Ein gebrauchtes Buchjahr 2020

2020 ist ein Krisenjahr. Das gilt auch für die Buch- und Literaturbranche. Warum dieses Jahr trotz des Alters von gerade einmal drei Monaten schon jetzt weg kann.


Selten hatte man nach drei Monaten eines literarischen Jahres so sehr das Bedürfnis, entweder die Zeit noch einmal auf Jahresbeginn zurückzustellen oder alternativ gleich die restlichen Monate bis zum neuen Jahr vorzuspulen. Denn das, was 2020 in diesen wenigen Monaten für die Literaturbranche bereithielt, das möchte man doch am liebsten vergessen und ganz schnell noch einmal von vorne beginnen.

Nur damit wir uns richtig verstehen: natürlich sind die Folgen von Corona und Co außerhalb der Buchbranche noch deutlich verheerender, mitunter sogar tödlich, gar keine Frage. Aber auch für die Buch- und Literaturbranche sind diese Tage teilweise existenzbedrohend. Und nachdem ich hier einen Literaturblog betreibe, will ich mich auf die Analyse dieses bisher so bescheidenen Monate kaprizieren und zeigen, warum dieses Jahr schon jetzt in die Tonne kann. Und das in mehrfacher Hinsicht.

Das Feuilleton

In diesem bisherigen Jahr hat sich das Feuilleton wahrlich nicht mit Ruhm bekleckert. Absurder Höhepunkt sicherlich die Debatte um Uwe Tellkamp und seinen irgendwann demächst erscheinenden Roman Lava. Der ist bislang noch nicht erschienen, obwohl man im Feuilleton der Welt meinte, er läge schon lange vor und sollte aufgrund der Haltung Tellkamps, der schon gerne einmal die Meinungskorridore enger werden sieht und sich an die DDR-Verhältnisse erinnert fühlt, nicht mehr veröffentlicht werden. Zensur! Ein missliebiger ostdeutscher Schriftsteller, der mundtot gemacht werden soll!

Ein zensierter Schrifststeller? Uwe Tellkamp

Für die Welt stand schnell fest, dass hier ein echter Skandal vertuscht werden sollte. Deshalb schnell die Feder gespitzt, auch noch fix eine Intellektuellen-Umfrage initiiert mit der Frage, ob man wirklich nicht mehr alles sagen und schreiben dürfe in diesem Land. Viel Geraune, viel nebulöse Andeutung, bis sich dann herausstellte: Tellkamps Buch wird beim Suhrkamp-Verlag gerade einfach nur redigiert und erscheint wahrscheinlich nächstes Jahr. Eine alberne Aufblähung eines Möchtegern-Skandales, an dessen Ende einfach mal wieder Shakespeare steht. Much ado about nothing!

Auch wurden die Debatten um andere Aufreger-Themen, wie etwa das #frauenzählen in Verlagsvorschauen oder das Erscheinen von Woody Allens Biografie auf einem teilweise doch recht fragwürdigen Niveau geführt. Da hätte man seine Energie doch besser in die Vermittlung von lesenswerten Büchern gesteckt.

Auch drängte sich im Feuilleton 2020 bislang der Eindruck auf, dass man auch in diesem Jahrzehnt die Abwertung von Frauen und die literarische Gagatheorie „Frauen – Unterhaltung“, „Männer – Literatur“ weiter munter fortschrieb. Beispielsweise Volker Weidermann im Spiegel über die neue Verlegerin des Rowohlt-Verlags, Nicola Bartels.

Aber da sind wir ja auch schon beim nächsten Thema – bei Rowohlt und der Verlagswelt.

Die Verlagswelt

Auch in der Verlagsbranche brachte 2020 wenig Gutes. Da war schon einmal Monsieur-Ex Florian Illies, der nach nur wenigen Monaten seinen Job als Rowohlt-Verleger wieder hinschmiss. Für Sandra Kegel in der FAZ eine peinliche Party. Und für Illies nur ein weiteres Ex-Prädikat, von denen er nun schon einige hat: Ex-Angestellter bei der Zeit, bei der FAS, bei einem Auktionshaus, bei einem Kunstmagazin. Und nun auch Ex-Verleger, nach ein paar Monaten. Einen Job, für den man zuvor die erfolgreiche Barbara Laugwitz höchst unrühmlich abgesägt hatte. Stabilität und Konstanz sieht anders aus.

