Warum nicht selber einmal Literarisches Quartett spielen? Vor zwei Wochen war es soweit und ich durfte im Rahmen der Frankfurter Buchmesse an einer besonderen Ausgabe des Quartetts mit Gastgeberin Thea Dorn teilnehmen. Was ich dabei so erlebt habe:
Es war ein Aufruf auf der Internetseite des Literarischen Quartetts, den ich zufällig beim Surfen entdeckte und der mich neugierig machte. Dort wurde dazu aufgerufen, sich beim ZDF zu melden, wenn man als Zuschauer selbst einmal beim Literarischen Quartett mitmachen möchte. Neben aufgezeichneter Sonderausgaben wie dem U21-Quartett gab es schon auf der vergangenen Buchmesse in Leipzig zwei solcher Runden, einmal mit Zuschauer*innen und einmal mit Buchhändler*innen, die in der Glashalle mit Gastgeberin Thea Dorn über diverse Neuerscheinungen diskutieren durfen.
Nun also das Ganze in Frankfurt, wohin ich mich sowieso begeben hätte. Die Bewerbung ans ZDF sollte man gleich mit einem Titel flankieren, über den man gerne auf der Bühne diskutieren wollte. Zur Auswahl standen die Bücher der beiden letzten Ausgaben des Literarischen Quartetts, von denen ich mir Damenopfer von Steffen Kopetzky zum Wunschbuch erwählte (damals vorgestellt von Cara Platte aus der U21-Ausgabe, die mit Adam Soboczynski, Juli Zeh und Gastgeberin Thea Dorn über das Buch diskutierte).
Auf der Bühne in Frankfurt
Zwei Anrufe und eine Mail später herrschte Gewissheit: ich darf in Frankfurt als literaturkritischer Laie mit auf der Bühne diskutieren. Das Ganze war war allerdings noch mit einer Umentscheidung verbunden, da mir nun vonseiten der Redaktion die Titel V13 von Emmanuel Carrère oder Vaters Meer von Deniz Utlu zur Auswahl gestellt wurden, die ich zwei Wochen später in Frankfurt präsentieren sollte. Unbesehen entschied ich mich für Utlu, bei dem mich die auseinanderklaffende Kritik reizte, die das Buch seit dem Vortrag eines Textausschnitts bei den diesjährigen Tagen der deutschsprachigen Literatur erfuhr. Dort fiel der Text in weiten Teilen der Jury durch, nach Veröffentlichung des Buchs mehrten sich aber die lobenden Stimmen, gar eine Nominierung für denBayerischen Buchpreisheimste das Buch ein. In meinen Augen also gutes Diskussionsmaterial, weshalb ich mich blind für Utlus Text entschied.
Spannend blieb auch die Frage der Mitdiskutierenden. Außer der Auswahl der weiteren Bücher (Sinkende Sterne von Thomas Hettche und Gittersee von Charlotte Gneuß) und der Mitteilungen von Zeit und Ort, an denen ich mich vor der gemeinsamen Bühne von ARD, ZDF und 3sat einzufinden hatte, gab es keine Informationen. Bewusst hatte ich im Vorfeld darauf verzichtet, mir die Diskussionen zu den drei Titeln in den regulären Ausgaben des Literarischen Quartetts zu Gemüte zu führen, um möglichst unvoreingenommen und frei von Argumentationsfiguren oder Fremdinterpretationen in die Diskussion zu gehen.
Diskussion unter Zeitdruck
Gespannt traf ich also Freitag Nachmittag vor Ort im Foyer der Buchmesse ein, wo es dann in die Maske ging und ich anschließend Gastgeberin Thea Dorn und die weiteren Mitstreitenden kennenlernte. Ich durfte die Bühne mit der Wuppertaler Deutschlehrerin und Aron Broks teilen, der neben seinen Texten für die taz jüngst auch mit seinem Buch Nackt in der DDR – Mein Großvater Willi Sitte und was die ganze Geschichte mit mir zu tun hat reüssierte. Nachdem die Reihenfolge der Titel festgelegt wurde und die Zeit für die Diskussion zunehmend schrumpfte (schließlich musste auf der Bühne passgenau an den nächstfolgenden Gesprächspart inklusive Umbau übergeben werden), konnte es dann losgehen.
Wir stürzten uns in die Diskussion zu den drei Werken und waren uns mal weniger einig (im Fall Thomas Hettches), mal gab es einen größeren Konsens (wie im Falle von Charlotte Gneuß). Auch die Diskussion zu meinem an letzter Stelle vorgestellten Patenbuch von Deniz Utlu arbeitete interessante Aspekte heraus und stand für eine reizvolle Diskussion, die Thea Dorn gut zu steuern wusste. Natürlich war die gnadenlos herabzählende Zeit definitiv zu kurz, um vertiefend in Debatten einzusteigen und verschiedene Aspekte an den Büchern eingehender zu beleuchten – einen großen Spaß hat es aber trotzdem gemacht, mit meinen beiden Mitdiskutant*innen und Thea Dorn als Moderation zu streiten und für die Titel zu werben.
Was bleibt?
Was bleibt von dem Abend im Foyer auf der Buchmesse? Leider keine bleibende Erinnerung außer ein paar Fotos im Backstage und einem gemeinsamen Eintrag in das Frontispiz unsere Diskussionstitel – denn diese Ausgabe des Literarischen Quartetts wurde vom ZDF zwar professionell gefilmt und übertragen, aber eben nicht archiviert und ist damit leider nicht nachschaubar. Das ist wirklich schade, war das Diskussionsniveau für mein Empfinden doch durchaus vorzeigbar und stand hinter manch anderer regulären Ausgabe des Quartetts nicht nennenswert zurück.
