder Jugendliche legendären Künstlern nähern, gibt es wie Sand am Meer. Robert Seethaler ließ in Der letzte Satz einen jungen Schiffssteward auf Gustav Mahler treffen, Jonathan Coe brachte in Mr. Wilder & ich eine junge Athenerin in die Nähe von Billy Wilder. Meist ist den jungen Figuren dabei eine gewisse Farblosigkeit zueigen, sollen sie doch nur als unbedarfte Stichwortgeber für die biographischen Bögen fungieren, die den Autor*innen bei ihren Künstlerromanen eigentlich im Sinne steht.

Bei den Figuren von Christine Dwyer Hickey liegt die Sache etwas anders, denn der irischen Autorin ist nicht daran gelegen, die Romanbiographie von Edward Hopper, neben Norman Rockwell wohl der prägendste amerikanische Maler des Realismus, vorzulegen. Im Gegenteil. In Schmales Land erfährt man so gut wie nichts über den Werdegang jenes Mannes, der von seinen Nachbar*innen ehrfurchtsvoll raunend nach der Initiale seines Nachnamens nur Mister Aitch gerufen wird. Er ist neben seiner Frau und dem jungen Michael Novak ein gleichwertiges Mitglied des Erzähltrios, das Christine Dwyer Hickey in ihrem herben Roman in den Mittelpunkt stellt.

Michael, Mr. und Mrs. Aitch

Dabei beginnt alles mit dem zehnjährigen Michael, der als Waise vor den Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs von Deutschland nach Amerika verschickt wurde und sich jetzt in der Betreuung von Frau Aunt befindet, wie Michael seine neue Aufsichtsperson nennt. Schon einmal sollte er an die Küste von Massachusetts geschickt werden, damals weigerte sich der Junge rundheraus. Nun, zwei Jahre später, geht es mit dem Zug für ihn in Richtung Cape Cod ins Haus der Kaplans, wo drei Generationen unter einem Dach wohnen.

Christine Dwyer-Hickey - Schmales Land (Cover)

Neben der Großmutter Mrs. Kaplan wohnt auch ihre Tochter mit ihrem Sohn Richie dort vor Ort. Der Vater des Jungen ist ebenfalls im Krieg geblieben und so engagiert sich jetzt vor allem die Älteste der Kaplans für die Waisenfonds. Dort im Haus soll Michael einen Sommer verbringen und auch im Kontakt mit Richie auf andere Gedanken kommen. Doch so ganz mag das mit dem Anschluss zunächst nicht klappen. Michael ist mehr als scheu und zieht sich immer wieder zurück.

Der erste wirkliche Kontakt gelingt ihm ausgerechnet zu Mrs. Aitch, die er in deren Buick im nahegelegenen Städtchen Orleans beobachtet. Ihr Mann, der berühmte Maler, ist wieder einmal ohne sie losgezogen, um Skizzen anzufertigen. Seine Frau hat er im Auto zurückgelassen, wo Michael zufällig die Bekanntschaft mit ihr macht.

Eine komplizierte Künstlerehe

In der Folge fasst Michael zaghaft Vertrauen insbesondere zu Mrs. Aitch, wohingegen ihr Mann ihm immer noch Respekt einflößt. Häufig besucht er das Künstlerpaar und sorgt insbesondere für Mrs. Aitch für Abwechslung.

Denn die Ehe, die sie und ihr Mann, der berühmte Edward Hopper, führen, ist alles andere als glücklich. So zeichnet Mister Aitch als Beigabe zum Scheck für seine Schwester schon einmal eine Skizze mit seiner Frau und ihm im Boxring. Sie legt Streifen mit der Botschaft „Ich hasse ihn“ auf dem Küchentisch aus. Dauernd schwankt die kinderlose Beziehung zwischen der Suche nach Nähe und Abstoßung, Misstrauen und den Kampf um künstlerische Eigenständigkeit.

Vor allem Hoppers Frau leidet unter der Tatsache, dass sie ihre eigene künstlerische Karriere für ihren Mann auf Eis gelegt hat. Will sie auf eigene künstlerische Ambitionen hinweisen, wird ihr das von ihrem Umfeld schnell krummgenommen, etwa auf einer sommerlichen Party, die im Hause der Kaplans zum bevorstehenden Ende des Sommers am Labor Day gegeben wird. In dieser unbefriedigenden Situation ist Michael ein gutes Ventil für allen Zwist der Künstlerehe – und auch der Junge profitiert von der Bekanntschaft mit den Maler*innen.

Kein klassischer Künstlerroman

Das Schöne an Schmales Land ist die Tatsache, dass Christine Dwyer Hickey eben keinen klassischen Künstlerroman über die Hoppers geschrieben hat. Der Werdegang, die Werke, all das spielt hier so gut wie keine Rolle. Vielmehr interessiert sich die irische Autorin für die Kämpfe um künstlerische Souveränität und nimmt das widersprüchliche Eheleben der Hoppers genauso in den Blick, wie sie auch von der Traumatisierung des jungen Michael erzählt.

Alle Figuren agieren hier auf Augenhöhe und bekommen den gleichen Platz und das gleiche ehrliche Interesse der Autorin, woraus ein Roman erwächst, der ein ebenbürtiges Trio dreier ganz unterschiedlicher Menschen in den Mittelpunkt stellt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein rauer und wenig gefälliger Roman über Menschen und ihre erlittenen Versehrungen, über einen langen Sommer, der aber nur wenig Idylle birgt und über eine Gesellschaft, der die Männer abhanden gekommen sind (sind doch wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs hier schon wieder Soldaten in Uniform unterwegs, die diesmal aber an die Front in Korea geschickt werden).