Und dann kam auch schon Corona. Obwohl man zuvor noch behauptet hatte, die Leizpiger Buchmesse finde sicher statt, wurde sie dann wenige Tage später doch abgesagt. Die richtige Entscheidung, wie die rasant steigenden Fall- und Todeszahlen dann schnell zeigen sollten, obwohl auch ich ob der ganzen erfolgten Vorplanung zunächst enttäuscht war.

Was bei mir im kleinen zutrifft, trifft die Verlage ja deutlich härter. Gebuchte Hotelbetten, Fahrtkosten, Messebauer, geplante Veranstaltungen. Der Ausfall ist massiv und schlägt vor allem bei den kleinen und unabhängigen Verlage am gravierendsten durch, die in keine Konzernstrukturen eingebunden sind und über so etwas wie Rücklagen nicht verfügen. Besonders die Leipziger Buchmesse ist ja immer eine Publikumsmesse, bei der man für die Frühjahrsprogramme und Spitzentitel werben kann. Eine Möglichkeit, die dieses Jahr völlig wegfiel. Manch einer nahm das auch mit Humor, wie etwa Benjamin Quaderer, dessen Spitzentitel Am Ende die Alpen eigentlich dank Messe und Co viel Aufmerksamkeit hätte erhalten sollen.

Kleiner Trost – immerhin hier kommt bald eine Besprechung dieses wirklich lesenswerten Buchs. Dennoch ist der Ausfall von Öffentlichkeit, Absatzmöglichkeiten und Gewinn für die Verlage wirklich gravierend. In dieser Hinsicht ist auch eine traurige Nachricht abseits der ausgefallenen Leipziger Buchmesse zu vermelden:

Der Kleinverlag Binooki ist insolvent und muss den Betrieb einstellen. Der von zwei Schwestern betriebene Verlag hatte sich um den Transfer von türkischen Autor*innen ins Deutsche verdient gemacht und muss doch nun aufgrund eines Betrügers Insolvenz anmelden. Auch auf diese Nachricht hätte man verzichten können.

Der Buchhandel

Und dann ist da nicht zuletzt auch noch die Buchhandelsbranche. Sie trifft die Corona-Krise nun besonders hart. Während für die meisten Kund*innen wohl der Klick bei Amazon und Co. am einfachsten erscheint, fürchten viele Buchhandlungen um ihre Existenz. Die Laufkundschaft, die normalerweise die Umsatzzahlen generiert, fällt völlig weg. Bis auf Berlin mussten überall die Buchhandlungen schließen, da ihnen laut politischen Richtlinien keine Systemrelevanz zukommt. Darüber könnte man natürlich trefflich streiten. Fakt ist allerdings, dass sich die Buchhändler*innen so neue Wege überlegen müssen, um ihre Kund*innen zu erreichen und weiterhin den Umsatz zu generieren, der ihnen ein Forbestehen ihrer Läden ermöglicht.

Die Wichtigkeit von Online-Präsenzen und Webshops wird in der Corona-Krise einmal mehr augenfällig. Verschiedene Kampagnen und Initiativen von Verlagen und Buchhandlungen versuchen auch gegenzusteuern. Und auch ich möchte mit einem Appell enden.