Was ich aber für mich mitnehme, ist die Erkenntnis, wie viel Spaß mir es macht, coram publico über Bücher, Bewertungen, literarische Motive und subjektive Leseeindrücke zu diskutieren. Sollte sich die Möglichkeit ergeben – ich wäre auf alle Fälle gerne wieder mit von der Partie!
Zu den Traditionen auf diesem Blog zählt schon seit einigen Jahren das Tippen möglicher Titel, die es auf die Nominierungsliste des Deutschen Buchpreises geschafft haben. So auch dieses Jahr, in dem wieder das Deutscher Buchpreis-Lotto wage. So sind es folgende Bücher, denen ich Chancen ausrechne, dass sie die Jury des Deutschen Buchpreises 2023 vielleicht berücksichtigt.
Dabei ist es nicht unbedingt eine Liste mit Lieblingsbüchern, einige der Titel würde ich in meine persönliche Auswahl zum Buch des Jahres nicht unbedingt aufnehmen. Aber wie das bei einem Lotto so ist – eine abgewogene Mischung aus Intuition und Vermutung ergibt diese Liste, die eine ziemliche ziemliche Österreich-Lastigkeit aufweist und auf der sich viele Titel rund um die boomenden Themen der Mutter- und Vaterschaft drehen. Auch Climate Fiction, migrantische Erfahrung und historische Rückschau dürfen hier natürlich nicht fehlen. Alles spekulativ wie immer, aber das ist ja seit jeher integraler Bestanddteil dieses Buchpreis-Lottos. Nun Vorhang auf für meinen literarischen Tippschein:
Und hier noch einmal die Bücher in einer Titelliste. Bereits auf dem Blog vorhandene Besprechungen sind hervorgehoben, unverlinkte Titel erscheinen in den nächsten Tagen noch ausführlicher hier auf dem Blog.
Viel habe ich auch im vergangenen Jahr gelesen und auch viel besprochen. Über 100 Rezensionen sind neben Meinungsstücken, Vorschauberichten und Co. zusammengekommen. Dabei ist dieses Jahr zum ersten Mal ein Schwerpunkt bei den weiblichen Erzählerinnen, von denen ich mehr Bücher besprochen habe denn von männlichen Autoren. Dass dabei viele Highlights darunter waren, die dementsprechend auch die Liste dominieren, das sollte nicht überraschen. Besonders konnten mich in diesem Jahr auch die Verlage Ullstein und Hanser mit ihrem Programm überzeugen. Auch das schlägt sich in der Auswahl nieder.
In der Rückschau sind es die folgenden sechzehn Bücher, die ich zu meinen persönlichen Highlights des Jahres zähle und dementsprechend noch einmal kurz würdigen möchte. Bücher, die über die Lektüre und weit darüber hinaus in meinem Kopf blieben und denen eine Qualität innewohnt, die sie auch über kurzlebige Trends erhebt und von denen ich mir sicherlich den ein oder anderen Titel auch ein zweites Mal vornehmen werde.
Ausführliche Besprechungen und bibliographische Daten finden sich wie immer nach einem Klick auf die entsprechenden Cover. Nun hier also mein literarisches Best of des Jahres 2022:
Percival Everett – Erschütterung
Dieses Buch habe ich gleich zu Beginn des Jahres gelesen – und es ist bei mir in Gedanken geblieben, bis zum Ende des Jahres. Percival Everett gelingt es in Erschütterung, die Geschichte des Universitätsprofessors Zach Wells mitreißend zu erzählen, obwohl dessen Lebenswelt und Schicksal so gar nichts Mitreißendes an sich hat. Wie er diesen Zach Wells zeigt, der sämtlichen Halt im Leben verliert, das ist große Kunst. Dabei verschmilzt Everett Themen wie Migration, Campusroman und Krankheitsgeschichte miteinander. Was freue ich mich schon auf den neuen Roman von Everett, der schon bald abermals bei Hanser erscheinen wird!
Annika Büsing – Nordstadt
Mit Nordstadt hat Annika Büsing den Trend des Schwimmbad-Romans losgetreten, der im kommenden Jahr viele Nachahmer finden wird. Bei ihr ist das Hallenbad der Handlungsort, in dem die Bademeisterin Nene ihren Dienst versieht und auf Boris trifft. Zwischen den beiden Außenseitern aus prekären Verhältnissen entspinnt sich eine widerborstige Romanze. Stilistisch toll erzählt und in meinen Augen auch eine hervorragende Klassenlektüre für gehobene Klassenstufen.
Natalie Buchholz – Unser Glück
Welchen Preis sind wir bereit, für unser Wohnglück zu zahlen? Diese Frage verhandelt Natalie Buchholz in ihrem neuen Roman Unser Glück, indem sie eine Münchener Kleinfamilie in den Mittelpunkt stellt, die eine bezahlbare Traumimmobilie gefunden hat, noch dazu in Schwabing. Wenn da nur nicht der Haken mit dem anderen, undurchsichtigen Untermieter wäre, der sich ein Zimmer in ihrer Immobilie ausbedungen hat…
Anna Bervoets – Dieser Beitrag wurde entfernt
Immer wieder kommt es zu ganz unwahrscheinlichen Schwerpunkten in verschiedenen Büchern einer Saison – so auch bei Anna Bervoets‘ Roman, der ebenso wie Berit Glanz in Automaton den Alltag einer Content-Moderatorin in den Mittelpunkt stellt und dabei eindringlich spürbar macht, wie die Seele bei dieser Art von Arbeit Schade nimmt
Lauren Groff – Matrix
Ein Utopie weiblicher Selbstverwaltung und Autarkie, angesiedelt im Mittelalter. In Matrix erzählt Lauren Groff die Geschichte der Äbtissin Marie de France, die als illegitimer Königsspross von ihrer Schwester, Eleanore von Aquitanien, dem Thron möglichst weit fortgehalten werden soll – und so ein Kloster zu unbekannter Blüte führt. Hier trifft historischer Roman auf Science Fiction, großartig erzählt und gestaltet.
