Norbert Scheuer – Winterbienen

Die Biene, sie ist das literarische Tier der Stunde. Egal ob in Maja Lundes Megabestseller, bei Laline Paull oder Andrej Kurkow. Die Bienen ist im Moment der Star unter den Insekten. Dass das bayerische Volksbegehren für mehr Artenschutz den Titel Rettet die Bienen trug, sicher kein Wunder. Die Biene ist eines der Tiere, das den ökologischen Wandel und die gestiegene Aufmerksamkeit für die Umwelt am eindrücklichsten symbolisiert. Geht es den Bienen schlecht, geht es auch dem Menschen schlecht. Die Tiere sind ein einfacher Gradmesser für das ökologische Gleichgewicht – weswegen sie zunehmend auch in literarischer Form die Buchregale bevölkern.

Zu sagen, dass Norbert Scheuer mit Winterbienen auf ein Trendthema aufgesprungen ist, würde seinem Buch allerdings unrecht tun. Denn Winterbienen ist ein Buch, das konsequent das Oeuvre Scheuers fortsetzt, und das von den Schrecken des Zweiten Weltkriegs aus der Perspektive eines Daheimgebliebenen erzählt.

Norbert Scheuer auf der Shortlist

Schon lange wirkt Norbert Scheuer als literarischer Chronist der Eifel, der wie etwa Ralf Rothmann im Falle des Ruhrgebiets, die Geschichte seiner Heimat in Geschichten erzählt. 2009 war er damit sogar schon einmal für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert. Überm Rauschen hieß das Buch, das von Brüdern und ihrem Vater erzählte, die die Liebe zum Angeln in den Flüssen der Eifel einte.

Genau zehn Jahre später befindet sich Norbert Scheuer wieder auf jener Shortlist und könnte in einem Monat den Preis für das beste deutschsprachige Buch des Jahres zugesprochen bekommen. Verdient hätte er es auf alle Fälle.


Mein Urahn Ambrosius Arimond glaubte, alle Vögel unserer Erde besäßen eine gemeinsame Sprache. Sein Leben lang beschäftigte er sich mit der Entschlüsselung ihrer Gesänge, einer Welt magisch klingender Töne, Zeichen und Bedeutungen. (…)

Vater hatte uns oft von Ambrosius erzählt, dessen Aufzeichnungen zum größten Teil in den napoleonischen Kriegen verloren gegangen seien, nur ein paar vergilbte Pergamentpapiere sollen noch irgendwo in einer alten Holzkiste in einer Scheune liegen, handgeschriebene Seiten (…).

Scheuer, Norbert: Die Sprache der Vögel, S. 9

So beginnt der letzte Roman von Norbert Scheuer, indem er von einem Nachfahren jenes ornithologiebegeisterten Ambrosius Arimond erzählt, der 2003 als Sanitäter nach Afghanistan gelangt.

Dessen Pergamente und Aufzeichnungen spielen auch in Scheuers neuem Roman eine zentrale Rolle. Denn Ambrosius Arimond inspirierte nicht nur Paul Arimond aus Die Sprache der Vögel, sondern auch Egidius Arimond, ein weiterer Nachfahre des Mönchs. An dessen Leben haben wir mithilfe datierter Aufzeichnungen aus den Jahren 1944 und 1945 teil.

Meine Erinnerungen gleichen denen der Winterbienen in ihrem dunklen Stock; ich weiß nicht, ob etwas erst gestern gewesen ist oder schon lange Jahre zurückliegt. Sie erscheinen mir wie ein winziger Punkt in einem unendlichen Raum

Scheuer, Norbert: Winterbienen, S. 171

Das Überleben des Egidius Arimond

Dieser Egidius war als Gymnasiallehrer im kleinen Bergarbeiterstädtchen Kall tätig, bis der Krieg kam. Jetzt verdingt er sich mit der Aufzucht von Bienen, verkauft Honig, Bienenwachs und versucht über die Runden zu kommen. Als einer der wenigen Daheimgebliebenen schlägt ihm auch offen Ablehnung und Hass entgegen. Doch sein Verharren in der Heimat hat einen einfachen Grund: Egidius ist Epileptiker und muss sich seine Medizin unter Zahlung hoher Summen vom lokalen Apotheker besorgen. Dabei ist er auch auf seinen Bruder angewiesen, der ein dekorierter Kriegsheld in der Luftwaffe ist. Er soll ihm Rezepte und Arzneien zukommen lassen, denn offiziell darf niemand von Arimonds Erkrankung wissen. Denn für die Nazis ist Arimond ein klarer Fall von unwertem Leben und ein Schmarotzer, der eigentlich ein klarer Fall für ein KZ wäre.

