C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen

Gar nicht so paradiesisch, dieses Land Wo Milch und Honig fließen. In ihrem neuen Roman erzählt C Pam Zhang von einer Enklave reicher Menschen, die mit den Segnungen von Technologie und unermesslichem Reichtum die grassierende Klimakatastrophe überleben wollen. Die Arche Nova trifft dabei auf Spitzencuisine.


Diese Chuzpe muss man erst einmal haben. Denn obwohl ihr eigentlich die formalen Qualifikationen für einen mehr als exklusiven Job als Köchin fehlen, bewirbt sich die namenlose Ich-Erzählerin in C Pam Zhangs neuem Roman trotzdem auf die Stelle als Spitzenköchen für eine Forschungsgemeinschaft in den italienischen Alpen, wie es in der Anzeige heißt.

Der kreativ frisierte Lebenslauf macht es möglich, dass die Erzählerin auf den Berg dort im französisch-italienischen Grenzland eingeladen wird, wo sie für ihre Auftraggeber Menüs auf Spitzenniveau zubereiten soll.

Das Ganze stellt sich als reichlich paradoxer Job heraus. Denn während auf dem abgeschotteten Areal des Bergs sich eine Elite aus finanzkräftigen Investoren und Risikokapitalgebern zurückgezogen hat, um dort zu dinieren und scheinbar allen irdischen Sorgen enthoben die feine Lebensart zu genießen, ist die Welt am Fuß der Berge längst in Chaos und Monotonie versunken.

Kochen in der Klimakatastrophe

C Pam Zhang - Wo Milch und Honig fließen (Cover)

Ein Smog hat die Ökosystem vollständig zum Erliegen gebracht. Die Flora und Fauna verenden, das einzige Nahrungsmittel, das der Menschheit das Überleben sichert, ist Mungoprotein-Soja-Algenmehl. Die USA haben die Grenzen längst dichtgemacht und so sitzt die Erzählerin fern ihrer Heimat fest, als sie dann auch noch die Nachricht vom Tod ihrer Mutter und der Zerstörung der eigenen Wohnung in Chicago erreicht. Inmitten dieser hoffnungslosen Lage ist es der Mut der Verzweiflung, die die Erzählerin zu einer Köchin dort droben auf dem Berg werden lässt.

So experimentiert sie zusammen mit Aida, der Tochter der Milliardärs und Enklavengründers, in der Küche diverse Genüsse aus, die aus den Zuchthäusern der Kolonie stammen. Zwischen Sinnlichkeit und Ekel bewegen sich dabei die Menüs, die sie ihren Gästen kredenzen. Exklusives Fleisch, sogar von schon ausgestorbenen Wollmammuts, Schildkrötenblut oder Pflanzen, die außer dem Land Wo Milch und Honig fließen schon längst verschwunden sind. An scheinbar nichts mangelt es dort oben auf dem Berg, auf den mithilfe der Menüs die reichen Geldgeber angelockt werden sollen, auf dass die Elite dort hoch droben am Berg noch exklusiver und finanzkräftiger werde.

Doch nicht nur mit Menüs soll die Erzählerin die Elite verwöhnen und unterhalten. Schon bald schlüpft sie in die Rolle der verstorbenen Gattin des Enklavengründers, um auch auf diesem Wege eine enge Bindung der Gäste an das wahnwitzige Projekt zu erzeugen Doch wie lange kann es funktionieren, etwas vorzugeben, das man nicht wirklich ist?

Dystopie und Climate Fiction mit biblischen Bezügen

Es ist eine spannende Mischung aus Dystopie, Climate Fiction und Arche Nova-Neudeutung, die C Pam Zhang in ihrem neuem Roman mischt. Die Abschottung der Reichen, der schon fast unverschämte Luxus, an dem auch die Erzählerin ihren Anteil hat, indem sie verschwenderisch mit Zutaten experimentiert und die exklusiven Kochergebnisse dann teilweise in die Schlucht auf dem Berg entsorgt, all das neben der im Hintergrund dräuenden Klimakatastrophe, das bildet den Spannungsbogen dieser Geschichte, die sich nicht nur durch den Titel auf die biblischen Erzählungen bezieht.