Fatma Aydemir – Dschinns
Völlig überladen und überfrachtet, und zugleich doch so gut, so relevant und wichtig, dieser Roman von Fatma Aydemir. Als Stellvertreterfiguren erzählt sie von den vier Kindern Hüseyins, die sich nach dem Tod des Famileinvaters aufmachen zu dessen Beerdigung und dabei alle möglichen Probleme im Gepäck haben. Auch die Mutter kommt zu Wort. So bekommt man ein ganzes Panorama von Migrantenschicksalen der ersten und zweiten Generation zu lesen. Beeindruckend!
Claire Keegan – Kleine Dinge wie diese
Ein meisterlicher Weihnachtsroman, gespeist aus Dicken’schem Geist, und das als Lektüre im Sommer? Unbedingt empfehlenswert! Während draußen die Temperaturen neue Höchststände erreichten, las ich Claire Keegans kleinen, aber schwergewichtigen Roman, der an den Weihnachtstagen in einem von Armut geprägten Irland des Jahres 1985 spielt und der trotzdem von Hoffnung und Mut kündet – und der ein Loblied auf den Mut des Einzelnen singt.
Melinda Cowley – Heller – Der Papierpalast
Für mich der perfekte Sommerroman. Warum? Weil er nicht sonnenhell und kitschig ist, sondern auch die von den Schattenseiten des Lebens erzählt. Untreue, Begehren und Lebenslügen sind Thema in diesem Roman, der um die 50-jährige Elle Bishop kreist und in dem Melinda Cowley-Heller zeigt, dass sich die Sommeridylle dort im sogenannten Papierpalast an der Küste Neuenglands als erstaunlich brüchig erweisen kann.
Eckart Nickel – Spitzweg
Kunstvolles Parlando, konsequentes l’art pour l’art, das ist Spitzweg von Eckart Nickel, eine ebenso knallige wie stilbewusste Dreiecksgeschichte dreier Schulfreund*innen, bei der die Kritik eines Kunstwerks in der Schule einen wilden, geradezu anachronistischen Reigen aus Ereignissen auslöst. Nicht zuletzt auch äußerlich ein wahres Kunstwerk, dessen inhaltliches Gewicht man besser nicht hinterfragen sollte, sondern sich eher auf die Schauwerte einlassen sollte.
Maggie Shipstead – Kreiseziehen
Dieses Buch ist für mich die Definition eines guten Schmökers. Denn das Buch vereint das Doppelporträt einer jungen, skandamumwitterten Schauspielerin und einer unbeugsamen Pilotin, deren ungeklärtes Schicksal Ausgangspunkt einer Verfilmung ist, in der die Schauspielerin jene Pilotin verkörpern soll. Unterhaltung mit Anspruch, ein großartiges Erzähltalent – und viele hunderte Seiten, um darin zu versinken!
Eberhard Seidel – Döner
Zugegeben, ich bin kein großer Freund des Döners. Zu mächtig, olfaktorisch zu belastend, gerade in Mittagspausen – meine Vorbehalte gegen diese Speise waren nicht gerade klein. Und dennoch gelingt Eberhard Seidel ein Buch, das mich über die Maßen begeistert hat, verknüpft er doch die Kulturgeschichte des Döners mit der der Migration und erzählt von den Ausgrenzungen und tödlichen Gefahren, die ebenfalls mit dem Döner assoziiert werden.
Amor Towles – Lincoln Highway
Zwei Jungen auf der Suche nach ihrer Mutter, der legendäre Lincoln Highway als Reiseroute – und dennoch entwickelt sich alles anders als geplant in Amor Towles‘ neuem Roman, der einem wilden Roadtrip gleicht, den sich Mark Twain und Jules Verne zusammen ausgedachte haben könnten. Ein Buch von alter amerikanischer Romanschule und dabei stets unvorhersehbar. Tolle Unterhaltung!
Lucy Fricke – Die Diplomatin
Ich habe ja bekanntlich eine Schwäche für gut gemachte politische Romane. Und auch Lucy Frickes neues Werk fällt in diese Kategorie. Ihr gelingt das Kunststück, ebenso mitreißend, wie lustig, berührend und gesellschaftlich relevant von der Diplomatin Fred zu erzählen, die von einem Einsatz in Südamerika bis zu einer Botschaftsposition in der Türkei die ganze Ohnmacht unserer demokratischen Handlungsweisen zu spüren bekommt.
Deb Colin Unferth – Happy Green Family
Politisch im weiteren Sinne ist auch Deb Colin Unferths großartiger Roman Happy Green Family, der von einer waghalsigen Rettungsaktion erzählt. Ein einzelnes Huhn ist dabei der Auslöser, der zu einer ganzen Lawine aus Chaos und Gefahr führt. Denn drei ganz unterschiedliche Figuren sagen hier der industriellen Hühnerzucht und Eierproduktion den Kampf an und wollen eine bessere Welt. Ob das funktionieren kann?
Négar Djavadi – Die Arena
Wie würden eigentlich Victor Hugo oder Honoré de Balzac von Paris schreiben, wenn sie in diesen Tagen leben würden? Vermutlich genau so, wie das Négar Djavadi in Die Arena tut. Sie erzählt von Politiker*innen, einem Spindoktor, Polizist*innen und jugendlichen Gangs, die in dieser Arena namens Paris aufeinandertreffen – mit explosiven Folgen.
Gabriele Riedle – In Wüsten. In Dschungeln. Im Krieg.
Hätte es die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 nicht gegeben, wäre mir dieses Buch wirklich entgangen, obwohl ich es schon dienstlich für meine Bibliothek erworben hatte. So habe ich nun dank der Nominierung ein sprachlich anspruchsvolles und im besten Sinne welthaltige Buch entdeckt, das ebenso vom Newsdruck wie auch vom Seelenleben einer Kriegsreporterin erzählt. Vor allem ist das Buch ein Dokument von der Unrast unserer Tage.