Fazit

Schmales Land ist ein fein nuanciertes Bild einer Künstlerehe, die eher Kampf denn Miteinander war, und das Bild eines Sommers, der zu keinem Zeitpunkt ganz unbeschwert ist und über dem die Ahnung eines Verlustes schwebt. Christine Dwyer Hickey gelingt ein herber Roman, der die Stimmung dort auf Cape Cod Anfang der 50er Jahre treffend einfängt und der von Uda Strätling ins Deutsche übertragen wurde.


  • Christine Dwyer Hickey – Schmales Land
  • Aus dem Englischen von Uda Strätling
  • ISBN 978-3-293-00594-5 (Unionsverlag)
  • 416 Seiten. Preis: 26,00 €
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Paul Zifferer – Die Kaiserstadt

Ein Mann kehrt aus dem Krieg zurück nach Wien – und sucht nach seinem Platz in der Gesellschaft und der eigenen Ehe. Die Kaiserstadt von Paul Zifferer ist eine echte Wiederentdeckung und auch genau 100 Jahre nach Erscheinen noch höchst lesenswert.


Seine Heimatstadt Wien erkennt Toni Muhr kaum, als er am 30. November 1916 den Fuß auf heimischen Boden setzt.

Toni Muhr erinnerte sich später nicht mehr, wie er vom Westbahnhof auf den Neuen Markt geraten war. Er fühlte Müdigkeit und Schwere in allen Gliedern und hatte nur den einen Wunsch, so schnell als möglich nach Hause zu gelangen.

Paul Zifferer, Die Kaiserstadt, S. 7

Denn statt dem wohlgeordneten Leben auf den Plätzen und Gassen der Hauptstadt des Kaiserreichs herrscht in der ganzen Stadt Gedränge und eine Stimmung zwischen Euphorie und Trauer. Denn zeitgleich mit der Ankunft Toni Muhrs in der Stadt wird der greise Kaiser Franz Joseph I. zu Grabe getragen.

Nach einer 68 Jahre währenden Regentschaft ist der Habsburgische Kaiser verstorben und mit ihm kurz darauf auch die Monarchie in Österreich. Doch davon ist an jenem 30. November noch nichts zu merken. Vielmehr will jeder noch einmal einen Blick auf den Toten erhaschen – und auch Toni Muhr sieht den Leichenzug passieren, ehe Franz Joseph I. dann in der Kaisergruft der Kapuzinerkirche zur letzten Ruhe gebettet wird.

Rückkehr nach Hause

Aufgehalten vom Leichenzug drängt es den jungen Mann allerdings vielmehr nach Hause, das er seit Kriegsbeginn nicht mehr gesehen hat. Denn er geriet als abgeordneter Soldat im Ersten Weltkrieg in serbische Kriegsgefangenschaft, während der für die österreichisch-ungarischen Truppen kämpfte.

Paul Zifferer - Die Kaiserstadt (Cover)

Traumatisiert von den Erlebnissen, von Hunger und Entbehrung kehrt er nun heim und freut sich auf sein Zuhause in der Stallburggasse. Dort findet er in seiner Atelierwohnung aber schon wieder Ungewohntes vor. Denn statt seiner Gattin Lauretta, der er aus dem Felde noch Briefe schrieb, ist nur das Hausmädchen Poldi anwesend. Seine Gattin ist unterwegs – und wird ihm später ganz unbeschwert und scheinbar unbeeindruckt unter die Augen treten.

Während seiner Abwesenheit hat sie, die einer Familie mit guten Verbindungen entstammt, weiter auf dem gesellschaftlichen Parkett der Haupstadt verkehrt und lässt sich auch durch die Rückkehr ihres Gatten nur wenig aus dem Konzept bringen.

Toni Muhr fühlt sich eher wie ein Gast im eigenen Haus – und wird durch ein weiteres Vorkommnis zudem noch mehr aus der Bahn geworfen. Denn seine Forschungen zur Anwendung für Tierkohle, an der er vor dem Ausbruch des Krieges im Privaten forschte und seinen Vorgesetzten zum Patent vorschlug, sind aus seiner Studierstube verschwunden. Kurze Zeit darauf später erfährt er, dass diese Forschungen inzwischen zu einem Kriegspatent durch seinen Arbeitgeber, die Chemiefabrik der Brüder Katlein, eingereicht und zur Marktreife gebracht wurden.

Kohlhaas in Austria

In Toni Muhr erwacht der Geist der Rebellion und er beschließt auch mithilfe seines Schwagers Rudi Saluzzo, sich zu wehren. In der Folge wird er zu einer Art österreichischem Kohlhaas, der für die Anerkennung und Auszahlung seiner Forschungsarbeit eintritt und später sogar einen Prozess gegen die Chemiefabrikanten Katleins anstrengt.

Doch dabei rennt Toni Muhr immer wieder gegen unsichtbare Schranken und wittert eine Verschwörung. Hat ihn seine Gattin Lauretta hinter seinem Rücken betrogen und gemeinsame Sache mit den Katleins gemacht? Haben diese in der Stadt überall an entscheidenden Stellen Kontakte, mit der sie den Kampf Muhr um Wiederherstellung seines Rufs und seiner Ehre hintertreiben? Mithilfe von Rudi Saluzzo und der gewieften Fürstin Lubecka, zu der er auch in Liebe entflammt, versucht er auf verschiedenen Wegen, Gerechtigkeit zu erlangen und die Katleins zu einer Anerkennung seiner Leistung zu zwingen.