Schlussendlich nimmt Zhangs Erzählung auch Züge der biblischen Episode rund um die Arche Nova an, als sich der Milliardär zum modernen Noah berufen fühlt und für den Fortbestand der menschlichen Spezies eigene Auswahlkriterien anlegt, um diese mit sich in einem Raumschiff in ein neues gelobtes Land zu bringen.

Fazit

Mit Wo Milch und Honig bewegt sich Zhang in Nachbarschaft von T. C. Boyle, der sich jüngst in seinem Roman Blue Skies ebenfalls an einer Vorschau unseres möglichen Lebens und Arrangements mit der Klimakatastrophe versuchte – obschon bei Boyle der Himmel noch deutlich blauer ist als in Zhangs düsterer Dystopie. Auch weißt ihr Roman Anklänge an den Fatalismus und die Problemlösungsstragie aus Adam McKays Filmsatire Don’t look up auf.

Sicherlich keine leichte Lektüre, aber eine erschreckend plausible Vorausschau dessen, was uns schon in wenigen Jahrzehnten drohen könnte, wenn wir so weitermachen wie bisher in Sachen Umweltschutz, Abschottung, Raubbau an der Natur und Entkopplung der reichen Eliten von der Gesamtverantwortung für diese Welt. Paradiesisch wird das sicher nicht, wenn wir C Pam Zhang folgen!


  • C Pam Zhang – Wo Milch und Honig fließen
  • Aus dem amerikanischen Englischen von Eva Regul
  • ISBN 978-3-10-397543-7 (S. Fischer)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

Eine Frau sitzt in ihrem Hotelzimmer und reflektiert über ihr Leben als Mutter, Übersetzerin und Ehefrau. Mit Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten legt die Schriftstellerin Slata Roschal eine wenig hoffnungsfroh stimmende Lektüre vor, die durch ihre pointierten Betrachtungen und Sentenzen überzeugt.


Im Februar 2022 erschien im fränkischen Indie-Verlag homunculus das Debüt von Slata Roschal. In 153 Formen des Nichtseins unternahm die Erzählerin eine identitätspluralistische Eigenerkundung, die auch die Jury des Deutschen Buchpreises überzeugte. Sie wählte den Roman vor zwei Jahren auf die Longlist des Preises.

Nun liegt zwei Jahre später der neue Roman von Slata Roschal vor. Der Verlag hat gewechselt, die Kreativität in Sachen Titelfindung ist geblieben Und auch inhaltlich gibt es einige Berührungspunkte mit der Introspektion in Roschals Debüt. Denn auch in Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten geht der Blick hauptsächlich nach innen und bringt die verschiedenen Facetten der Ich-Erzählerin zum Vorschein.

Selbsterkundungen einer Frau

Dies geschieht, während sich die Übersetzerin in ihrem Hotelzimmer in Berlin befindet. Schon lange ist sie nicht mehr ohne ihren Mann und die zwei kleinen Kinder Laura und Eliah verreist. Doch nun ist das Bedürfnis nach Abstand von ihrem Alltag als Mutter und Übersetzerin am Rande eines prekären Beschäftigungsverhältnisses zu übermächtig geworden, als dass sie es weiter hätte ignorieren können. Getrennt von ihrer Familie möchte sie ein Seminar besuchen und während ihres Aufenthalts einen Brief an die Familie verfassen.

Dieser Brief ist ein Stück weit auch das Gegenmodell zu den Briefen, mit denen sie sich während ihres Aufenthalts in Berlin beschäftigt. Denn wo die historischen Auswandererbriefe von dem Bedürfnis nach Weite, neuen Erfahrungen und der Sehnsucht nach der Familie zuhause erzählen, da geht es der Erzählerin deutlich anders.

Sie fühlt sich eingeengt durch ihre Rolle als Mutter, die ihr wenig sinnstiftend und vielmehr überfordernd vorkommt. Denn wo andere Mutterschaft als Erfüllung ihrer Bedürfnisse sehen, verhindert für die Übersetzerin ebenjene Mutterschaft ihre eigenen Bedürfnisse, sodass das einzige, das angesichts von Unmengen an Care-Arbeit bleibt, lackierte Fingernägel sind, wie sie an einer Stelle des Buchs bitter feststellt.