Also versucht sich Egidius irgendwie durchzuschlagen. Das Geld für die Medizin verdient er sich dabei mit dem Schmuggel von Flüchtlingen. Diese schafft er in seinen Bienenkörben zur nahegelegenen belgischen Grenze. Ein riskantes Geschäft, bei dem das Leben aller Beteiligten auf dem Spiel steht. Und während die Medizin immer knapper wird, kommen die Angriffe der Alliierten näher und näher.

Ein stimmiges Kunstwerk

Winterbienen ist ein Kunstwerk auf ganz vielen Ebenen. Da ist zum Einen der Plot, der einmal mehr geschickt das Leben von Ambrosius Arimond mit dem von Egidius verknüpft. Dessen Forschungen zu seinem Ahn fließen wiederum auch sprachlich sehr überzeugend in die Prosa ein. So ist der Text von lateinischen Sentenzen und Aphorismen durchsetzt, die der Gymnasiallehrer auch durch seine Übersetzungen der Pergamente von Ambrosius gewonnen hat.

Ähnlich wie zuletzt Arno Geiger in Unter der Drachenwand zeigt auch Norbert Scheuer hier in großer Intensität das (Über)Leben an der Heimatfront der Versehrten und Zurückgebliebenen. Darüber hinaus erzählt er sehr gelungen von Bienen und Bombern, von der Schönheit der Natur, dem faszinierenden Miteinander in einem Bienenstock und ersetzt einen ganzen Imkerkurs. Einmal mehr setzt er seiner Heimat, der Eifel, ein literarisches Denkmal und erschafft mit Winterbienen ein weiteres Kunstwerk, das sich in sein Oeuvre wunderbar einpasst und das über den Schluss hinaus beschäftigt.


Weitere Besprechungen dieses Titels finden sich unter anderem bei Zeichen und Zeiten, dem Deutschlandfunk (von Jörg Magenau, der zugleich Jurysprecher beim Deutschen Buchpreis ist) und bei literaturleuchtet.

Herbstlese mit Buch-Haltung.com

Ja, der Sommer 2019 ist unwiederbringlich vorbei. Aber der Herbst bringt neben viel Lesezeit auf der warmen Couch drinnen auch einige tolle Veranstaltungen. Drei dieser literarischen Veranstaltungen, an denen ich mitwirken darf, stelle ich hier kurz im Folgenden vor.

29.09.2019 – Färberei Augsburg

Die Sommerpause der Literaturreihe Wein, Käse, Literatur ist vorbei. Im Herbst geht es jetzt wieder weiter. Erster Termin ist der 29.09, Beginn ist wie immer um 18:00 Uhr. Diesmal habe ich mir einen höchst kompetenten weiblichen Gast eingeladen, und zwar Tina Lurz, die auf RevolutionBabyRevolution auch als Bloggerin aktiv ist.

Mit ihr will ich übers Reisen und Bücher übers Reisen plaudern. Dazu gibts deutsche Weine, leckere Käseplatten und viel Spaß und Schabernack. Der Eintritt ist wie immer frei, Reservierungen in der Färberei kann man unter folgender Nummer veranlassen: 0821 50898267


11.10.2019 – Stadtbücherei Augsburg

Die Zentrale der Stadtbücherei Augsburg am Ernst-Reuter-Platz wird zehn Jahre alt. Sowas will natürlich gefeiert werden. Deshalb gibt es ein großes Rahmenprogramm (unter anderem veranstalten wir einen Story-Walk für Kinder quer durch die Stadt oder eine Podiumsdiskussion zur Zukunft des Lesens). Ein Punkt in diesem Rahmenprogramm ist auch der große Literaturabend mit Elke Heidenreich. Diese besucht am 11.10.2019 ab 19:00 Uhr die Stadtbücherei. Sie liest aus ihrem Buch Alles kein Zufall.