Nur noch ein Monat, dann steht Weihnachten wieder einmal völlig überraschend vor der Tür. Deshalb erlaube ich es mir heute, in drei verschiedenen Kategorien als Geschenkanregungen Buchtipps zu geben, mit denen man sicher nichts falsch macht. Es handelt sich bei den ausgesuchten Titeln um aktuelle Neuerscheinungen, die man im gut sortierten Buchhandel finden sollte (oder zumindest bestellen und dann am nächsten Tag dann abholen kann).
Vor allem angesichts eventueller Engpässe im stationären Buchhandel empfiehlt es sich ja aktuell eh, ein wenig früher mit den Bestellungen dran zu sein. Das macht es den Buchhändler*innen im Weihnachtsstress ein bisschen einfacher – und zudem kann man sich dann selbst beruhigen, dass man einen Teil der Geschenke schon besorgt hat. Anderweitigen Stress an Weihnachten gibt es ja schon genug.
Deshalb hier nun meine diesjährigen Empfehlungen, sortiert nach den Kategorien Sachbuch, Belletristik und Kinder- und Jugendbuch. Viel Vergnügen und gute Inspiration!
Sachbuch
Andrea Wulf – Fabelhafte Rebellen
Ihre Biografie über Alexander von Humboldt zählt zum Besten, das ich im Genre der historischen Biografie in letzter Zeit gelesen habe. Nun nimmt sich Andrea Wulf in ihrem neuen Buch Zeit der frühen Romantiker*innen und deren Wirkungsschwerpunkt Jena vor und erzählt, wie sich in jener Stadt die Geistesgrößen Fichte, Schelling und Co. trafen – und sich gegenseitig beeinflussten. Eine hervorragende Zeitreise, unterhaltsam und lehrreich – und dabei auch erstaunlich aktuell.
Übersetzung aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. 525 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-3-570-10935-1 (C. Bertelsmann)
Patrick Radden Keefe – Imperium der Schmerzen
Die Opioidkrise der USA, das ist etwas, das man hierzulande nicht wirklich auf dem Schirm hat, außer vielleicht wenn ein Roman mal davon erzählt. Aber dass flächendeckend große Mengen Amerikaner*innen bis in die Mittelschicht hinein schmerzmittelabhängig sind und dadurch durchs soziale Raster gefallen sind, das macht die packend erzählte Geschichte von Patrick Radden Keefe klar. Darin erzählt er, wie die Pharma-Dynastie der Familie Sackler diese Krise verursacht und ausgeschlachtet hat – spannend wie ein Krimi und dabei (leider) sehr faktenbasiert.
Übersetzung aus dem Englischen von Benjamin Dittmann-Bieber, Gregor Runge und Kattrin Stier. 639 Seiten. 36,00 €. ISBN 978-3-446-27392-4 (hanser blau)
Volker Ullrich – Deutschland 1923
Dass der deutsche Buchmarkt nicht allzu originell ist, das fällt aktuell besonders deutlich ins Auge. Was einmal gut lief, das wird munter kopiert und fortgeführt. Bestes Beispiel ist zur Zeit der von Florian Illies angestoßene Trend zum anekdotischen Jahrbuch. Mindestens fünf Bücher über das Jahr 1923 erschienen diesen Herbst in verschiedenen Verlagen in ganz unterschiedlicher Qualität. Für sich steht darunter das Buch des Historikers Volker Ullrich, in dem er auf plaudrige Zeitkoloritschnipsel verzichtet und sich stattdessen dem Jahr in thematischen Schwerpunktsetzung näher, wobei er sachkundig von der Inflation, von der Tanzwut, dem Erstarken rechter Kräfte oder Kultur im Zeichen der Krise erzählt. Fundiert, genau und umfassend.
441 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-406-79103-1 (C. H. Beck)
Ein Buch über Döner, das man auch Veganerinnen und Vegetariern schenken kann? Unbedingt, denn Eberhard Seidels Buch ist weitaus mehr als eine Hymne an das Kultgericht. Er bietet darin eine Geschichte der (türkischen) Migration in Deutschland und erzählt von Aufstieg und Ausgrenzung, von Xenophobie, die sich vom Gammelfleischskandal bis hin zur NSU-Mordserie aka „Dönermorde“ immer wieder zeigte und zeigt und für türkische Mitbürger*innen zu oft auch Todesgefahr bedeutet. Ein Buch, das weit über die reine Kulinarik hinausblickt, und das es deshalb so empfehlenswert macht.
257 Seiten. 20,00 €. ISBN 978-3-7550-0004-4 (März-Verlag)
Irene Vallejo – Papyrus
Eine Geschichte der Schrift, des Buchs, der Kulturtechnik des Lesens, all das vereint Irene Vallejos Sachbuch Papyrus, das mitreißend von der Kraft des gedruckten und geschriebenen Worts zu erzählen vermag. Denn eines wird in Vallejos über 750 Seiten starken (aber niemals langweiligen) Buch auch klar – die Geschichte der Welt ist auch eine Geschichte der Bücher und umgekehrt.
Übersetzung aus dem Spanischen von Maria Meinel und Luis Ruby. 752 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-257-07198-6 (Diogenes)
Belletristik
Prosaische Passionen
Männer schreiben Literatur, Frauen Unterhaltung. Deshalb braucht man sie auch nicht in den literarischen Kanon aufnehmen. Gegen diese jahrhundertealte und grotesk falsche Praxis setzt der von Sandra Kegel herausgegebene Sammelband ein wuchtiges Kontra. Denn der Band versammelt Shortstorys von vielfältigen weiblichen Erzählerinnen quer über den ganzen Erdball verteilt. Von großen Namen wie Colette oder Virginia Woolf bis hin zu echten Entdeckungen wie Chawa Schapira oder Out el-Kouloub oder Ding Ling. Erzählerinnen, denen in einer gerechteren Welt ein ebenbürtiger Platz im Kanon der Literatur gebührte.