Regretting Motherhood?

Überhaupt, dieser Blick auf Mutterschaft, er ist wenig von Freude, vielmehr von einem Gefühl der Erschöpfung und Überforderung geprägt. Die Erzählerin selbst überlegt, ob sie sich schon dem Phänomen der Regretting Motherhood zurechnen kann und findet für den eigenen Seelenzustand drastische Bilder:

Fühle mich wie ein morscher Baum, wie ein gefällter Baum, irgendwo im Sumpf, der so gut wie nicht mehr existiert, von dem sich neue Wesen nähren, Pilze, Moose, lassen ihre Wurzeln in ihn treiben, ziehen seine Säfte in ihre eigenen Körper, er hat seinen Sinn darin, einzugehen für neue Leben und von ihm selbst bleibt irgendwann nichts übrig.

Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

Es ist eine Lektüre, die die Übersetzerin selbst in die Nähe anderer weiblicher Wutausbrüche und Überforderungsanklagen stellt, indem sie beispielsweise im Text selbst auf ein im Rowohlt-Verlag erschienenes Buch anspielt, in dem sich eine Mutter eines Abends aus dem Fenster stürzt. Doch neben der so indirekt zitierten Mareike Fallwickl wären über die deutsche Sprachgrenze hinweg auch Rachel Yoder, Doireann Ní Ghríofa oder vor allem Sarah Moss als Bezugspunkte dieses Romans zu nennen.

Herkunft, Mutterschaft, Überforderung als Themen des Romans

Neben der Reflektion ihrer eigenen Mutterschaft und ihrem Dasein als Ehefrau, Mutter und Übersetzerin ist es auch die eigene Herkunft, sowohl in familiärer als auch soziologischer Hinsicht, die sie als Tochter von Ausländern, so die Selbstbezeichnung, beschäftigt. Das Gefühl von Fremdheit und die Veränderungen in Bezug auf die eigenen Eltern sind Themen, die in dieser traurig-wütend-resignativ-selbsterkundenden Suada verhandelt werden.

Mag dem Ganzen zum Ende hinweg auch etwas die Luft ausgehen, so ist Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten doch ein durchaus eine literarisch interessante, wild sprudelnde Erkenntnissuche in Form einer Selbsterkundung, bei der man in Sachen und Verve, Rhythmik und inhaltlicher Polyphonie genau das sagen kann, was die Erzählerin über den Aufruhr in ihrem Inneren konstatiert:

All die Geister, die mich bevölkern, wütend mit den Fäusten drohen, Strafen prophezeien, oder mitleidig, ironisch kommentieren, manchmal glaube ich, ich sei ein Rahmen, eine Hülle für die Stimmen, die es sich bequem machen in mir, von meinen Ängsten zehren, dämonische Bewohner, werde von innen ausgehöhlt, aufgefressen.

Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten

  • Slata Roschal – Ich möchte Wein trinken und auf das Ende der Welt warten
  • ISBN 978-3-546-10076-2 (Claassen)
  • 176 Seiten. Preis: 22,00 €
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Menachem Kaiser – Kajzer

Grabungen in der eigenen Familiengeschichte, polnische Schatzsucher, ein unbekannter Verwandter, der die Konzentrationslager überlebt hat, ein mythenumrankter Goldzug – und die Geschichte eines Prozesses, der in seinem Anrennen gegen juristische Gegebenheiten etwas an Kleists Kohlhaas erinnert. Das alles bietet der US-amerikanische Autor Menachem Kaiser in seinem facettenreichen erzählenden Sachbuch Kajzer, dem für mein Empfinden ein etwas klarerer Fokus und mehr Kontur gutgetan hätten.