Im Anschluss gibt es wieder einen Literarischen Salon, bei dem auch Elke Heidenreich mit uns diskutieren wird. Die Bücher, über die wir hoffentlich engagiert streiten werden, sind folgende:

Karten zu 12,00 € gibt es bei uns in der Stadtbücherei sowie bei der Buchhandlung am Obstmarkt.


24.10.2019 – Volksbücherei Fürth

Im Herbst gastiere ich auch wieder im schönen Frankenland, genauer gesagt in Fürth. Nach der Frankfurter Buchmesse findet in der dortigen Innenstadtbibliothek wieder das Format Seitenblick statt.

Dabei diskutieren verschiedene lokale Persönlichkeiten über neue Bestseller, die der Lektüre lohnen (oder vielleicht besser nicht). Diesmal darf ich mit zwei weiteren Gästen über diese drei Bücher diskutieren:

Der Beginn dieser Veranstaltung in der Volksbücherei Fürth ist um 19:30 Uhr. Der Eintritt ist frei – und die Aussicht über den Dächern Fürths grandios. Kommen lohnt also auch in diesem Fall.

Ich würde mich freuen, wenn wir uns bei irgendeiner dieser Veranstaltungen über den Weg laufen würden. Bis dahin eine tolle herbstliche Lesezeit!

Wenn im Garten die Neurosen blühen

Lola Randl – Der große Garten

Mit Der große Garten steht die Filmemacherin und Autorin Lola Randl auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019. Ein Buch, das viele boomende Themen aufgreift: Gärtnern, Flucht aufs Land, das Dorf als Kulturclash, Naturerfahrung. Kein Wunder also, dass sich dieser Titel unter den Nominierten findet. Für mich persönlich ist die Platzierung aber fraglich, denn Randls Buch gelang es nur in Ansätzen, mich gut zu unterhalten. Woran das liegt? Hier im Folgenden ein paar Gründe für meine Probleme mit dem Buch.

Zu unentschieden

Ja, im Grunde basiert Der Große Garten auf dem Zyklus eines ganzen Gartenjahres. Und ja, es gibt einige Handlungsstränge, die Lola Randl hin und wieder aufgreift. Aber so etwas wie eine durchgängige Handlung, ein übergeordneter erzählerischer Bogen oder ein narratives Konzept vermisste ich in Randls großem Garten. Das Buch hat mehr Kapitel als Seiten (315) und zeichnet sich durch eine große Sprunghaftigkeit aus. Betrachtungen über den Garten werden von Reflektionen über das Zusammenleben mit dem Mann der Erzählerin abgelöst. Während es in einem Kapitel über die Tunnelgrabungen des Maulwurfs geht, sinniert die Erzählerin wenige Zeilen später über die Verwendung von Spritzgiften für die Pflege von Bordsteinkanten. Mal dreht sich alles um ihr Verhältnis zu ihrem Liebhaber, der ebenfalls im Dorf weilt, dann ist sie wieder bei der Geschlechtsreifung von Fröschen.

Alles ist drin in diesem Buch, das einer wild blühenden Gartenlandschaft gleicht. Zwischenmenschliches, Natürliches, soziale Betrachtungen, Philosophie. Allem wird in diesem Buch Platz gegeben, eine wilde Entropie herrscht vor. Dabei fehlte mir, um im Bild des Gartens zu verweilen, ein Gärtner oder eben eine Gärtnerin. Eine, die dem wild wuchernden Durcheinander zu Leibe rückt, die eine Idee für die formale und inhaltliche Ausgestaltung hat und auch einmal beherzt eine Schneise in das Durcheinander schlägt. Will das Buch ein Gartenratgeber sein? Oder ein Dorfroman? Oder das Psychogramm einer gestressten Berlinerin? In dieser Form ist der Garten eher ein Urwald, in dem man sich verlieren kann.

Die Erzählerin als Neurosengärtnerin

Ebenso sprunghaft wie die Handlung dieses Buchs ist die Erzählerin selbst. Mir drängte sich der Eindruck auf, dass in Lola Randls großem literarischen Garten das Einzige, das mit Beständigkeit und großem Ertrag blüht, die Neurosen sind. Ständig schwankt die Erzählerin zwischen ihrem Mann und dem Liebhaber hin und her. Dessen Funktion als Liebhaber möchte sie in ihrem Dorf (ausgerechnet einem Dorf!) verschleiern, weshalb sie sich stets durch die Hintertür zu ihrem Geliebten schleicht.