928 Seiten. 40,00 €. ISBN 978-3-7175-2546-2 (Manesse)
Maggie Shipstead – Kreiseziehen
Ein Schmöker im besten Sinne, der mitreißend vom Leben der Pilotin Marian Graves erzählt. Diese verschwand vor Jahrzehnten im ewigen Eis der Antarktis und nur ein Tagebuch blieb von ihr zurück. Nun soll der gefallene Hollywoodstar Hadley Baxter Marian Graves in einem Film verkörpern und taucht dafür ganz tief ein in das Leben der eigensinnigen Pilotin, das uns Maggie Shipstead als emotionalen, fesselnden und unheimlich suggestiven Bilderbogen präsentiert. Hier lohnt sich jede der über 800 Seiten fiktiver Lebensgeschichte, in der man wirklich versinken kann.
Aus dem Englischen von Harriet Fricke, Susa Goga-Klinkenberg und Sylvia Spatz. 861 Seiten. 28,00 €. ISBN 978-3-423-29020-3 (dtv)
Taut das Leben einer Staatsdienerin im Auswärtigen Dienst für einen Roman? Unbedingt, wie Lucy Fricke in Die Diplomatin beweist. Ihr gelingt ein Buch auf Höhe der Zeit, das die Frage nach dem Nutzen von Demokratie und demokratischen Prozessen stellt und das mit der Erzählerin Fred eine wunderbar ambivalente und lebensnahe Heldin in den Mittelpunkt stellt. Hier finden Privates und Politik gelungen zusammen. Und außerdem schreibt Lucy Fricke mit die wohl trockensten und besten Dialoge, die man für Geld kaufen oder in Bibliothek leihen kann.
256 Seiten. 22,00 €. ISBN 978-3-546-10005-2 (Claassen)
Ein Schmöker irgendwo zwischen Jules Vernes In achtzig Tagen um die Welt und den Romanen Mark Twains, das ist Lincoln Highway von Amor Towles. Jener legendäre Highway, die erste Schnellstraße von Ost nach West, wird bei Towles zur Richtschnur für ein Brüderpaar, die den Spuren ihrer Mutter folgen wollen. Doch die Reise entwickelt sich ganz anders als geplant – zum Glück, denn so lässt es sich wunderbar mit den jugendlichen Protagonisten mitfiebern und bangen. Großartige Unterhaltung mit dem Zeug zum modernen Americana-Klassiker.
Aus dem Englischen von Susanne Höbel. 576 Seiten. 26,00 €. ISBN 978-3-446-27400-6 (Hanser)
Johanna Adorján – Ciao
Bei diesem Buch hat es im vergangenen Jahr nicht zu einer Rezension gereicht, was keinesfalls der Qualität von Johanna Adorjáns Prosa, sondern vielmehr meinen eigenen Zeitreserven geschuldet war. Umso schöner, dass sich das Buch jetzt als kostengünstiges Taschenbuch zum Verschenken anbietet. Denn Adorján erzählt darin augenzwinkernd von einem Großfeuilletonisten, der erkennen muss, dass seine besten Jahre schon hinter ihm liegen.
272 Seiten. 13,00 €. ISBN 978-3-462-00399-4 (KiWi)
Kinderbuch
Oliver Jeffers, Sam Winston – Wo die Geschichten wohnen
Das, was Irene Vallejo für Erwachsene in Papyrus tut, das schaffen Oliver Jeffers und Sam Winston in ihrem fantasieanregenden und poetisch abstrakten Buch Wo die Geschichten wohnen für die kleineren Leserinnen und Leser. Sie zeigen, wie vielfältig die Welt der Literatur und der Bücher ist und wie wunderbar es sein kann, sich ganz in diese zu versenken. Ein großartiges Bilderbuch, in dem auch Erwachsene noch viel entdecken können.
44 Seiten. 14,90 €. ISBN 978-3-95854-092-7 (mixtvision)
Das Buch vom Dreck
Zugegeben, ein Buch vom Dreck, das klingt nicht nach dem angemessensten Buchgeschenk. Aber das ist es, vereint das Buch von Piotr Socha und Monika Utnik-Strugala doch witzige Grafiken und viel Informationen über Hygiene, Viren und wichtige Errungenschaften im Kampf (oder besser der Koexistenz) mit dem Dreck. Nicht nur vor dem Hintergrund der aktuellen viralen Ausnahmesituation eine großartige Kulturgeschichte der Hygiene für die ganze Familie
Übersetzt von Dorothea Traupe. 216 Seiten. 30,00 €. ISBN 978-3-8369-6164-6 (Gerstenberg)
David Walliams – Gangsta-Oma
Gibt es etwas langweiligeres, als bei seiner Oma die Freitagabende zu verbringen, nur damit Mama und Papa tanzen gehen können? Ja, nämlich wenn sich herausstellt, dass die eigene Oma eine Juwelendiebin ist, mit der man den Tower of London ausrauben könnte. So abgedreht und so humorvoll wie der Brite David Walliams schreiben derzeit nicht viele Autor*innen. Umso schöner, dass Band 2 der Reihe dieser Tage ebenfalls bei Rowohlt erschienen ist.
Aus dem Englischen von Salah Naoura. 272 Seiten. 11,00 €. ISBN 978-3-499-21795-1 (Rowohlt)
Nils Mohl – Henny & Ponger
Eine S-Bahnfahrt in Hamburg, zwei Jugendliche, die das gleiche Buch lesen und eine Notbremsung. So beginnt das Roadmovie Henny & Ponger, in dem Nils Mohl die ungewöhnliche Geschichte der beiden gleichnamigen Held*innen erzählt, in der man nie ganz genau weiß, woran man ist. Nur eines weiß man: das hat Drive, das zieht in die Geschichte und ist sprachlich so gut geschildert, dass man immer weiter möchte mit Henny und Ponger.