Menachem Kaiser dürfte es wie vielen von uns gehen. Man hat zwar eine grobe Ahnung der Familiengeschichte, aber die genauen Umstände der biographischen Herkunft liegen trotzdem im historischen Dunkel. Zwar wusste er als Sohn jüdischer Eltern von seinem Großvater, der im KZ überlebt hatte, recht viel mehr Erkenntniswert und Interesse war bei den nachfolgenden Generationen aber nicht, sodass er konstatiert:

Wir wussten, dass mein Großvater aus seiner Familie der Einzige gewesen war, der den Krieg überlebt hatte, dass seine Eltern und seine Geschwister ermordet worden waren, ebenso wie beinahe alle in seiner weiteren Verwandtschaft. Aber als Wissen war dies dunkle Materie.

Wir wussten nichts über sein Leben vor dem Krieg oder in der Zwischenkriegszeit. Wir wussten nicht, in welchen Konzentrationslagern er gewesen war oder wie sein Vater seinen Lebensunterhalt verdient hatte. Wir wussten nichts über seine Eltern, Tanten, Onkel, Cousin und Cousinen; mein Vater und seine beiden Geschwister – ganz zu schweigen von meiner Generation – hätten Mühe gehabt, die Namen der Geschwister meines Großvaters zu nennen; nicht einmal, wie viele es waren, hätten sie genau sagen können. Wir wussten, dass sie gestorben, hatten aber keine Ahnung, wer sie gewesen waren.

Menachem Kaiser – Kajzer, S. 13

Dieses Desinteresse änderte sich allerdings, als sich Menachem Kaiser im Zuge eines Forschungsstipendiums in Krakau aufhielt. Er, der eigentlich als Journalist und Autor arbeitet, wollte, wenn schon einmal vor Ort, dort dem persönlichen Erbe näherkommen, schließlich stammte sein Großvater aus Schlesien. Der Weg zum Ort des Aufwachsens seines Großvaters war somit nicht mehr weit, weswegen er sich daran machte, nach den familiären Wurzeln zu graben.

Ein enteignetes Haus in Sosnowiec

Für seine Suche erhielt Kaiser von seinem Vater eine Mappe mit ungeordneten Dokumenten. Aus diesen ging hervor, dass sein Großvater einst im Besitz eines Hauses im Ort Sosnowiec war, einem kleinen polnischen Ort. Als Jude war ihm dies während der Naziherrschaft allerdings enteignet worden.

Menachem Kaiser - Kajzer (Cover)

Zwanzig Jahre lang, so dokumentiert es das Konvolut, hatte sich der Großvater nach den Ereignissen des Zweiten Weltkriegs angestrengt, seinen enteigneten Besitz wiederzuerlangen. Ein hoffnungsloses Unterfangen, das von keinem Erfolg gekrönt war.

Diese Nachricht rüttelt Menachem Kaiser auf, sodass er sich als Nachfahre daranmacht, dieser historischen Ungerechtigkeit im Nachhinein Recht zu verschaffen. Wieder zurück in den USA strengt er mithilfe einer „Killerin“ geheißenen Rechtsanwältin einen juristischen Kampf an, um das einst verlorene Haus wiederzuerlangen. In Polen recherchiert er zu Geschichte des Hauses – wird dann aber auch noch auf einer anderen Front mit einer Entdeckung überrascht.

Schatzsucher und Familienforschung

Denn während Kaiser zu einem Schatzsucher in Sachen eigener Historie wird, stößt er auf einen anderen legendären Schatzsucher namens Abraham Kajzer, der einst den Holocaust überlebte und der zur inspirierenden Figur für polnische Schatzsucher wurde, die sich auf die Suche nach dem legendären Goldzug der Nazis begaben. Die Namensgleichheit mit diesem Abraham Kajzer macht Kaiser stutzig, und so entdeckt er eine faszinierende biographische Volte. Bei Abraham Kajzer handelt es sich um niemand anderen als den Cousin seines eigenen Großvaters.

Ein Umstand, der ihn bei anderen Schatzsuchern in geradezu legendäre Höhen hebt, die ihm von ihren Grabungen in der Historie und im polnischen Boden berichten wollen, während er vor Ort den Spuren des eigenen Großvaters und denen Abraham Kajzers nachspürt, der nicht nur die Konzentrationslager überlebte, sondern auch nach Israel auswanderte und ein Buch mit seinen Aufzeichnungen an die Zeit in den Lagern veröffentlichte.