Paul Zifferer schildert in Die Kaiserstadt ein Wien im Umbruch. Der alte Kaiser ist tot und damit auch die Gewissheit einer ruhigen Regentschaft, in der alle Menschen um ihren Platz in der Gesellschaft wussten. Die Reste dieses Standesbewusstseins lassen sich im Roman des österreichischen Journalisten und Übersetzers genauso besichtigen wie die neue Welt, die durch die normative Kraft des Kriegs geschaffen wurde. Kriegswirtschaft, sozialer Abstieg und neue Netzwerke im Bürgertum beschreibt Die Kaiserstadt genauso, wie es auch das alte, königlich und kaiserliche Wien vermisst.

Denn bei seinem Kampf um Gerechtigkeit begibt sich Toni Muhr in die Hände der gewieften Gräfin, von deren Palais aus er auf eine nicht immer wirklich vorhersehbare Tour für die Wiederherstellung seiner eigenen Reputation geschickt wird. So besucht er Minister während Debatten im Paralament, wird dem Erzherzog bei einem Hauskonzert vorgestellt, wird in Redaktionsstuben vorstellig und begibt sich sogar bis ins Heurigen-Viertel nach Grinzing, wo er die Buschenschänke seines Vaters, eines Weinbauern zu Heurigen- und Wienerliedern besucht.

Das Porträt einer Gesellschaft im Umbruch

So ist Die Kaiserstadt zugleich genau angelegtes Porträt der alten Wiener Gesellschaft, genauso wie über dem ganzen Text schon die Ahnung einer neuen Welten- und Gesellschaftsordnung liegt. Paul Zifferer erweist sich als genauer Chronist dieses Wiens, das er stimmungsvoll und durchaus auch komisch einzufangen weiß. Sein Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Kämpfe seiner Heldinnen und die Anpassungen an die Zeit und Umstände jener Zeit des Ersten Weltkriegs haben nichts von ihrer Schärfe und Prägnanz verloren, auch wenn diese durch die gehobene und manchmal schon etwas antiquierte Sprache das auf den ersten Blick verstellen mag.

Aber auch wenn hier noch Münder zum Kusse gereicht werden und das Haar falb schimmert, so ist Die Kaiserstadt doch ein großartiger Lesegenuss, der als echte Wiederentdeckung gefeiert werden muss und die uns einen genauen Blick auf die österreichische beziehungsweise wienerische Gesellschaft vor hundert Jahren erlaubt (die dabei aber auch – ganz Chronist- alle zeittypischen Zwischentöne enthält, so auch Antisemitismus, der sich im Hass Toni Muhrs auf die jüdischen Fabrikanten Katlein äußert. Auch das sollte an dieser Stelle Erwähnung finden).

Und gleich erklärte er: „Ein Erfolg wie der Ihre, ist für uns alle wichtig. Sie sind nämlich“ – der Abgeordnete lächelte – „Etwas ganz Rares hierzulande… so eine Art wienerischer Kohlhaas.“

Toni Muhr wehrte ab: „Man hat mir das schon einmal gesagt“, entgegnete er, „aber ich glaube nicht, dasse s gut ist, als Michael Kohlhaas durch die Welt zu rennen, oder besser, ich glaube es nicht mehr. Und seien wir nur aufrichtig – ein wienerischer Kohlhaas ist ein Ding wider die Natur: Er muss im Jammer enden… Sehen Sie“, schloss Toni Muhr bitter, „der wirkliche Kohlhaas stirbt durch Henkershand, doch seine beiden Rappen, auf die es ihm ankam, an denen seiner Seele Seligkeit hin, werden dickgefüttert. Sein wienerischer Vetter kann sogar Amtmann werden, vorausgesetzt, dass er zum Postmeister taugt, die armen Pferde aber verrecken.“

Paul Zifferer – Die Kaiserstadt, S. 358

Die Wiederentdeckung eines Vergessenen

Gleich zwei Nachworte sind es, die Die Kaiserstadt flankieren und das Leben von Paul Zifferer einordnen. Während sich Rainer Moritz inhaltlich dem 1923 publizierten Roman nähert, widmet sich Katharina Prager in ihrem Nachwort dem Werk und dem Leben Paul Zifferes.

Sie zeichnet darin das Bild eines Mannes, der sich mit den gehobenen Kreisen Wiens gut zu vernetzen wusste und der sich mit seinem journalistischen und übersetzerischen Wirken, als Diplomat und später auch als Presseattaché zeitlebens für die österreichisch-französische Völkerfreundschaft einsetzte.

Doch auch wenn seine Beschäftigung mit der Literatur Frankreichs sein Schreiben beeinflusst haben mag und die Presse der Alpenrepublik bei Erscheinen Der Kaiserstadt Zifferer als eine Art österreichischen Balzac pries: seine Bekanntschaft mit Hugo von Hoffmannsthal oder Arthur Schnitzler bewahrte ihn jedoch auch nicht vor scharfen Urteilen, das Arthur Schnitzler wie folgt in seinem Tagebuch notierte:

Las Ziffereres Roman „Kaiserstadt“. Wie man, ohne jede wirkliche Begabung, einen durchaus correcten Roman schreiben kann. (Und in wenigen Jahren wird er unlesbar sein.)