Auslieferung per Fahrrad bei Uslar&Rai in Berlin

In Zeiten, in denen ein Online-Gigant wie Amazon Büchern keine hohe Priorität mehr einräumt und diese zugunsten von Lebensmittelzustellungen zurückstellt, gibt es in meinen Augen keinen einzigen Grund, einen solchen Marktmonopolisten weiter zu stärken. Im Gegenteil. Die Buchhandlungen werden nach wie vor täglich von den Zwischenbuchhändlern beliefert. Bestellte Bücher werden so deutlich schneller geliefert – und von vielen Buchhandlungen neuerdings sogar persönlich zugestellt. So seien an dieser Stelle nur kursorisch ein paar lokale Buchhandlungen genannt, die diesen Service anbieten. Ruft einfach eure Buchhändler*innen an und fragt nach – sie werden euch sicher gerne beliefern. Denn gerade in diesen Zeiten sollte ein Besinnen auf lokales Kaufverhalten und eine Unterstützung der Aktiven vor Ort das Gebot der Stunde sein. Schließlich wäre es schön, wenn die Buchhandels- und Verlagswelt nach der Corona-Krise noch die alte wäre. Insofern: Buy local!

Diese Buchhandlungen liefern nach Hause

Berlin: Ocelot, Uslar & Rai, Buchbox

Nürnberg: Buchhandlung Jakob

Hanau: Buchladen am Freiheitsplatz

Ansbach: Buchhandlung Seyerlein

Ulm: Aegis

München: Glatteis, Buch in der Au, CoLibris

Augsburg: Schlosser’sche Buchhandlung, Buchhandlung am Obstmarkt, Bücher Max


Titelbild: Pexels

Bild Tellkamp: By Smalltown Boy – Transferred from de.wikipedia to Commons., CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6213358

Uslar&Rai: Homepage

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Ben Smith – Dahinter das offene Meer

Wie wird sie aussehen, die Zukunft der Energie? Und wie unser Leben? Der Engländer Ben Smith findet in seinem Debütroman eine beunruhigende mögliche Antwort auf diese Fragen. Dahinter das offene Meer erzählt in einem dystopischen Umfeld angesiedelt von Offshore-Windenergie, Einsamkeit und dem Verlust von Sicherheit (übersetzt von Werner Löcher-Lawrence). Gerade in diesen Tagen eine unerwartet aktuelle und beunruhigende Lektüre.


Reduzierter geht es kaum: ein alter Mann und ein Junge, beide auf einer Art Plattform, inmitten eines Windenergie-Parks. Vieles ist nur angedeutet: wann und wo? Nicht weiter wichtig für Smiths Geschichte. Klar dagegen der Auftrag des Jungen, der ihn auf die Plattform geführt hat. Zusammen mit dem alten Mann ist er für die Wartung der Plattform und der Windräder zuständig. An allen Ecken bröckelt es, viele der Windräder sind schon zerstört oder nicht mehr am Netz. Der Leistungsgrad der Anlage liegt nur noch irgendwo bei 60%.

Kaum ist das eine Windrad repariert, fällt das nächste aus. Eine Sisyphosaufgabe, mit der schon der verschwundene Vater des Jungen beschäftigt war. Tag für Tag wandert der Junge durch die verlassenen Gänge der Plattform, alle paar Monate landet mal wieder ein Versorgungsschiff an, das dem Alten und dem Jungen Dosen mit undefinierbarem Speisebrei liefert. Doch ansonsten sind die beiden auf sich alleine gestellt und müssen für den Erhalt des Windparks sorgen. Franz Kafka meets Erneuerbare Energien.

Ein Kammerspiel im Offshore-Windpark

Ein Mann und ein Junge auf begrenztem Raum. Einige Geheimnisse und die Aufgabe, fernab der Zivilisation (sofern sie noch existiert) nicht verrückt zu werden. Irgendwo zwischen Odysee im Weltraum und The Shining siedelt Ben Smith seine Erzählung an, wenn er etwa den Jungen nachts durch die ächzenden und quietschenden Gänge der verlassenen Plattform streifen lässt. Das dystopische Setting vermag der Brite hervorragend einzufangen – besonders beachtlich, da dieses Genre in letzter Zeit ja einen wirklichen Boom erlebt hat und in meinen Augen schon übersättigt ist.

In Dahinter das offene Meer kann man allerdings ein originelles Buch entdecken, das einen frischen Zugriff auf die Frage liefert, wie sie aussehen könnte, unsere Zukunft der Energie und die des ökologischen Wandels. Wenngleich das Ergebnis in Smiths Szenario äußerst beunruhigend ausfällt – spannend und gut geschrieben ist das Ganze auf alle Fälle!