Dann ist da auch noch ein Analytiker in Berlin, den die Erzählerin immer wieder konsultiert. Bei diesen Sitzungen steht aber eher die gegenseitige Lustbefriedigung im Mittelpunkt. Weswegen es natürlich zur Ergänzung eine Therapeutin gibt, die die Erzählerin aufsucht. Diese rät ihr zu Achtsamkeitsübungen, mit denen sie die eigene Mitte finden soll (siehe auch der Punkt Klischees). Die Elternrolle ihren Kindern gegenüber füllt die Erzählerin nur höchst sporadisch aus. Ihrem Kind Gustav Schranken zu setzen und Regeln durchzusetzen, das ist nicht so das Ding der großen Gärtnerin. Oder wie sie selbst konstatiert:

Es muss irgendeine Möglichkeit geben, ihm [Gustav] meine Überlegenheit zu beweisen, aber mir fällt außer Bestechung oder Gewalt keine ein. Wahrscheinlich gibt es keine andere Möglichkeit, weil ich dem Gustav ganz einfach nicht überlegen bin, sondern der Gustav mir. Ich kann nur versuchen, ihn mir wohlgesonnen zu stimmen, dann habe ich mit ein wenig Glück ein etwas angenehmeres Leben. Ich habe nicht damit gerechnet, dass Gustav Waffen hat, gegen die ich wehrlos bin. Ich kann eigentlich nur noch überlegen, ob ich mich jetzt gleich ergebe oder später.

Randl, Lola: Der Große Garten, S. 196

Erinnere: Wir sprechen hier von einem Kleinkind. Es liegt auch an mir, aber eine derartige Schluffigkeit bis Zahnlosigkeit einer Erzählerin, das macht mich schier wahnsinnig und lässt sich nicht mit Humor wegargumentieren. Da helfen auch keine Sitzungen beim Analytiker oder bei der Therapeutin.

Der Tonfall

Ebenso naiv wie die Erzählerin in vielen Szenen auftritt, so naiv ist auch der Tonfall des Buchs. Alle Charaktere werden stets mit Artikel präsentiert, viele erhalten nur Rollenbezeichnungen. So gibt es den Liebhaber, den Mann, den Hermann und die Irmi. Wenn von menschlichen Ausscheidungen die Rede ist, dann wird hier von Pippi und Kacka gesprochen. Ausgesprochen infantil, in einem Charlotte-Roche-mäßigen Erzählton, so kam mir die Prosa aus der Feder Lola Randls vor.

Stellenweise ist das auch wirklich witzig oder erinnert mit seinem Duktus in den Naturkundebeschreibungen an Die Sendung mit der Maus. Oder es findet sich so etwas hier:

Die junge Glucke aber, die sich entschieden hatte, Kinder zu bekommen, von dem Hahn, der sie tags zuvor besprungen hatte, war eine moderne Glucke, die nicht mehr als zwei Kinder wollte. Auch der Vater blieb treu und übernahm Betreuungsaufgaben, sodass sich auf dem Permakulturhof mit zwei Elternteilen auf zwei Küken ein für Hühner ungewöhnlich guter Betreuungsschlüssel ergab.

Randl, Lola: Der Große Garten, S. 176

Aber als erwachsener und mit Roman übertitelte Roman konnte mich das über die Länge hinweg allerdings nicht überzeugen.

Die Klischees

Ich kann mir nicht helfen, aber der Große Garten ist für mich eine einzige Ansammlung von Klischees. Da ist schon einmal die Erzählerin selbst, die diese in sich versammelt: gestresste Berlinerin, Sitzungen beim Analytiker, Polyamorie, Achtsamkeitsübungen, Flucht aufs Land, Gärtnern als meditative Übungen. Diese Erzählerin fusioniert alle Klischees von Berlin Mitte bis Prenzlauer Berg in sich.

Dann gibt es ja auch noch das Dorf, das einerseits von Gestalten wie der Erzählerin selbst heimgesucht wird, sowie auf der anderen Seite die lokale Bevölkerung. Dicke Ex-LPG-Mitarbeiter, die nun die im eigenen Garten weiterhin die Broiler halten treffen auf sinnentleerte Kommunikationsdesignern, die im Dorf Workshops abhalten, um Inspiration für andere Workshops zu erhalten. Japaner, die das Dorf für sich entdecken und in Horden einfallen, Bauten, die seit der Wende verfallen. All diese Bilder und Klischees kennt man schon zur Genüge.