Arthur Schnitzlicher in seinem Tagebuch 1923

Ein Urteil, das man dank des editorischen Bemühens des Reclam-Verlags nun aber auch hundert Jahre nach Erscheinen mühelos entkräften kann. Denn dieser Roman ist wirklich mehr als lesbar und vor allem lesenswert. Eine echte Wiederentdeckung, die nichts von ihrer Frische und Präzision verloren hat!


  • Paul Zifferer – Die Kaiserstadt
  • Mit Nachworten von Katharina Prager und Rainer Moritz
  • ISBN 978-3-15-011443-8 (Reclam)
  • 396 Seiten. Preis: 28,00 €
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Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume

In letzter Zeit hat es sich Jean-Christophe Grangé etwas leicht gemacht. Was in den vergangenen beiden Jahren unter dem Titel Die letzte Jagd (2021) und Tag der Asche (2022) erschien, waren nur auf den ersten Blick neue Romane des französischen Thriller-Großmeisters. In Wahrheit handelte es sich „nur“ um in Romanform umgearbeitete Drehbücher, die bereits als Filme im Rahmen der Reihe Die purpurnen Flüsse zu sehen waren, zu denen Grangé die Drehbücher verfasste.

Nun liegt mit Die marmornen Träume wieder ein originärer Thriller vor, mit dem Grangé zum ersten Mal historisches Terrain betritt, und zwar nicht irgendeines. Vielmehr wählt er sich wie seine Kollegen Philipp Kerr oder Volker Kutscher das Dritte Reich als Kulisse seines Thrillers. Ein gewagter Entschluss, wie ihn in dieser schriftstellerischen Konsequenz hier vielleicht auch nur ein Nicht-Deutscher schreiben kann, handelt es sich doch um vermintes Gebiet, das viele Fallstricke bereithalten kann.

Die Morde an den Adlondamen

Tatsächlich macht es sich Grangé auch nicht leicht, indem er einen Widerstandskämpfer oder Opponenten des Systems zur handelnden Figur macht. Sein Protagonist Simon Kraus ist ein wirklicher Opportunist, der sich im Dritten Reich an den sogenannten „Adlondamen“ schadlos hält.

Diese Adlondamen treffen sich Nachmittag für Nachmittag im legendären Luxushotel und geben sich auch in Simons Praxis in der Nähe des Potsdamer Platzes die Klinke in die Hand. Er analysiert, erpresst und verführt die Damen reihenweise, die allesamt beste Verbindungen zur Elite der Nationalsozialisten haben.

Kraus genießt dieses riskante Spiel, ist die Psychoanalyse den Nationalsozialisten alleine schon aufgrund ihres jüdischen Begründers Sigmund Freud ein Dorn im Auge. Aber durch seine Beziehungen zu den Adlondamen und seinem umfangreichen Kompromats, das er in seiner Praxis gesammelt hat, fühlt sich Kraus sicher und spielt – auch verleitet durch sein im Gegensatz zu seinem Körperwuchs wahrlich nicht kleines Ego – ein riskantes Spiel.

Jene Verbindung zu den Adlondamen ist es, die ihn in den Fokus des SS-Hauptsturmbannführeres Franz Beewen geraten lässt. Dieser wird von seinen Vorgesetzten mit der Aufklärung eines brutalen Mordes an einer ebenjener Adlondamen betraut, mit der Simon Kraus eine Affäre pflegte. Die Frau selbst hat man brutal ausgeweidet und ohne ihre Schuhe auf der Museumsinsel in Berlin gefunden. Die erfolgversprechendste Spur scheint die eines rätselhaften Marmormannes zu sein, der der Dame kurz vor ihrem Tod im Schlaf erschien.

Auf der Jagd nach dem Marmormann

Jean-Christophe Grangé - Die marmornen Träume (Cover)

Bei diesem Mord wird es nicht bleiben. Im Bereich des Tiergartens und im Bereich des Bärenzwingers im Köllnischen Park in Berlin findet die Polizei weitere Leichen. Auch sie waren Teil der Adlondamen und pflegten mit Simon eine Affäre. Und auch sie berichteten beide von jenem Mamormann, der ihnen in den Träumen erschien.

Nachdem es so etwas wie Serienmörder in einem durchgeregelten Reich wie dem der Nationalsozialisten nicht geben darf, insbesondere, wenn sich dieser an der Haute volée des Dritten Reichs vergeht, muss der an Ptosis leidende Beewen nun also liefern und den Mörder zur Strecke bringen. Dafür tut er sich mit Simon zusammen, der überzeugt ist, den Mörder durch das Unterbewusstsein seiner Patientinnen zu finden.

Verstärkung finden sie durch die Dritte im Bunde, die adlige Analytikerin Minna von Hassel, die vor den Toren Berlins die Nervenheilanstalt Brangbo leitet, wo zahlreiche Opfer des Ersten Weltkriegs behandelt werden. Sie findet in den Unterlagen zu ihrer Forschung eines erste erfolgsversprechende Spur, die sie zur Identität des Marmormannes führen könnte.

Ein typischer Grangé

Die marmornen Träume ist ein typischer Roman von Jean-Christophe Grangé, der alle Elemente aufweist, die die Thriller des Franzosen so besonders machen. Da ist zunächst die überbordende Fantasie, die sich nicht nur in der Länge des Buchs von fast siebenhundert Seiten niederschlägt. Höchst detailliert lässt er das Berlin des Jahres 1939 wieder auferstehen. Von den letzten queeren Clubs am Nollendorfplatz über die Filmstudios Potsdam-Babelsberg bis hin zu den Kellern der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße 8 oder dem Kriegsinvalidenaufmarsch vor dem Rathaus Reinickendorf spannt Grangé seinen Bogen, der das architektonische Berlin seiner Zeit genauso wie die damaligen (Sub-)Kulturen noch einmal auferstehen lässt.