  • Ben Smith – Dahinter das offene Meer
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-95438-116-6 (Liebeskind)
  • 256 Seiten. Preis: 20,00 €
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Angie Kim – Miracle Creek

Von den kleinen Lügen, die Großes bewirken, erzählt Angie Kim in ihrem Roman Miracle Creek. Ein Gerichtsroman darüber, was Lügen auslösen können und wie weit man gehen sollte, um die Wahrheit hinter dem Berg zu halten.


Eine Lüge kann manchmal wie ein Streichholz sein. Es bedarf nur eines kleinen Reibens über die Zündfläche, und das Streichholz steht in Flammen. Und wenn man damit nicht aufpasst, kann am Ende ein ganzes Haus in Flammen aufgehen. Und das alles nur mit einer ursprünglich ganz winzigen Aktion.

Angie Kim - Miracle Creek (Cover)

Ein Streichholz ist es auch, das im Roman Miracle Creek (Übersetzung von Marieke Heimburger) eine Katastrophe auslöst. Dieses Miracle Creek ist eigentlich ein typisches amerikanisches Durchschnittskaff, in dem nichts passiert. Doch plötzlich ist alles anders. Das Gericht tagt, Elizabeth Ward muss sich vor der Justiz verantworten. Der Vorwurf: sie hat bei einer sogenannten HBO, einer Hyperbaren Oxygenierung, also einer Sauerstoffbehandlung bei Überdruck in einer abgeschlossenen Kammer, Feuer gelegt. Zwei Menschen sind dadurch zu Tode gekommen, darunter Elizabeths eigener Sohn, der sich während des Feuers in der Kammer befand. Die Spurenlage ist eindeutig. Schon lang trug sie sich mit dem Gedanken, die Therapie abzubrechen. Zudem verzweifelte sie des Öfteren an ihrer Rolle als Alleinerziehende mit einem autistischen Sohn. Für die Öffentlichkeit steht es schon vor dem Prozess fest: Elizabeth ist ein Monster, eine Mutter, die ihren eigenen Sohn durch Brandstiftung getötet hat. Alles klar also?

Mitnichten. Denn dass das mit der Wahrheit eine komplizierte Angelegenheit ist, das zeigt sich in Miracle Creek schon bald. Nachdem uns Angie Kim im Prolog an der Katastrophe teilhaben lässt, die sich in der Scheune in Miracle Creek ereignete, als die HBO-Druckkammer und mit ihr die Patienten in Flammen aufging, geht es dann im Hauptteil des Buchs um die Gerichtsverhandlung. Auf der Anklagebank sitzt Elizabeth, die sich mit ihrer Rolle als Schuldige abgefunden hat. Staatsanwälte, Richter, Verteidigung, alle sind bereit, um über sie Recht zu sprechen. Sogar eine Hinrichtung als Schuldspruch steht im Raum.

Lügen über Lügen

Doch dann beginnt Angie Kim damit, die verschiedenen Lagen aus Lüge, die sich um die Wahrheit gruppiert haben, langsam abzutragen. Auf Basis des Gerichtsprozesses kommen verschiedene Personen zu Wort. Da ist der Arzt, der mit den zwei Müttern und ihren autistischen Kindern in der Druckluftkammer saß. Da ist die koreanische Familie, die die Druckluftkammer und Scheune eigentlich betreuen sollte. Elizabeth selbst ist auch Teil der Wahrheit. Je weiter die Befragungen durch den Staatsanwalt und die Verteidigerin voranschreiten, umso klarer zeigt sich, dass in Miracle Creek gar nichts klar ist. Wie in einer Rückwärts-Kamerafahrt gelangen wir als Leser*innen von Angie Kim angeleitet langsam vom Scheunenbrand bis zurück zum Streichholz, das die Katastrophe auslöste.