320 Seiten. 18,00 €. ISBN 978-3-95854-182-5 (mixtvision)
Kirsten Boie – Dunkelnacht
Nicht nur aus Gründen des Heimatbezugs sei auch dieses Buch von Kirsten Boie, für das sie den Deutschen Kinder- und Jugendliteraturpreis in diesem Herbst erhielt, nachdrücklich empfohlen. Denn in Dunkelnacht erzählt sie aus Sicht von Kindern von einem der grausamsten Endphaseverbrechen, nämlich der Penzberger Blutnacht. Eindringlich, erschütternd und mahnend, ohne dass das Buch je ins Moralinsaure kippen würde. Einfach ein beeindruckendes Buch für eine historisch interessierte Leserschaft.
112 Seiten. 13,00 €. ISBN 978-3-7512-0053-0 (Oetinger)
In diesen Tagen, in denen die Buchmesse in Frankfurt wieder ihre Tore öffnet, ist es auf meinem Literaturblog soweit: mein 1000. Beitrag erscheint. Sagt zumindest meine Blogstatistik und die muss es wissen. Da ich in ein paar Monaten sowieso den zehnten Geburtstag dieses kleinen Blogs hier begehe, hielt ich es für angezeigt, nach all der Zeit doch einmal das bisher Erreichte zu reflektieren und ein paar Gedanken rund um mein Tun zu sammeln.
Begünstigt wurde dies durch eine Veranstaltung, zu der ich jüngst in München im Hause der Monacensia eingeladen war. Unter dem Titel „Feuilleton vs. Blog – Buchkritik im Wandel“ wollten wir über die mögliche Zukunft von Literaturkritik sprechen – und damit verbunden die Bedeutung von Blogs und die Motivation für die eigene Arbeit.
Grund genug, das Schreiben auf dem Blog zu beleuchten und zu hinterfragen – und damit auch die Kernfrage, warum ich überhaupt (noch) blogge, sodass 1000. Beiträge zusammengekommen sind.
Beginn während meines Studiums 2013
Ist das Lesen von Büchern schon eine einsame Angelegenheit, so ist es das Sprechen darüber noch viel mehr, besonders im ländlichen Raum Bayerns. Kaum jemand mit dem gleichen Lesegeschmack, Lesungen oder gar Literaturfestivals in der näheren Umgebung. Und dazu die eigene Hybris, selbst über Bücher sprechen und schreiben zu wollen, wie ich es mir vom Feuilleton abgeschaut zu haben meinte.
Als Ergebnis dieser Überlegungen startete ich bar nennenswerter Kenntnisse von Programmierung oder dem Literaturmarkt den Blog unter dem Namen Buch-Haltung, der sich seitdem immer weiterentwickelt hat. Früher noch mit einem verspielten Motiv auf einer einfachen Google-Anwendung namens Blogspot, wagte ich aus dem Bedürfnis nach einer professionelleren Gestaltung heraus vor einigen Jahren den Umstieg auf WordPress, das seitdem zum Zuhause geworden ist.
Screenshot des Blogs aus frühen Jahren
In dem Maße, in dem sich mein Lesehorizont erweiterte, wuchs auf der Umfang der Besprechungen, die heute zumeist über 600 Wörter umfassen. Die Optik und die Qualität der Texte verbesserten sich (zumindest nach meinem Dafürhalten) und die Referenzrahmen des Besprochenen wuchsen. Lese ich mir früher publizierte Besprechungen durch, so lassen mich viele davon heute manchmal doch arg die Stirn runzeln. Die Urteile in der Retrospektive nicht immer nachvollziehbar und die Sprache bisweilen recht rumpelig und unbeholfen, so mein Eindruck der eigenen Kritiken aus den Anfangsjahren.
Und dennoch haben sie nach wie vor ihre Daseinsberechtigung im Blog-Archiv, zeigen sie doch, wie sich meine Lesesozialisation seit damals gewandelt hat, als ich als Student Anfang 20 den Blog begann. Heute ist mein literarisches Durchhaltevermögen deutlich stärker, sodass ich inzwischen auch schon einmal zu einem tausendseitigen Klassiker von Thomas Manns greife oder aber ob der vielfachen Abgegriffenheit von Themen und Motiven weniger Krimis lese und bespreche als einst. All das sind spannende Entwicklungen, die der Blog abbildet und die nach wie vor sichtbar sein dürfen.
Bleibt nur die große Frage bestehen, warum das alles? Und damit sind wir bei der Kernfrage dieses Beitrags angekommen, der mich schon seit gewisser Zeit umtreibt. Denn die Arbeit, die hinter diesem Blog steckt, ist immens, versucht man all die Arbeit hinter den Kulissen einmal aufzulisten.
Viel Arbeit, wenig Ertrag
Programmvorschauen sichten, mit den Presseabteilungen kommunizieren, die Bücher einplanen, Beiträge schreiben, korrigieren, die Grafiken erstellen und einsetzen, die Beträge an die verschiedenen Social Media-Kanäle einbinden, dort noch einmal gesondert mit Posts auf die neuen Beiträge hinweisen, den Newsletter pflegen, die Domain hosten und bezahlen, Lesungen besuchen, auf eigene Kosten Buchmessen zu besuchen, an abendlichen Buchpräsentationen teilnehmen – und dann fehlt noch der zeitintensivste Posten, nämlich das Lesen und Überdenken der Bücher. Das alles passiert hier mit einer Frequenz von ungefähr zehn Besprechungen im Monat.