Das alles ist natürlich – um im Bild zu bleiben – eine wahre erzählerische Goldgrube. Die unbekannte Verwandschaft, die Suche in Polen nach dem eigenen Erbe, das Graben in metaphorischer und tatsächlicher Hinsicht. Und dann ist da auch noch der Prozess um das Haus, den nun der Enkel als Erbe an des Großvaters statt führt und der dabei eine Ahnung vom massiven Umbau des polnischen Staats bekommt, als die autoritär regierende PiS-Partei eine Justizreform anstrengt, die Sand in das juristische Getriebe streut, das für Kaisers Geschmack eh schon zu umständlich und langsam läuft.

Eine erzählerische Goldgrube – nicht ganz ausgeschöpft

Leider holt Kaiser aus dieser Goldgrube nicht das Optimum heraus. Denn das, was die New York Times auf der Rückseite des Buchs eine „verschlungene“ Geschichte nennt, ist für meinen Geschmack deutlich zu verschlungen. Oder anders gesagt: mir fehlt es hier an klarer Fokussierung auf sein erzählerisches Anliegen.

Beständig mäandert das Erzählen zwischen der eigenen Familiengeschichte, Abraham Kajzers packendem Schicksal, dem Prozess rund um das Haus und die Spurensuche vor Ort sowie die Porträts polnischer Schatzsucher, ihre Mythen und die Faszination für den Zweiten Weltkrieg, Goldzug und Projekt Riese inklusive, hin und her.

All das sind zweifelsohne spannende Themen und für sich genommen auch schon einzelne Sachbücher wert. Im Zusammenwirken all dieser erzählerischen Motive wird daraus aber leider ein doch recht unkonturiertes und unentschlossenes Durcheinander, bei der immer wieder einzelne Erzählstränge abbrechen, die Gedanken Kaisers abschweifen oder wieder zu angefangenen Themen zurückkehren.

Statt sich auf die Wiederentdeckung seines familiären Erbes zu besinnen und dies einfach mit dem schon fast Kolhhaas’schen Prozess um die Wiederelangen des enteigneten Hauses und die dafür notwendige Dokumentation zu kombinieren, eröffnet Menachem für meinen Geschmack deutlich zu viele Baustellen und Nebenkriegsschauplätze, die die eigentlich so kraftvollen und beeindruckenden Themen etwas von ihrer Wirkung nehmen. Hier wäre erzählerisch weniger gewesen, um mehr in Form eines wirklich stringenten und überzeugenden Buch zu sein.

Fazit

Kajzer ist fraglos ein relevantes erzählendes Sachbuch, das gerade in diesen Tagen mit dem Thema der Erkundung der eigenen jüdischen Biografie einen wichtigen Punkt macht. Allerdings verliert sich dieses wichtige und interessante Thema im zu unfokussierten Allerlei zwischen Schatzsuchern und Mythenbildung, um in letzter Konsequenz zu überzeugen. Hier wäre ein stärkeres Lektorat und ein klar erkennbarer erzählerischer roter Faden Trumpf gewesen.


  • Menachem Kaiser – Kajzer
  • Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer
  • ISBN 978-3-552-07339-5 (Zsolnay)
  • 336 Seiten. Preis: 28,00 €
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Paul Murray – Der Stich der Biene

Mit Der Stich der Biene liefert Paul Murray den eindrücklichen Beweis, dass auch Iren einen Great American Novel schreiben können. Er erzählt in seinem für den Booker Prize nominierten Roman im Gewand eines Familienromans von der Vorzeigefamilie Barnes, in der jedes Mitglied doch auf eigene Weise unglücklich ist – und vom Crash der irischen Wirtschaft, der sich ebenfalls im Inneren der Familie niederschlägt.


Vater Dickie, Mutter Imelda, Tochter Cass und Sohn PJ. Was auf den ersten Blick wie eine perfekte Familie irgendwo in einer Kleinstadt im Herzen von Irland wirkt, bekommt auf den zweiten Blick erheblich Risse. Denn das alte Tolstoi’sche Diktum von den unglücklichen Familien, die alle auf ihre eigene Art unglücklich sind, es trifft auch auf die Barnes zu.