Jede Figur hat ihre eigenen Geheimnisse. Untreue, Missgunst, Hoffart – die sieben Todsünden könnte man in diesem kleinen amerikanischen Kaff wunderbar durchexerzieren. Geschickt schafft es Angie Kim, die Widersprüche im Verhalten und die großen und kleinen Lügen Stück für Stück zu enthüllen. Eingeteilt in die vier Prozesstage wechselt sie immer wieder die Perspektiven und behandelt eine Vielzahl an Themen. Die Bewahrung der eigenen Identität in einem fremden Land, Anpassung, die Rolle als Mutter, der Wunsch nach Kindern – das alles sind Themen, die in Miracle Creek angerissen werden. Den inhaltlichen Schwerpunkt bilden in meinen Augen aber Missverständnisse und Lügen im Miteinander, die Kim uns zeigt.

Im Strudel der Unwahrheiten

Er versuchte mehrfach, Marys Blick zu fangen, sie zu warnen, ihm nicht zu widersprechen, aber sie starrte weiter auf den vollen Teebecher. Als Pak fertig war, herrschte längeres Schweigen, dann sagte Young: „Du hast nichts weggelassen? Das ist wirklich die ganze Wahrheit?“ Ihre Miene war gefasst, aber in ihrer Stimme schwang ein leises Flehen mit, eine Traurigkeit, umhüllt von verzweifelter Hoffnung, und er wünschte, er könnte sagen, selbstverständlich hatte er nichts ausgelassen, sie würde ihn doch kennen, sie wüsste doch, dass er kein Mann war, der für Geld das Leben anderer Menschen aufs Spiel setzte.

Aber das sagte er nicht. Manche Dinge waren einfach wichtiger als Ehrlichkeit, selbst der eigenen Frau gegenüber. Er sagte „Ja, das ist die ganze Wahrheit.“ und redete sich ein, dass es nur zu ihrem Besten war. Denn die wirkliche Wahrheit würde sie nicht verkraften.

Kim, Angie: Miracle Creek, S. 457

Angie Kims Buch ist ein Gerichtsthriller, aber auch ein Familienroman, der trotz des klassischen Settings näher an Celeste Ng als an John Grisham ist. Natürlich hält sie mit immer neuen Enthüllungen und Twists die Geschichte am Laufen. Aber im Kern ist Miracle Creek in meinen Augen ein Familiendrama, das eindringlich die möglichen Konsequenzen von fehlender Kommunikation und psychologischen Eigendynamiken belegt. Ein Blick tief hinein in einen Strudel aus Unwahrheiten und Lügen, der sich spannend und psychologisch glaubhaft liest.

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Tom Hillenbrand – Qube

Tom Hillenbrand ist einer der spannendesten deutschsprachigen Autoren der Gegenwart. Egal ob Kulinarik-Krimi (die Xavier-Kieffer-Reihe), historischen Abenteuerroman (Der Kaffeedieb) oder Sci-Fi-Thriller. In allen Sparten erstaunlich originell und stilsicher erzählt der Journalist seine Geschichten und schafft es, immer glaubwürdige Kosmen zu schildern. Sein neues Buch macht da keine Ausnahme. Mit Qube geht es zurück in die Zukunft, die er schon in Drohnenland und Hologrammatica beschrieb.


Wir schreiben das Jahr 2091. Dank der Hologrammtechnik sieht alles auf den ersten Blick tadellos aus. Fassaden und Innenräume lassen sich in Sekundenschnelle je nach Geschmack gestalten. Der Klimawandel hat zur Verödung ganzer Landstriche und Regionen geführt. Das Weltall ist von den unendlichen Weiten zum unendlichen Ressourcenlager degradiert worden. Wer reich genug ist, kann sein Gehirn digitalisieren und sich dann in jeden beliebigen Wirtskörper transferieren lassen. Diese schöne neue Welt hat, wie schon zuvor in Hologrammatica beschrieben, allerdings ihre Abgründe.