Keine Frage, all das macht viel Arbeit, die am Tag einige Stunden verschlingt, und die ich unbezahlt neben meinem Vollzeit-Job erbringe. Ertrag wirft der Blog trotz über 700 Abonnent*innen nicht ab, sodass sich wie bei so vielen anderen Bloggenden auch bei mir die frühere Hoffnung auf eine monetären Vergütung nicht erfüllte.
Reich wird man mit dem Blog schon einmal nicht – eher ist es ein deutliches Minusgeschäft mit vielen dutzenden Stunden an Arbeit im Monat. Bleibt noch der zweite Wunsch, den ich damals neben der Hoffnung auf Buchkritik als auskömmliches Hobby hegte. Es war der Wunsch nach Sichtbarkeit im literarischen Raum, nach potentiellen Lesungsmoderationen oder Jury-Tätigkeiten durch das Bloggen. Auch diese Hoffnungen blieben in den vergangenen Jahren so gut wie unerfüllt und kamen erst in jüngster Zeit etwas in Schwung.
Man mag ein solches Begehren angesichts eines einfachen Lesers vermessen finden, habe ich doch weder Germanistik noch Literaturwissenschaft studiert und mich ungefragt erdreistet, meine Privatmeinung zu Büchern zu publizieren. All das mag zutreffen. Aber die Zeit, in der die Wünsche entstanden, war die „goldene“ Zeit der Blogs, in der alles möglich schien und sich Blogs in der Wahrnehmung anschickten, dem Feuilleton fast ebenbürtig zu werden. Deshalb an dieser Stelle ein ganz kleiner Blick zurück.
Tempi passati
In dieser Blütezeit der Blogs war die Szene unglaublich vielfältig und bestach durch eine Diversität in Ton und Thematik, wie ich sie heute etwas vermisse. Tilmann Winterling schrieb ebenso witzige wie zugängliche Beiträge auf 54 Books, Birgit Böllinger widmete sich in Sätze und Schätze der Weimarer Republik und neuen Sachlichkeit, Jochen Kienbaum trug lange Beiträge zu Klassikern und anspruchsvollen Titeln bei und wollte Lust auf Lesen schüren, Tobias Nazemi schrieb von sich und seinen Lektüreeindrücken im Buchrevier. Sogar in die Jury des Deutschen Buchpreises schaffte es ein Blogger, nämlich Uwe Kalkowski, der Kaffeehaussitzer.
Und heute? Tempi passati. Immer wieder muss ich Blogs von meiner Blogroll nehmen, manche haben sich erheblich gewandelt, andere sind seit Jahren nicht mehr gepflegt oder ganz verstummt. Viele Bloggende haben den Absprung in die Buchbranche gewagt oder, das Schreiben über Bücher ganz aufgegeben. Oder sie sind zu anderen, einfacher zu bespielenden Medien wie etwa Instagram gewechselt.
So der subjektiver Eindruck meinerseits bislang, der nun durch die statistische Auswertung von Tobias Zeising untermauert wurde. Alleine in seinem Untersuchungszeitraum der letzten drei Jahre stellte er fest, dass fast die Hälfte der im Jahr 2019 aktiven Blogs und damit über 400 Stück verschwunden sind. Zwar herrscht immer noch Fluktuation, neue Blogs kommen hinzu, die an die Stelle von alten, verwaisten Blogs treten. Doch der Boom dieser Form der Auseinandersetzung mit Büchern ist allerdings schon lange vorbei, das zeigen die Zahlen sehr deutlich. Die Buchblogszene schrumpft.
Nur ein paar wackere Schreiber*innen aus den Anfangstagen wie Constanze Matthes, Julia Schmitz, Katharina Herrmann oder ebenjener schon erwähnte Uwe Kalkowski bloggen nach wie vor und bereichern die rückläufige Szene, aus der eben kein zweites Feuilleton im Internet geworden ist, auch wenn diese Fehlannahme viele der sich ewig perpetuierenden Debatten prägte.
Und dann sind da auch noch einige andere Erkenntnisse, die auch schon andere Bloggende artikuliert haben, und die sich auch mit meiner Wahrnehmung decken. Rezensionen auf dem Blog interessieren kaum. Vielmehr sind es alle anderen Beiträge von Verlagsvorschauen bis zu Buchpreis-Tipps, die nachgefragt sind. Kleine Verlage und unbekannte Namen ziehen nicht wirklich, vielmehr steigt das Interesse mit dem Grad der Popularität und der Bestseller-Nähe der jeweils besprochenen Titel. Das Versprechung auf Vernetzung der Blogs und der Literaturkritik untereinander ist ausgeblieben, vielmehr werkelt jeder vor sich hin, ohne dass sich nennenswerte Debatten im Umfeld von Blogs entspinnen.
Verpasste Chancen
Auch die Verlage selbst tragen in meinen Augen etwas zu dieser Entwicklung bei, gäbe es doch von Seiten der Bloggerinnen und Blogger viel qualitativ hochwertige Beiträge, die man bequem verlinken könnte oder mit wenig Aufwand sich gegenseitig zu viel Sichtbarkeit verhelfen könnte. Aber zumindest in meiner Wahrnehmung bleiben Beleglinks so gut wie unbeachtet, werden einzelne Kritik ab und an vielleicht noch unter der Rubrik der Pressestimmen abgelegt wenn eine Rückmeldung nicht komplett ausbleibt.
Gefühlt herrscht wenig Wertschätzung. Viele Verlage agieren im Netz noch immer, als sei es Neuland für sie. Blogger*innen sind in dieser Welt oft wenig mehr als ein verlängerter Arm des Marketings, die mit ihrer Reichweite zur Bewerbung des eigenen Verlagsprogramms gut sind, recht viel mehr aber nicht.