Nun bin ich weder Fachmann für die Historie des Dritten Reichs, noch für die Berliner Stadtgeschichte – die große Detailtiefe und Beschreibungskraft von Jean-Christophe Grangés Noir-Fantasie von Film über Kunst bis hin zu Abläufen innerhalb des SS-Apparats fällt hier aber wirklich ins Auge (wozu ich persönlich gerne auch weitere Informationen über Recherche oder Quellen für seine Arbeit erhalten hätte. Hier aber schweigt sich der Autor aus und gönnt dem Roman noch nicht einmal eine Danksagung.)

Kreativität und Brutalität

Typisch ist dieser Grangé neben aller Detailtiefe und Fantasie aber auch wieder in Sachen Brutalität. Der Mörder, der die Bäuche seiner Opfer ausweidet. Die Pogrome, die Gewalt gegen Sinti und Roma, Menschen mit geistiger Behinderung und die Brutalität der Ermittlungen schildert Grangé detailliert und manchmal geradezu voyeuristisch. Immer wieder blitzt diese Gewalt in die Ermittlungen hinein, verstört und lässt zurückzucken. Übertrieben ist dies alles allerdings leider nicht, blickt man etwa auf die Forschungen Josef Mengeles, der hier im Buch einen ziemlich deutlichen Doppelgänger erhält, dem allerdings ein anderes Ende als dem historischen Vorbild beschieden ist.

Wer die Grangé-typische Gewalt und das Setting abkann, das hier deutlich mehr als nur Kulisse, sondern vitaler Teil dieses Buchs ist, der bekommt einen hochspannenden Roman zu lesen, bei dem nicht nur erfahrenen Krimileser*innen schwanen dürfte, dass mit der Unschädlichmachung des Täters etwa in der Mitte dieses Thrillers die Tätersuche natürlich noch lange nicht abgeschlossen ist, wenngleich man darüber streiten kann, ob es den Epilog mit seiner letzten Wendung oder manch comcihaften und überzeichneten Zug seiner Figuren dann unbedingt noch gebraucht hätte.

Fazit

So oder so gelingt es Jean-Christophe Grangé mit diesem düsteren Ausflug in die Historie, in Sachen Kreativität, Ambition und erzählerischem Sog an Glanztaten vergangener Tage wie etwa die Kongo-Dilogie (Purpurne Rache und Schwarzes Requiem) oder Das Herz der Finsternis anzuknüpfen. Sein gewaltgesättigter Thriller, in dem die Brutalität immer wieder durchblitzt, ist wirklich schmutzig und Noir pur.

In Die marmornen Träume inszeniert ein düsteres Berlin, das hier zu keinem Zeitpunkt wie ein Kulissenfilm wirkt, vielmehr gelingt es ihm, die Stadt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und mitsamt unzähliger Schauplätze zum Leben zu erwecken. Dabei schreckt er auch nicht vor der Wahl von SS-Hauptsturmführer oder Anstaltsleiterin als erzählerischen Figuren zurück. Eine Gratwanderung, die man Grangé als als Franzose sicherlich eher nachsieht als deutschen Autor*innen.

Für mich funktioniert die Mischung, die mich in ihrer ganzen Opulenz, Spannung, Komplexität, Brutalität und Zeitkolorit sehr eingenommen hat. Zudem bin ich wirklich interessiert, ob und mit welchen Ansätzen dieser Thriller hier am Schauplatz und Täterland diskutiert werden wird. Man darf gespannt sein.


  • Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume
  • Aus dem Französischen von Ina Böhme
  • ISBN 978-3-608-50171-1 (Tropen)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €
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Akiz – Die Königin der Frösche

Märchen, ein Fall für Kinder? Mitnichten, wie der Schriftsteller Achim Bornhak alias AKIZ in seinem Roman zeigt. Nach der Welt der Küche und Spitzengastronomie wendet er sich nun in Die Königin der Frösche dem Märchen des Froschkönigs zu und interpretiert es deutlich düsterer, als man es aus seiner Kindheit noch in Erinnerung haben dürfte.


Der Froschkönig, war das nicht dieses Märchen mit dem Mädchen, dem beim Spielen die goldene Kugel in den Teich fiel und dann einen Frosch als Entlohnung der Kugelrettung küsste, der sich anschließend in einen Prinz verwandelte? In AKIZ‘ Version ist das Ganze deutlich dunkler und weitab von Disney- oder Märchenstundenromantik. Bei ihm befinden wir uns im Erlensteiner Tal, wohin Friedrich von Waidhofenstein mit Gefolge reist.

Im düsteren Erlensteiner Tal

AKIZ - Die Königin der Frösche (Cover)

Wir schreiben das Jahr 1799, die letzten Tage des Jahrhunderts sind angebrochen, das 19. Jahrhundert, es steht bereits an der Schwelle. Doch dort im Erlensteiner Tal wirkt noch vieles wie aus dem Mittelalter, spätestens wenn die Kutsche des Fürsten einfährt, um in der Burg des Herzogs auf Brautschau zu gehen. Dort will er die junge Ragna freien, die Tochter des dortigen Herzogs. Sie ist es, die er als potentielle Braut für den Geschlecht derer von von Waidhofenstein ausersehen hat.