Auf diese Abgründe ist auch der Enthüllungsjournalist Calvary Doyle gestoßen. Seine Recherchen kann er allerdings nicht mehr vollenden. Denn durch einen Kopfschuss wäre er um ein Haar ums Leben gekommen. Doch die Kugel verfehlt die wichtigsten Bereiche in Doyles Hirn um Haaresbreite. Dank der Quant-Technologie kann sich Doyle in einen neuen Körper laden. Die Erinnerung an die entscheidenden Tage und damit die entscheidenden Erkenntnisse seiner Recherche sind allerdings verloren.

Der Fall des Journalisten lässt bei der UNANPAI-Behörde die Alarmglocken schrillen. Denn die Behörde überwacht alles, das mit Künstlicher Intelligenz zu tun hat. Deren Direktor setzt Fran Bitter auf den Fall des fast ermordeten Enthüllungsjournalisten an. Womit hat sich dieser beschäftigt und wer will diese Erkenntnisse unter Verschluss halten? Fran Bitter beginnt mit den Ermittlungen, die sie von der Erde bis zu den äußersten Grenzen des Erdorbitgürtels führen. Offenbar hat jemand aus der Hologrammtica noch einige Rechnungen offen…

Von der Erde bis ins All

Tom Hillenbrand beweist mit Qube einmal mehr, was Literatur kann. Komplett neue Welten erfinden, eine mögliche Zukunft realistisch beschreiben und unsere Realität einfach ein oder zwei Einstellungen weiterdrehen. Ihm gelingt eine Weltenschöpfung, die so plausibel wie erschreckend ist. Geschlechter und Körper haben keine Definitionsmacht mehr, vielmehr ist alles in dieser mit Hologrammen überkleisterten Welt Schein. Mit Fran Bittner stellt Hillenbrand ein*e faszinierende, genderfluide Held*in den den Mittelpunkt. Je nachdem in welchen Körper sie sich bei ihren Ermittlungen hochlädt, ist sie mal Mann, mal Frau. Eine faszinierende Leseerfahrung.

Und auch ansonsten kann Hillenbrands Hologrammatica-Universum weiterhin überzeugen. Im Vergleich zu Band 1 weitet er die Welt und die Komplexität seines Plots noch einmal aus. So sind es im Großteil des Buchs vier Erzählstränge, die parallel nebeneinander herlaufen. Erst zum Ende hin verweben sich die Erzählfäden und ergeben das Gesamtbild. Das kann bei manchem Leser schon phasenweise für etwas Verwirrung sorgen, besonders, wenn man den Vorgängerband nicht gelesen hatte. Abhilfe schafft bei der Vielzahl des technischen Vokabulars aber auch ein angehängtes Glossar.

Wer Science-Fiction skeptisch gegenübersteht, könnte mit diesem trotzdem glücklich werden. Auch ich selbst, der ich in diesem Genre normalerweise alles andere als zuhause bin, wurde hier gut unterhalten. Vor allem, weil das Buch im Kern immer noch ein Krimi ist. Die Handlung wird mit geschickt gesetzten Cliffhangern immer wieder vorangetrieben und weist einige erzählerische Volten auf. Die Kreativität und Schöpfungsfreude Hillenbrand ist mehr als beachtlich, dank der man auch den etwas klischeehaft geratenen Bösewicht gerne verzeicht. Am Ende steht mit Qube eine wirklich packendes Leseerlebnis, das ich hiermit gerne weiterempfehle!


  • Tom Hillenbrand – QUBE
  • ISBN 978-3-462-05440-8 (KiWi)
  • 560 Seiten. Preis: 12,00 €
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Meine Leipziger Buchmesse daheim

Wäre, wäre, Fahrradkette, wie der große Philosoph und Fußballversteher Lothar Matthäus einst bemerkte. Da hat man das Zimmer und die Bahnfahrt für die Leipziger Buchmesse schon gebucht. Die Presseakkreditierung ist auch durch und die Termine ausgemacht. Interviews, Verlagsbesuche, Diskussionen: der Zeitplan steht. Und dann das: Absage der Leipziger Buchmesse, zum ersten Mal in der Geschichte. Danke Coronavirus!