Eine irische Vorzeigefamilie?

Um das zu zeigen, lässt sich Paul Murray allerdings viel Zeit und Raum. Er erzählt separat von allen vier Familienmitgliedern und findet für jede Figur einen eigenen erzählerischen Tonfall (übersetzt von Wolfgang Müller). So knabbert Vater Dickie an der Rezession, die die gesamte irische Wirtschaft erfasst hat und für Massentlassungen gesorgt hat. Auch an der Familie Barnes geht der Crash nicht spurlos vorüber, denn das familieneigene Autohaus steht kurz vor dem Aus. Früher hatte es sein Vater Maurice als sein Lebenswerk zu Glanz und Blüte geführt, nun ist sein Sohn Dickie gezwungen, die Filiale im Nachbarort zu schließen und wird in der Folge auch zum Stadtgespräch.

Die Krise hatte die Hauptstraße in ein Maul voller Zahnlücken verwandelt. Große und kleine Geschäfte hatten in der Folge zugemacht. Aber die Pleite der Niederlassung empfanden die Stadtbewohner als eine ganz andere Größenordnung. Ein so verwirrender Niedergang wie der der Familie Barnes konnte nicht nur ökonomische Gründe haben. Da musste es ein moralisches Element geben.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 50
Paul Murray - Der Stich der Biene (Cover)

Der erarbeitete Wohlstand ist in Gefahr und sorgt dafür, dass Mutter Imelda immer mehr aufgetürmte Besitztümer wieder per Ebay veräußern muss und auf das Erscheinen des Schwiegervaters als Retter in der Not hofft.

Tochter Cass steht derweil kurz vor den entscheidenden schulischen Prüfungen kurz vor dem Übertritt, ist aber eher von einer neuen Lehrerin, Partys und Alkohol fasziniert. Und dann ist da noch PJ, der Jüngste im Bunde. Auch er will seine eigenen Besitztümer veräußern, weil er von einem Mitschüler drangsaliert und erpresst wird. Dabei würde er auch lieber in Dublin oder irgendwo ganz weit weg sein. Das Schicksal meint es nicht unbedingt gut mit der Familie.

Statt Zusammenhalt treibt die Familie im Laufe der exakt 700 Seiten immer weiter auseinander, spürt verschüttetem Begehren und neuen Anziehungen nach und entfremdet sich zusehend von den anderen Barnes bis hin zur Frage, ob das überhaupt noch eine Familie ist, die im Mittelpunkt dieses Familienromans steht. Durch seine vier getrennten Erzählstränge vermag Paul Murray dies wunderbar anschaulich zu schildern.

Ein bittersüßes Leseerlebnis

Der Stich der Biene erzählt vom Weglaufen vor Konsequenzen, von Begehren und der Vertuschung ebenjenem Begehrens, was sich in Verbindung mit komischen Elementen zu einem bittersüßen Leseerlebnis verbindet, bei dem schon der erste Satz des Romans auf die dramatische Konsequenz verweist, die Familie im größtmöglichen Katastrophenfall auch bedeuten kann.

Im Nachbarort hatte ein Mann seine Familie umgebracht.

Paul Murray – Der Stich der Biene, S. 8

Paul Murray nimmt sich viel Zeit, um das langsame, aber immer stärker werdende Auseinanderdriften der Familie Barnes zu schildern. Die Bewegung hin von einer vordergründigen Bilderbuchfamilie zu einem schon fast toxischen Miteinander mitsamt allem Aneinander-Vorbeireden oder besser Aneinander-Vorbeileben, das schildert der irische Autor glaubwürdig und nachvollziehbar über die ganze Länge des Romans, bei dem trotz des überschaubaren Handlungsrahmen eben zu keinem Zeitpunkt wirkliche Längen auftreten. Dazu verdichtet der irische Autor das Bild der Figuren und ihrem Miteinander zunehmend auf gekonnte Art und Weise.