Natürlich gibt es Ausnahmen, leisten viele Mitarbeitende in den Verlagen tolle Arbeit und bemühen sich engagiert um Aktionen, Kontakt auf Augenhöhe und lassen sich spannende Aktionen zur Darstellung der eigenen Häuser einfallen. Die Presseabteilungen sind oftmals unterbesetzt, nicht gut bezahlt und die Interaktion mit digitalen Rezensent*innen macht durchaus Arbeit. Aber diese Arbeit würde sich wirklich lohnen, wird doch auf diesem Feld noch immer erstaunlich viel Potential verschenkt. Vielen Verlagen scheint es auch zu genügen, mit ein paar Bildkacheln das jeweilige Programm zu präsentieren um in den Netzwerken irgendwie präsent zu sein.
Aber ich möchte eine vielfältigere Welt, in der unterschiedliche Stimmen und Blicke zu Büchern, Programmen und Schreibenden ihren Platz in der digitalen Welt haben – und weit darüber hinaus. Eine Welt, in der Verlage mithilfe von Außenstehenden neue Blickwinkel auf Bücher ermöglichen und schreibende Stimmen aus der Blogwelt aufgreifen und als Chance begreifen. Souverän genug sein, Kritik an Büchern zuzulassen, Debatten ermöglichen, begleiten und Schreibende wertschätzen, das würde ich mir von den Verlagen wünschen, sind Blogger*innen doch gerade für Genretitel und kleinere Namen abseits der Bestsellerlisten ein wichtiger Faktor, da sie Büchern Sichtbarkeit verschaffen, die sonst vielleicht komplett untergingen.
Dass das Ganze nicht in Bauchpinselei enden sollte, versteht sich von selbst. Das Zusammenwirken von Autor*innen, Verlagen und Blogger*innen sollte zum gegenseitigen Ansporn für bessere und vielfältigere Arbeit werden. Wenn diese Arbeit herausfordert, allen Beteiligten neue Aspekte eröffnet und die ganze Breite der digitalen Beschäftigungsformen mit Literatur abbildet, dann wäre schon viel gewonnen. Das wäre mein hehrer, vielleicht auch naiver Wunsch zum Blogjubiläum.
Es geht weiter
Für das Durchhalten dieser möglicherweisen latent pessimistisch-larmoyanten Suada, und meinen potentiell völlig verzerrten Blick auf die kontemporäre Welt der Literaturblogs bis hierhin möchte ich mich an dieser Stelle bedanken. So soll dieser Text auch nicht enden, denn es gibt es ja auch Gründe, warum ich diesen Blog weiterführe und trotz der enttäuschten Hoffnungen auch ins zehnte Jahre seines Bestehens gehe.
Denn ich glaube, dass Blogs nach wie vor eine große Bedeutung zukommt, gerade in diesen Zeiten. Nennenswerte Buchkritik im Fernsehen findet abseits von Nischen nicht statt, die Zeitungsauflagen und damit auch der Platz für das Feuilleton schrumpft. Im Formatradio hat abseits von Kulturformaten und-sendern das gedruckte Wort kaum Platz. So ist etwa der Kulturteil von Spiegel Online ein Schatten seiner selbst. Wenn dann hier alle paar Wochen einmal ein Buch besprochen wird, dann verwechselt der Autor auch noch den Buchautor mit dessen Bruder. Das Bild, dass die Literaturkritik in der aktuellen medialen Landschaft abgibt, es ist mehr als bedauerlich.
Dabei ist es wichtig, für das Lesen zu werben, indem man die Fahnen der literarischen Vielfalt hochhält und versucht, die Breite der Literaturproduktion abzubilden, auch wenn meine Mittel und Möglichkeiten natürlich bescheiden sind.
Nichts langweiliger als ein Feuilleton, das von der Zeit bis hin zur FAZ in den Anfangstagen dieses Jahres unisono die Romane von Hanya Yanagihara und Michel Houellebecq bespricht und damit den Begriff der Bibliodiversität ad absurdum führt. Solche besprechungsmäßigen Monokulturen versuche ich zu vermeiden. Nicht umsonst ist zu keinem der beiden Titeln auch noch an dieser Stelle eine Besprechung erfolgt. Generell gilt für mich nach wie vor das Credo, dass man Bestsellertitel hier eher selten findet (obgleich die kommende Besprechung hier eine Ausnahme macht).
Ich mag es, meinen Platz für neue Stimmen und unbekannten Titel zu nutzen und als Entdecker von Lesenswertem zu fungieren.
Austausch, der bereichert
Und nicht zuletzt sind es die vereinzelt eintreffenden Rückmeldungen zu vorgestellten Büchern oder Literaturempfehlungen, die mich weiterhin an mein eigenes Tun glauben lassen. Nette Mails, die sich für Leseanregungen bedanken oder die ganz gegensätzlicher Meinung zu Titeln mitteilen. Bilder aus Urlauben, bei denen es ein hier vorgestelltes Buch in den Urlaubskoffer geschafft hat, Gespräche auf Bühnen oder im Radio über besondere Bücher, all das lässt die viele Arbeit sinnvoll erscheinen und bestärkt mich in meinem Schreiben, das die gute Literatur in den Mittelpunkt rücken will.
Immer wieder ergeben sich inspirierende Begegnungen oder ein Austausch, der mich bereichert, meinen Blick auf die Welt der Literatur und damit auch meinen Blick auf die Welt selbst weitet. Das möchte ich keinesfalls missen.
Und deshalb wird die Arbeit hier definitiv weitergehen. Die Vielfalt der literarischen Szene verdient es. Ob es nun weitere zehn Jahre mit diesem zeitintensiven und aufwändigen Hobby werden, das wage ich zu bezweifeln. Aber was ich weiß, dass es nach diesem reichlich nostalgischen, möglicherweise arg larmoyanten und sehr persönlichen 1000. Beitrag hier auf dem Blog wieder in gewohnter Form mit Besprechungen von Neuem, Altem, Besonderen und Überraschenden weitergeht. On y va!