Eine unerwartete Lücke tut sich auf im Kalender – was soll man da machen? Nachdem auch noch offiziell das Rahmenprogramm Leipzig liest abgesagt wurde, entschied ich mich, die Reise nach Leipzig nicht anzutreten. Schade drum, besonders, da ich diesen literarischen Frühlingsjahrgang für ausgesprochen stark erachte.

Aber wenn ich schon nicht zur Buchmesse komme, dann will ich sie wenigstens in einer Form hier auf dem Blog stattfinden lassen. Ich habe mich entschlossen, hier als kleine Übersicht in meinen Augen wichtige Titel dieses Frühjahrs vorzustellen. Da eine solche Buchmesse ja auch immer ein soziales Get-together ist, wollte ich das Element des Miteinander über Bücher-Redens hier auf dem Blog ein bisschen nachbilden. Dafür versammele ich hier Besprechungen anderer Blogger*innen sowie ein paar eigene Rezensionen. Hoffentlich kann euch diese Auswahl auch ein bisschen inspirieren.

Nationale Literatur

Tobias vom Blog Buchrevier über den neuen Roman Die rechtschaffenen Mörder von Ingo Schulze.

Fräulein Julia über Irina Liebmanns Die große Hamburger Straße.

Meine Besprechung des aktuellen und gesellschaftlich relevanten Debüts von Cihan Acar: Hawaii

Marina alias Nordbreze hat eine Rezension zum neuen Buch von Kathrin Wessling verfasst. Der Titel des Buchs lautet Nix passiert.

Wolfgang Schneider auf Deutschlandfunk Kultur über Leif Randts neue Kreation Allegro Pastell.

Petra vom Blog Literaturreich ist mit der Bloggerin und Trauerbegleiterin Jasmin Schreiber in den Marianengraben abgetaucht.

Marcus schreibt für das Bücherkaffee und hat Christoph Kloebles neuen Roman Das Museum der Welt gelesen.

Jan Drees laß das Debüt Tauben leben von Paula Czienskowski und bespricht es auf Lesen mit Links.

Internationale Literatur

Hauke Harder vom Blog Leseschatz über Delphine de Vigans Dankbarkeiten.

Um das Buch Der Anhalter von Gerwin van der Werf kümmert sich Mareike vom Blog Bücherwurmloch.

Der Isländer Ragnar Helgi Olafsson hat ein Buch mit dem schönen Titel Handbuch des Erinnerns und Vergessens verfasst. Birgit vom Blog Sätze & Schätze hat es besprochen.

Tobi vom Blog Lesestunden hat sich das Buch Eisfuchs von Tanya Tagaq näher angeschaut.

Constanze schreibt auf Zeichen & Zeiten über ihre Lektüre von Ben Smiths Buch Dahinter das offene Meer.

Ich habe mit großer Begeisterung Liz Moores Krimi und Gesellschaftspanorma Long Bright River gelesen.

Die Klappentexterin kümmert sich um Sigrid Nunez‚ vielbesprochenes Werk Der Freund.

Eine Wiederentdeckung ist der bei Dörlemann erschienene Roman Die Berglöwin von Jean Stafford. Auf dem Hotlistblog wurde dieser besprochen.

Sachbücher

Lena vom Blog Wortgelüste über das Buch Sie hat Bock von Katja Lewina.

Alexandra vom Blog Bücherkaffee über Patrik Svenssons Das Evangelium der Aale

Hilma af Klint – noch nie gehört? Der Beitrag von Isabella auf Novellieren ändert das.

Und noch nicht von mir besprochen aber ganz oben auf meiner Liste in Sachen Nächster Titel: Kübra Gümüsay mit Sprache und Sein.


So viel erst einmal zu Titeln, über die ich auf anderen Blogs gestoßen bin und die ich mir auf der Buchmesse sicherlich einmal genauer angeschaut hätte. Jetzt müssen wir das halt digital nachholen. Welche Bücher sind eure Titel des Frühjahrs? Was hat euch begeistert oder abgeschreckt? Lasst es mich wissen!

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