Die familiären Hintergründe werden konkreter, im Zusammenfallen verschiedener Perspektiven werden bestimmte Episoden verständlicher und anekdotisches Erinnern entzaubert. Schlussendlich ergibt sich so ein Bild einer Familie, in der nach Tolstoi’scher Manier wirklich jeder auf seine eigene Art und Weise unglücklich ist.

Damit stellt sich Paul Murray in die Erzähltradition großer amerikanischer Erzählwerke wie Jonathan Franzens Die Korrekturen oder aktueller etwa Miranda Cowley-Hellers Der Papierpalast. Es ist eine Reihe, in die sich das Werk des Iren ausnehmend gut einfügt.

Fazit

Der Stich der Biene ist ein Familienroman im besten Sinne, der langsam das Bild einer irischen Vorzeigefamilie entzaubert und vom Zerfall eines familiären Gefüges erzählt. Mit Sinn für Timing und gegensätzliche Perspektiven nimmt Paul Murray das Unglück in den Blick, das Familie bedeuten kann – und wie man sich trotzdem irgendwie durchs Leben mogelt.

Wer sich nach der Lektüre des Romans für das Schreiben und die Hintergründe zu Der Stich der Biene interessiert, dem sei auch das Interview auf der Webseite des Booker Prizes empfohlen, für den der Ire im vergangenen Jahr bereits zum zweiten Mal nach Skippy stirbt im Jahr 2010 nominiert war


  • Paul Murray – Der Stich der Biene
  • Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
  • ISBN 978-3-95614-581-0 (Kunstmann)
  • 700 Seiten. Preis: 30,00 €
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David Hewson – Die Medici-Morde

Venedig zur Zeit des Carnevale kann auch seine tödlichen Seiten haben. Das muss in David Hewsons Krimi ein eitler TV-Historiker feststellen, der die Wahrheit über Die Medici-Morde enthüllen wollte, stattdessen aber nun tot in einem der vielen Kanäle der Stadt treibt. Ein gelungener Krimi, der sich trotz seiner Aufmachung nicht in spektakulär-spekulatives Fahrwasser von Dan Brown und Co begibt, sondern souverän das wenig touristische Venedig und dessen Historie erkundet.


Es ist eine spektakuläre These, mit der der ebenso eitle wie bekannte TV-Historiker Marmaduke Godolphin seine ehemaligen Getreuen und Bekannten nach Venedig lockt. Er will die Wahrheit herausgefunden haben über die Ermordung Alessandro de‘ Medicis, der am 6. Januar 1537 von seinem Verwandten Lorenzino de‘ Medici ermordet wurde. Beteiligt an dem Mordkomplott soll nämlich niemand anderes als der Maler Michelangelo gewesen sein.

Eine aufsehenerregende Enthüllung und die Gelegenheit für Godolphin, seine etwas zum Erliegen gekommene Karriere wieder mit einem lukrativen TV-Vertrag anzukurbeln. Doch bevor es soweit ist, wird die Leiche des mit der Ritterwürde nobilitierte Fernsehstar aus einem der Kanäle gefischt. Im Bauch des in historischer Gewandung gekleideten Godolphins steckt ein Dolch, der dem sogenannten Aldobrandini-Dolch verdächtig ähnlich sieht. Einst entwarf Michelangelo höchstpersönlich diese Waffe, die den Star der italienischen Hochrenaissance mit dem einstigen Attentat innerhalb der de‘ Medici-Sippe in Verbindung bringen könnte.

Tod eines TV-Historikers

Doch wer wollte Marmaduke Godolphin tot sehen und ist eventuell etwas dran an der These, die der Historiker öffentlichkeitswirksam präsentieren wollte? Soll eventuell gar eine unbequeme historische Enthüllung verhindert und vertuscht werden?

David Hewson - Die Medici-Morde (Cover)

All das untersucht Capitano Valentina Fabbri von den italienischen Carabinieri, der der Gedanke an einen Mord in Venedig zuwider ist, vor allem zur Zeit des Carnevale. Morde in Venedig ereignen sich nur in Büchern von Ausländern, die ihrer kriminellen Fantasien in Büchern ihren Lauf lassen, wie es an einer Stelle des Romans ganz selbstironisch heißt – Donna Leon lässt grüßen.