Der Vater des Fürsten liegt im Sterben und erwartet einen Erben, den ihm nun endlich sein Sohn schenken soll. Die anderen beiden Schwestern von Ragna scheiden als Bräute aus (zu dick beziehungsweise zu alt, so die Ansicht der Beteiligten). Und so liegt es an der grazilen Ragna, sich mit dem Fürsten zu vermählen. Doch bis dies soweit ist, geschieht Entscheidendes, das AKIZ gleich an den Beginn seines Romans setzt.

Denn nach einer Art Ohnmachtsanfall erlebt die junge Ragna eine wundersame Szene. Sie sieht sich in einer Szene an einem Waldteich, wo sie sich einem Tempel voller Kröten nähert. Eine Kröte dort am Teich springt nicht davon, vielmehr nähern sich die beiden an. Ragna küsst diese, ehe sie aus ihrer Umnachtung wieder erwacht.

Der Mann aus dem Forst

Was ein Traum hätte bleiben können, bekommt plötzlich doch eine beunruhigende Entsprechung im echten Leben, als dort am Herzogshof ein wilder Mann aus dem Forst aufgetrieben wird, der wie ein Bruder von Kaspar Hauser wirkt. Sprechen kann er nicht, der Körper und der Hals sind verformt, die Umgangsformen quasi nonexistent. Das macht ihn zum interessanten Versuchsobjekt für den verwöhnten und gelangweilten Friedrich von Waidhofenstein, der den jungen Mann bis zum anstehenden Andreastag dressieren und bilden will. An diesem Tag der Jagd will er einen „normalen“ Menschen präsentieren, der an der traditionellen Jagd des Fürstengefolges teilnehmen soll.

Während der verwirrte junge Mann vom Fürstensohn malträtiert wird, fühlt sich Ragna auf seltsame Art und Weise zu dem Unbekannten aus dem Wald hingezogen, spätestens als sie sich am Brunnen der Burg begegnen.

Doch als ich am Brunnen saß, alleine, nur wenige Ellen von dem Jungen entfernt, und er mich anstarrte, als hätte er Witterung aufgenommen, da war mir mit einem Male ein wenig ungeheuerlich zumute, doch gleichwohl aufregend und geradezu so, als würden Ameisen durch meinen Geist krabbeln.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 96

Animalische Verwandlungen

Doch nicht nur in Sachen des jungen Mannes unbekannter Herkunft bemerkt Ragna eine Veränderung ihrer Gedanken und Überlegungen. Auch an sich selbst entdeckt sie neue Facetten. So wecken wie einst in Bram Stokers Dracula beim Charakter Renfield nun auch bei ihr Insekten einen ganz besonderen Appetit, zum Erschrecken ihres Umfelds.

Doch gleichwohl scheint es dem Fürsten gänzlich entgangen zu sein, dass die herzogliche Infantin ihrerseits immer ungezähmter wirkt. Neulich, da habe ich sie gesehen, wie sie ein Insektengetier mit ihren Fingern gefangen und es sich in den Mund gesteckt hat, als wäre der Teufel in sie gefahren, geliebtes Lottchen, stell dir das vor. Dem Fürsten habe ich aber nichts erzählt, zu sehr hätte es ihn aus der Fassung gebracht, und was ist es meine Angelegenheit, ihn darauf aufmerksam zu machen, was für ein gottloses Gör er sich mit der herzoglichen Tochter einzuhandeln droht.

Akiz – Die Königin der Frösche, S. 124

Multiperspektivisch erzählt Akiz in Briefen und Niederschriften von der Wandlung Ragnas hin zu einer zunehmend von der Naturwelt des Waldes und dem unbekannten Wilden angezogenen Frau. Während sie immer animalischer wird, versucht der Fürstensohn in einer gegenläufigen Bewegung den Wilden aus dem Wald zu zähmen und zu erziehen. Davon berichtet Ragna, der Fürst an seinen Vater – und auch andere Figuren wie etwa Jörn im obigen Beispiel erzählt von den Entwicklungen in Briefen an seine Frau.

Das ist nicht immer wirklich leicht durchdringbar, da sämtliche Figuren und Schreiber*innen in nur leichten Abweichungen das gleiche historisierende Vokabular nutzen, mit denen sie Akiz ausstattet.

Er erzählt eine Art „Neo-Märchen“, wie es auch beispielsweise Stefan aus dem Siepen mit seiner Erzählung Das Seil tat. Wir haben es mit einer Erzählung zu tun, die über ihren reinen Inhalt hinaus eine vielgestaltige Interpretation erlaubt. So ist AKIZ‘ düstere Neudeutung in meinen Augen eine Fabel, die von männlicher Gewalt und einer außergewöhnlichen Liebesgeschichte erzählt, wie sie in dieser Art auch zuletzt in Monique Roffeys Die Meerjungfrau von Black Conch zu lesen war. Während bei ihr der klassische Anders’schen Märchenstoff als Grundlage diente, ist es hier eben das Märchen der Gebrüder Grimm. Beiden Neuerscheinungen ist eine ebenso realistisch und wenig optimistisch Ausdeutung des tradierten Stoffes gemein.

Fazit

Hier birst am Ende niemandem das Herz vor schierer Freude, wie es dem Heinrich im ursprünglichen Märchen der Grimms widerfuhr. Vielmehr flieht hier der Fürstensohn in Hast und tiefem Schrecken mit seiner Kutsche wie einst auch Jonathan Harker von der Burg des Grafen Dracula. Nicht nur in diesem Abgleich mit der inzwischen glattpolierten und gefälligen Märchenvorlage nach den Gebrüdern Grimm zeigt sich, dass Die Königin der Frösche nur wenig gemein hat mit der romantisierten Märchenwelt der Grimms, sondern vielmehr auch dem Horrorpotential von Tier- und Waldeswelt nachspürt.