Wie man klug und dabei auch höchst unterhaltsam die Stadt-Land und Ost-West-Bruchlinien offenlegt, das zeigte Juli Zeh in ihrem Bestseller Unterleuten um Klassen besser. Im Falle des Großen Gartens finde ich die Inszenierung platt und unspannend. Dem Genre des modernen Dorfromans fügt Lola Randl so nicht viel Neues hinzu.

Die Außengestaltung

Ein letzter Minuspunkt, der neben der Bewertung des Inhalts für mich noch ins Gewicht fällt, ist der der Außengestaltung. Natürlich ist die Weisheit Never judge a book by it’s cover unverbrüchlich und der Verlag Matthes & Seitz Berlin ist eigentlich ein Hort des Geschmacks und der Stilsicherheit (man schaue sich nur einmal die Naturkunden an). Wie bei diesen zeichnet sich auch hier Judith Schalansky für die Gestaltung des Buchs kenntlich. Aber was ist diesmal dabei herausgekommen?

Ein Cover, für die ich eher eine Grundschulklasse aus Augsburg-Oberhausen oder die Büchergilde Gutenberg verdächtigt hätte, als den renommierten Indie-Verlag aus Berlin. Naiv gezeichnete Maulwürfe, barbusige Frauen, die hinter Felsen hervorlugen, und ein streckbankverlängerter Wolf, der einem orangegesichtigen Grillz-Träger die Brust anknabbert. Was wollten uns Judith Schalanksy und der Cover-Illustrator Künstler Cristóbal Schmal damit sagen? Es bleibt wie so vieles im Buch ein Rätsel.

Aber immerhin konsequent – hier ergeben Cover und Leseeindruck eine stimmige Gesamterfahrung. Für mich eine Enttäuschung, die ich nicht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises in diesem Jahr sehe!


Nicht versäumen wollte ich, noch auf dieses Interview mit Lola Randl auf dem Buchpreisblog hinzuweisen, in dem sie Auskunft über ihr Buch und das Leben auf dem Dorf gibt.

Hummer und Sorgen

Erik Fosnes Hansen – Ein Hummerleben

Und weiter geht es in der losen Reihe #norwegenerlesen hier in der Buch-Haltung. Heute mit dem neuen Buch von Erik Fosnes Hansen, das im Original 2016 in Norwegen erschien. Drei Jahre später liegt Ein Hummerleben nun in der Übersetzung durch Hinrich Schmidt-Henkel auch auf Deutsch vor.

Erik Fosnes Hansen gelangte mit seinem Roman Choral am Ende der Reise zu großer Bekanntheit über die Grenzen Norwegens hinaus. Darin beschreibt er die Lebensgeschichte von sieben Musikern, die auf einem Schiff dessen Jungfernfahrt begleiten sollen. Bei jenem Schiff handelt es sich allerdings um die Titanic, die ihren Zielhafen nie erreichen wird. Nun also das neue Buch des norwegischen Schriftstellers.

Ein Hummerleben beschreibt das Leben im norwegischen Berghotel Fåvnesheim. Das Tun und Treiben in diesem Hotel bekommen wir durch die Augen von Sedd, kurz für Sedgewick, erzählt. Er wächst in diesem Hotel unter der Obhut seiner Großeltern auf. Seine Herkunft – oder Provenienz, wie seine österreichstämmige Großmutter es auszudrücken pflegt – liegt etwas im Unklaren. Doch nicht nur über seine Herkunft weiß Sedd zu Beginn des Buches nicht wirklich Bescheid. Auch die wirtschaftliche Lage des Berghotels und damit die Lage seiner Familie enthüllt sich den Kinderaugen erst nach und nach.