Aber nun, da tatsächlich ein offensichtlich Ermordeter in den Kanälen der Stadt treibt, setzt Fabbri auf die Hilfe von Arnold Clover, der nicht nur Valentina Fabbri, sondern auch uns Leser*innen ganz direkt von seinen Begegnungen mit Godolphin erzählt. Schließlich sollte er als vor kurzem nach Venedig gezogener Archivar im Ruhestand Godolphin unterstützen und diesem zuarbeiten.

Wie diese Zuarbeit aussah, was er zusammen mit Godolphin und dessen „Goldenem Zirkel“ ehemaliger Gefolgsleute aus Cambridge und Oxford erlebte, das erzählt er Stück für Stück Fabbri, die sich und Clover einen Tag gegeben hat, um Licht ins Dunkel um den Ermordeten zu bringen. Ein Tag, der neben vielen Rückblenden auch aus jeder Menge Essen besteht. Denn um das Vorhaben Marmaduke Godolphins zu rekonstruieren, nutzen Fabbri und Clover die ganze Fülle der venezianischen Gastronomie mitsamt einer Vielzahl an Gängen, um die Kriminalistische mit dem Kulinarischen zu verbinden. Zwischen dolci, baccala und Espressos dem wahren Mörder Godolphins auf die Schliche zu kommen.

Eher Inspector Barnaby denn Dan Brown

Mag man angesichts des reißerischen Titels und der knalligen Aufmachung von Die Medici-Morde von einem Thriller ausgehen, dass man es mit einem Buch im Fahrwasser von Dan Brown und Co zu tun bekommt, bei dem ein Ermittler durch die Serenissima hetzt, Zeichen und historische Spuren entschlüsselt und sich die Leichen häufen, so lässt es David Hewson doch deutlich ruhiger angehen und erinnert eher an Inspector Barnaby denn Robert Langdon.

Der britische Krimischriftsteller David Hewson, der unter anderem schon die dänische Krimiserie Kommisarin Lund in Buchform verwandelte, zeigt hier eine unbekannte Seite Venedigs abseits der klassischen Touristenspots und Erzählplätze. Sein Venedig im Carnevale ist doch recht kalt und ungastlich. Die Einkehr in den unterschiedlichen gastronomischen Angebote der Stadt verheißt ein wenig Verschonung vor der allgegenwärtigen Kälte und den Nebelschwaden.

Ebenso gemütlich wie die kulinarische Auskleidung dieses Krimis ist auch das an den Tag gelegte Ermittlungstempo. Obschon der einzige Tage, den sich Valentina Fabbri für ihre Ermittlungen gibt, mehr als ambitioniert erscheint, erweist sich der Krimi als ruhige Rückblendenrevue, aus denen sich immer mehr das tatsächliche Geschehen rund um Marmaduke Godolphin herausschält – bis hin zum Höhepunkt der Tatnacht.

Dazwischen gibt es falsche Fährten und theatralen Mummenschanz, Eitelkeiten und sogar einen Ausflug nach Verona, wo sich wieder einmal eine Bibliothekarin als entscheidende Stütze in der Lösung des Falles erweist.

Fazit

David Hewson zeigt hier wie schon im zuvor erschienenen Roman Der Garten der Engel seine Orts- und Geschichtskenntnis Venedigs – und sein kriminalliterarisches Talent. Ruhig und routiniert entwickelt er diesen Venedigkrimi zwischen Kriminalistik und Kulinarik. Das ist gut gemacht – sowohl für Fans von Venedig-Krimis als auch für Anhänger klassischer britischer Ermittlerkrimis eine Empfehlung!

Wer nach der Lektüre neugierig geworden ist auf dieses winterliche und kalte Venedig: der Autor selbst gibt hier noch etwas mehr Auskünfte über seinen Roman und dessen Schauplätze:


  • David Hewson – Die Medici-Morde
  • Aus dem Englischen von Birgit Salzmann
  • ISBN 978-3-85256-895-9 (Folio)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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