AKIZ als Romanautor ist eine mehrperspektivische Neuinterpretation des Stoffs gelungen, die von tierischer Urkraft im Menschen erzählt, die Domestizierungsversuchen eine Abfuhr erteilt und die in ihrer Düsterkeit sicherlich auch eine Geschmacksfrage ist.

Ob dieses Neo-Märchen eine ähnlich große Fangemeinde wie die Ursprungswerke der Gebrüder Grimm hinter sich versammeln kann, dass darf man bezweifeln. Dennoch ein höchst originelles und außergewöhnliches Werk in der aktuellen Literaturlandschaft, das düster von Verwandlungen vom Menschlichen ins Tierische und umgekehrt erzählt.


  • Akiz – Die Königin der Frösche
  • ISBN 978-3-446-27645-1 (Hanser blau)
  • 176 Seiten. Preis: 20,00 €
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Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen

Wie Schlafwandler schienen dem australischen Geschichtsprofessor Sir Christopher Clark die Figuren, die mit ihrem Handeln den Ersten Weltkrieg auslösten. Folgerichtig gaben sie seinem großen Werk über die Hintergründe jenes Ersten Weltkriegs den Titel. Und auch Raphaela Edelbauer scheint sich für ihren neuen Roman Die Inkommensurablen Inspiration bei Christopher Clark geholt zu haben. Denn ihr Roman, der das vielgestaltige Wien am Vorabend des Großen Krieges porträtiert, hat ebenfalls das Schlafwandeln als Motiv gewählt, obschon es hier nicht nur die Protagonist*innen ergreift, sondern bei der Lektüre das ein ums andere Mal auf den Leser oder die Leserin überzuspringen scheint.


Dabei beginnt alles wie eine Art Pastiche des mittlerweile schon zum modernen österreichischen Klassiker gereiften Roman Der Trafikant von Robert Seethaler. Ein junger vaterloser Mann kommt aus der österreichischen Provinz (hier Tirol) per Bahn in das überbordende Wien, das kurz vor dem Ausbruch eines Weltkriegs steht. Er macht in der überfordernden Stadt Bekanntschaft mit neuen Freund*innen und sucht – im Gegensatz zu Franz Huchel, dem Helden von Seethalers Buch – aktiv die Berührung mit dem Fach der Psychoanalyse.

Angekommen im Wien, der Stadt der Psychoanalyse

Doch so überschaubar wie die Schauplätze und die Handlung des Seethaler’schen Trafikanten bleibt Raphaela Edelbauers Buch mitnichten. Vielmehr sind es vier ganz unterschiedliche Figuren, die im Mittelpunkt des Romans stehen, darunter eben jener Bauernbub namens Hans Ranftler, den die Österreicherin mit einem großartigen ersten Satz einführt, der gekonnt Ton und Thema des Folgenden setzt und dem der Schlaf schon eingeschrieben ist.

Es war sechs Uhr zweiundreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k.u.k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 9

Vaterlos geworden und auf dem Land an der intellektuellen Dumpfheit des Landlebens leidend zieht es Hans ins brodelnde Wien, wo er unbedingt die Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufsuchen möchte. Denn Hans ist überzeugt, eine Gabe zu besitzen, die ihn seit fünf Jahren begleitet. Ständig sprechen die Menschen um ihn herum Gedanken aus, die er kurz zuvor noch in seinem Kopf hatte. Mithilfe der Psychoanalyse erhofft er sich Aufschluss über diesen Zustand.

Raphaela Edelbauer - Die Inkommensurablen (Cover)

Dort in der Praxis der Psychoanalytikerin macht er die Bekanntschaft der gegensätzlichen Freunde Adam und Klara, die ihn kurzerhand unter ihre Fittiche nehmen.

Adam entstammt hohem österreichischen Adel und wohnt privilegiert im familieneigenen Palais Jesenky, Gasbadeofen und George-Gedichtbände in der Hausbibliothek inklusive. Mit anderen Gleichgesinnten hat er den Jungen Wiener Kunstverein begründet, geigt in einem Streichquartett experimentelle Werke von Schönberg, op. 10, und ist bei Helene Cheresch in Behandlung, weil er immer wieder Dinge aus der Vergangenheit oder anderen Ländern vor sich sieht, von denen er eigentlich keine Ahnung haben dürfte.

Klara hingegen entstammt dem Proletariat und hat sich mit ihrer Begeisterung für die Psychoanalyse von Helene Cheresch und den anderen bedeutenden Wiener Kapazitäten auf diesem Gebiet bis zum Rigorosum emporgearbeitet, das am nächsten Tag ansteht.

Verbunden durch den gemeinsamen Ankerpunkt der Psychoanalytikerin lassen sich die drei jungen Menschen im Folgenden durch ein Wien treiben, das einem Tollhaus gleicht.

Ein Tollhaus namens Wien

Egal ob bei der Probe in der Musikakademie, Beratungen des militärischen Stabs im Palais Jesenky, im Bordell, bei einer heroininduzierten Seance inklusive Medium in der Kanalisation unter Simmering oder auf den Straßen der Hauptstadt. Überall manifestiert sich ein luzides Gefühl von Anspannung, das mal in Euphorie, mal in Taumel, mal in Gewalt umschlägt und angesichts dessen an so etwas wie Schlaf eigentlich überhaupt nicht zu denken ist.