Erik Fosnes Hansen - Ein Hummerleben (Cover)

Dabei ist das Hotel durchaus respektabel. In einem großen Wasserbassin im Hotelrestaurant wohnen zahlreiche Hummer, die sich die Gäste je nach Gusto zur Mahlzeit aussuchen können. Zahllose Hotelzimmer, eine Minigolfbahn und ein Schwimmbecken zählen zu den Merkmalen von Fåvnesheim. In den Hotelgängen, in der Küche oder in der Lobby ist stets Sedd anzutreffen, der als Hotelboy überall dort zur Stelle ist, wo man ihn braucht. Denn von seinem Großvater, dem Hoteldirektor Zacchariassen, hat er die Maxime übernommen „Für die Gäste nur das Beste“.

So umsorgt Sedd die Gäste, die zum großen Kummer seiner Großeltern in immer geringerer Frequenz das Hotel aufsuchen. Langsam dämmert auch Sedd, dass das Hotel seine besten Zeiten schon hinter sich hat. Aber als 11-jähriger hat man auch andere Sorgen. So erlebt er Angelausflüge, muss mit einem jungen weiblichen Hotelgast die Minigolfbahn unsicher machen und versucht das Geheimnis seiner Herkunft zu ergründen.

Zwischen Leben und Tod

Es ist kein Wunder, dass Erik Fosnes Hansen an den Beginn seines Textes ein Zitat von Frances Hodgson Burnett aus Der Kleinen Lord setzt.

Cedric himself knew nothing whatever about it. It had never been mentioned to him.

[Cedric ahnte von alle dem nichts. Man hatte es ihm gegenüber nie erwähnt. (Eigene Übersetzung)]

F. Hodgson Burnett: Little Lord Fauntleroy

Ähnlich unschuldig-naiv wie der kleine Lord in Burnetts Erzählung wirbelt auch Sedgewick das Leben seiner Großeltern durcheinander. Großartig gelingt es Erik Fosnes Hansen, die kindliche Perspektive einzunehmen, dabei aber auch immer schon einen Blick in die Erwachsenenwelt hineinzuwerfen. Sedds Tun und Treiben erinnert in manchen Passagen auch an den Hotelboy Zero Moustafa in Wes Andersons Film Grand Budapest Hotel.

Im Ganzen gesehen ist Ein Hummerleben auch ein Roman, der den Tod und das Leben auf eindrückliche Weise miteinander verbindet. So ist es kein Zufall, dass das Buch gleich mit einem Todesfall beginnt. Immer wieder wird so die scheinbar idyllische Welt in den abgelegenen Bergen Norwegens kontrastiert. Besonders eindrücklich ist da auch die Szene zum Ende des Buchs hin, als eine hochkomische Weihnachtsfeier nur Bruchteile von einem schrecklichen Todesfall entfernt ist. Diese Dichotomie auf nur wenigen Seiten so miteinander verbunden zu bekommen, das ist große schriftstellerische Klasse.

Insgesamt ist Ein Hummerleben eine wirklich großartige Lektüre, die noch einmal den verblassenden Glanz eines Hotels und eine Kindheit in den norwegischen Bergen auf Papier bannt. Eine große Empfehlung meinerseits, auch als Einstieg in die reichhaltige norwegische Literaturszene!

So spannend wie trockenes Mondgestein

Ulrich Woelk – Der Sommer meiner Mutter

Es bietet sich natürlich an, im Jahr 2019 ein Buch über die Mondlandung 1969 zu veröffentlichen. 50-jähriges Jubliäum des Armstrong’schen Monspaziergangs – da könnte man doch noch mal prima drüber schreiben, wie sich das damals so angefühlt hat. Muss sich auch Ulrich Woelk gedacht haben, der mit Der Sommer meiner Mutter ein Buch vorlegt, das es in Sachen Spannung, Sprache und Tiefenwirkung jenem trockenen Mondgestein aufnehmen kann, über das Neil Armstrong 50 Jahre zuvor wandelte.


Dabei packt Woelk alles in das Buch, was dieses Jahr 1969 so besonders machte. Die 68er-Revolte hat das Land durchgeschüttelt, die sexuelle Befreiung ist auf dem Vormarsch. Frauen emanzipieren sich, das Wirtschaftwunder klingt endgültig ab. Das lunare Wettrennen zwischen der UdSSR und Amerika ist im vollen Gange – da liegt der Stoff natürlich förmlich auf der Hand.

All diese Themen bündeln sich in den beiden Familien, die Woelk in den Mittelpunkt seines nicht einmal 200 Seiten umfassenden Romans setzt. Da ist zum einen Tobias, der 11-jährige Ich-Erzähler, durch dessen Augen man die Handlung erlebt. Zusammen mit seiner Mutter und seinem Vater leben sie am Stadtrand von Köln, ein kleines Einfamilienhaus ist ihr Zuhause. Die Beziehung atmet die typischen Konventionen der Zeit. Während der Vater das Geld verdient, fügt sich Tobias‘ Mutter in die Rolle als Hausfrau.

Die Wahlverwandschaften am Kölner Stadtrand

Die Spiegelung dieser zeittypischen Familie bilden die Leinhards, eine Familie, die das nebenstehende Haus beziehen. Sie übersetzt, er ist als Philosophie-Dozent an der Uni tätig. Rosa, ihre Tochter sticht durch viel Altklugheit davor – und fasziniert gerade dadurch Tobias. Mit dieser Familie kommt ein ganz neuer Geist in die Nachbarschaft, der mit dem konservativen rheinländischen Katholizismus von Tobias Elternhaus kontrastiert. Die Leinhards hegen Sympathien für den Kommunismus, mussten aufgrund nebulöser Gründe aus Griechenland fliehen und stehen für ein neues Beziehungsbild.

Es entspinnt sich eine Handlung, die an die Wahlverwandschaften Goethes erinnert. Beide Ehepartner fühlen sich zu den anderen Partnern hingezogen (so zumindest Tobias‘ Wahrnehmung), während dieser selbst Rosa näherkommt und das erlebt, was man heute als Coming-of-Age bezeichen würde, sexuelle Initiation inklusive. Was bei Goethe schon nicht gut ausgeht, tut es bei Woelk schon erst recht nicht. Ein Geheimnis ist das mitnichten, schon der erste Satz des Romans nimmt dies vorweg.

Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.

Woelk, Urlich: Der Sommer meiner Mutter, S. 7

Damit ist natürlich auch die Spannung bzw. die Überraschung im Buch schon perdu. Wie es ausgeht, das überrascht nicht wirklich. Die Gestaltung eines dramatischen Bogens scheint Ulrich Woelk in Der Sommer meiner Mutter aber auch nicht wirklich zu interessieren. Chronologisch wird die ganze Handlung heruntererzählt, die es zu keinem Zeitpunkt schafft, so etwas wie eine Metaebene oder eine tiefergehende zweite Handlung hinter der erzählten Hauptebene zu entwickeln.

Bräsig wie eine Reihenhaussiedlung

So bräsig und banal wie die Reihenhaussiedlung am Stadtrand bleibt auch die Gestaltung der Kapitel, die Titel wie Neue Nachbarn oder Mädchen sind so tragen. Das Ganze las sich für mich ungeheuer rückwärtsgewandt und so spannend wie eine überbelichtete Fotografie aus den 60ern. Wenn es Woelks Ziel war, diese verschlafene BRD-Stimmung in Worte zu gießen, dann hat er das durchaus geschafft. Aber mir war diese in kunstlose und völlig austauschbare Sprache gekleidete Geschichte viel zu wenig, auch als Erinnerung an das Jahr 1969. Gerade in diesem Jubliäumsjahr werden wir ja mit Erinnerungen, Dokumentationen und Reportagen in mannigfaltiger Form überschüttet. Von diesen Rückblicken kann sich Woelks Buch leider überhaupt nicht absetzen und fügt der 69er-Nostalgie in meinen Augen nichts Wesentliches hinzu.

Natürlich ist es okay, diese Zeit wieder aufleben zu lassen und sich den Erinnerungen hinzugeben. Auch ein nostalgisches Buch über Kindheitserinnungen und die Mannwerdung in vergangen Zeiten ist ja erlaubt und bekommt seinen Platz. Aber dennoch stelle ich mir die Frage, ob es solch ein rückwärtsgewandtes Buch auf der Longlist des Deutschen Buchpreises 2019 braucht. Gewiss, der Blick zurück dominiert auch bei den bisher ausgezeichneten Titeln. Ich selbst würde aber mir mehr inhaltliche und formale Wagnis von einem Buch wünschen, das auf dieser Liste steht. Ein Buch, das Ideen für unsere Zeit liefert, das sich der Komplexität der Welt da draußen stellt. Der Sommer meiner Mutter von Ulrich Woelk tut dies in meinen Augen leider nicht. Schade drum!