So prügelt sich Adam durch gezielte Reizungen seiner Mitspieler während der Proben des Streiquartetts. Die Mobilmachung steht kurz bevor, das Militär ruft nach jungen Männern. Burschenschafter trommeln und die Presse überschlägt sich mit Eilmeldungen und Kriegseintrittserklärungen am Vorabend des Kriegsbeginns. Alles gleicht hier einem Tollhaus.

Und als ob dieses Brummen, Blitzen und Vibrieren noch nicht genügen würde, ist da auch noch zusätzlich die Geschichte des sogenannten Säkulumclusters, der Helene, Klara und Adam beschäftigt und mit dem ein deutlicher Anklang an die Serie Sense 8 der Wachowskis in die Handlung einzieht.

Denn zugleich scheinen tausende Menschen in ganz Europa die selbe Szene eines verlassenen Dorfs zu träumen. Jeder dieser Träumenden sieht allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der Traumrealität, während Klara als Einzige durch die ganze somnambule Szene wandern kann. Das macht sie zu einem Ziel der sogenannten „Traumjäger“, die dem Geheimnis des träumenden Clusters auf die Spur kommen möchten.

Eine herausforderne Mischung in expressiver Tradition

Was hier in seiner Verquickung aus Studie des Wiens am Vorabend des Weltkriegs, einer Studie Wiens als Hort der Psychoanalyse und als literarischer Stadtkarte sowie der Geschichte des Traumclusters schon wild klingt, wird in der Praxis dann tatsächlich noch wilder. Denn Raphaela Edelbauer schickt ihre Figuren nicht nur quer durch die Bezirke Wiens, vom proletarischen Florisdorf bis in die Salons der Oberschicht bis hinab in die Kanäle der Unterwelt. Vielmehr bringt sie in das Geschehen in Die Inkommensurablen auch verschiedene Spielformen des Erzählens ein.

Neben der ganzen Stadt- und Milieuerkundung in Echtzeit (die Handlung erstreckt sich über etwas mehr als einen Tag) ist dieses Buch auch eines, in dem wahnsinnig viel gesprochen wird. Alle diskutieren, debattieren, streiten, verteidigen, dozieren, fordern, locken oder schreien. Das führt neben vielen ausführlichen Gesprächsszenen und sachbuchartigen Exkursen über Momente der Wiener Bau- und Stadtgeschichte sogar dazu, dass Edelbauer nicht davor zurückschreckt, seitenweise die Rigorosum-Vorlesung Klaras in ihrer ganzen höchst anspruchsvollen Verschränkung von Philosphie und Mathematik über die Natur der inkommensurablen Zahlen aufzubieten, was mich als einfachen Romanleser zugegeben etwas überfordert hat.

Hervorragend gelingt es Edelbauer aber, die ganze Vielgestaltigkeit von Kriegsrhetorik, gesellschaftlicher Erregung, expressionistischem Überschwang, Kunst, Psychoanalyse und schlussendlich Wien selbst in einen überbordenden und herausfordernden Roman zu packen, bei dem man sich manchmal fühlt, als würde man durch eine Traumlandschaft wandeln.

Ein Roman, den sie sie am Ende sogar noch zu einer Betrachtung über den Charakter der Massensuggestion ausbaut und damit die Frage in den Raum stellt, inwieweit das von Christopher Clark als Schlafwandeln getaufte Verhalten im Vorfeld des Kriegs vielleicht sogar ein bewusste herbeigeführtes Ereignis per Massensuggestion war, das Österreich-Ungarn, ganz Europa und schlussendlich die halbe Welt in einen blutigen und verlustreichen Krieg stürzte.

Schlafwandler waren sie.

Die Lichter im Raum waren alle zur selben Zeit angegangen, und der Spuk hatte sich schlagartig verflüchtigt wie eine auseinanderfallende Dunstwolke. Für einen Augenblick konnten sie alle dieses Nebeneinander nicht fassen. Sie fanden keine Worte, und die Worte fanden nicht sie.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 263 f.

Fazit

Es gelingt Raphalea Edelbauer in ihrem neuen Roman Die Inkommensurablen von der Mobilmachung bis zur Psychoanalyse eine Vielzahl an Themen miteinander zu verquicken, die sie sprachlich herausragend ausgestaltet. Indem sie den (scheinbar) historischen Stoff mit modernen Erzählmitteln aufbereitet, wie man auch aus zeitgenössischen Produktionen wie dem schnittlosen Echtzeitfilm Victoria oder eben der schon genannten Serien Sense 8 kennt, gerät das Ganze zur atemlosen, überbordenden und so manches Mal auch verwirrenden Angelegenheit.

Was ist Traum, was ist Realität? Sind wir am Ende doch nur alle Schlafwandler, die als Teil des Säculumclusters von Raphaela Edelbauer durch ein elektrisiertendes und vibrierendes Wien gejagt werden, hinter dessen Ecken jede Menge Anspielungen von Hugo von Hoffmannsthal bis bis zu Graham Greenes Der dritte Mann lauern? So oder so bleibt festzuhalten, dass sich Raphaela Edelbauer auch mit ihrem dritten Buch als unberechenbare Erzählerin erweist, deren Talent auf keinen Fall auf Einbildung beruht. Ein wirklich inkommensurables Buch!


  • Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen
  • ISBN 978-3-608-98647-1 (Klett-Cotta)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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