Liz Moore – Der Gott des Waldes

Das Verschwinden einer jungen Frau steht im Mittelpunkt des neuen Buchs von Liz Moore. Doch nicht nur die Komposition ihres Romans ist ambitioniert – auch zeichnet ihr Roman Der Gott des Waldes ein Bild des Geldadels in Amerika und der besonderer Regeln, die für diesen gelten.


„Camp Emerson“, hatte er zu ihr gesagt. „Ein paar Stunden den Adirondack Northway hoch, im Van-Laar-Naturreservat“. Louise hatte ihn überrascht angesehen. „Das kenne ich“.

Liz Moore – Der Gott des Waldes

Nicht nur Louise kennt dieses Camp, das einen der zentralen Schauplätze von Liz Moores Roman bildet. Alle Familien aus Neuengland, die etwas auf sich halten, schicken ihre Kinder in das Camp Emerson, wo diese während des Sommers ein besonderes Ferienlager erleben. Unter Leitung von T. J. Hewitt sind die Kinder in unterschiedlichen Hütten untergebracht, wo sie der Aufsicht von Betreuerinnen und Auszubildenden unterstehen. Lagerfeuer, Übungen, Spaß aber auch am Ende des Sommers ein mehrtägiges Überlebenstraining im Wald stehen auf dem Plan des elitären Camps.

Hier verschwindet Barbara van Laar, die Tochter der Besitzer jener Güter in den Adirondacks, auf denen sich das Camp befindet, das einst von Peter van Laar begründet wurde. Besonders brisant wird dieses Verschwinden der Erbin der van Laars, da nicht nur Barbara verschwunden ist. Vor vierzehn Jahren verschwand dort im Wald ihrer Bruder Bear van Laar ebenfalls spurlos. Hat dieses Verschwinden eventuell etwas mit dem Serienmörder Jacob Sluiter zu tun, dem dort in den Adirondacks zahlreiche Morde zur Last gelegt werden?

Eine Meisterin der Erzählstruktur

Liz Moore - Der Gott des Waldes (Cover)

Mit Der Gott des Waldes erweist sich Liz Moore erneut als grandiose Bastlerin, die Erzählebenen und -stränge miteinander aufs Beste verknotet und verknüpft. War ihr Roman Long bright river in seiner Doppelmontage der Erzählperspektiven der zwei unterschiedlichen Schwestern fein gearbeitet, steigert sie hier den Schwierigkeitsgrad noch einmal um ein vielfaches. So sind es nicht nur über ein halbes Dutzend Figuren von der jungen Ermittlerin Judyta bis hin zu Jacob Sluiter, deren Perspektive Liz Moore schildert.

Sie verschränkt in ihrem Roman auch verschiedene Zeitebenen miteinander. Die Suche nach der verschwundenen Barbara van Laar und die Ermittlungsarbeiten über mehrere Tage hinweg nehmen einen großen Raum ein. Das Verständnis der aktuellen Ereignisse würde allerdings nicht ohne die Kenntnis der Geschehnisse rund um das Verschwinden von Bear van Laar vor vierzehn Jahren funktionieren. Dementsprechend nimmt auch die Erzählung im diese Ereignisse im Sommer 1961 eine zentrale Funktion ein. Darüber hinaus greift Liz Moore in ihrem Erzählen noch weiter aus, indem sie auch das Schicksal von Bears und Barbaras Mutter Alice van Laar in eingestreuten Rückblenden erzählt.

Spannend, erzählerisch ausgefeilt und komplex

Wo aus einer derartigen Konstruktion viel Chaos und Unübersichtlichkeit erwachsen könnte, ist es bei Liz Moore eine große Übersichtlichkeit, die daraus erwächst und die durch die vielen Sprünge vor allem Spannung und Drive für die umfangreiche Erzählung generiert. Ähnlich versiert wie Joel Dicker mit seinen vielfachen Rückblenden ist auch hier Abwechslung garantiert, ohne dass die Orientierung in der Geschichte an einer Stelle auch nur unter der Vielzahl an Stimmen und Zeiten leidet.

So gelingt Liz Moore eine stets vorantreibende Erzählung, die neben der Frage über das Schicksal Bear van Laars vor vierzehn Jahren oder das aktuelle Verschwinden von Barbara auch viel über den Geldadel dort an der Westküste erzählt Die besonderen Rechte, die mit Geld einherzugehen scheinen, die gar nicht ausbuchstabierte Möglichkeit, die Ermittlungen in eine für die Familie genehme Richtung zu lenken, die Skrupellosigkeit, mit der man sich falsche Verdächtige zurechtlegt bis hin zu fatalen Konsequenzen und ganz generell die Abhängigkeiten, die mit dem immensen Reichtum der Familie van Laar einhergehen.

All das schwingt in der Der Gott des Waldes mit und macht das Buch zu einem fabelhaften Spannungs- und Gesellschaftsroman, dessen Status als New York Times Bestseller und Empfehlungsbuch von der Lektüreliste Barack Obamas nach der Lektüre als absolut folgerichtig erscheint.

Fazit

Dieses Buch ist ein Glücksfall, ist es doch in seiner erzählerischen Anlage reichlich komplex aber nie kompliziert, erzählt es vom Verschwinden und der Nonchalance alten Geldes und nimmt Der Gott des Waldes nicht zuletzt auch mit in die Wälder der Adirondacks zwischen Ferienlager und Survivaltraining. Liz Moore gelingt ein fabelhafter Spannungsroman mit gesellschaftlichem Anspruch, der ein wenig an Wes Andersons Film Moonrise Kingdom aus dem Jahr 2012 erinnert, der aber im Vergleich zu Andersons Werk deutlich düsterer und vielgestaltiger daherkommt. Ein großer Spannungsroman und schon jetzt eines der Buchhighlights dieses Jahres!


  • Liz Moore – Der Gott des Waldes
  • Aus dem Englischen von Cornelius Hartz
  • ISBN 978-3-406-82977-2 (C. H. Beck)
  • 590 Seiten. Preis: 26,00 €
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María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier

Vom Stachelschwein bis zum Käfer – alles in María Ospina Pizanos Naturgeschichte ist beseelt. Sie erzählt in Für kurze Zeit nur hier vom Leben und Überleben der Tiere – und ihrem Nebeneinander neben dem Mensch. Leider lässt der Roman dabei eine überzeugende Idee hinter den einzelnen Episoden vermissen.


Alles beginnt mit einem Straßenhund, der im ersten Teil dieses aus insgesamt vier Episoden bestehenden Romans von den Straßen Bogotás weggefangen wird. Kati – so der spätere Name der Hündin – trifft im Tierheim auf die Hündin Mona, mit der sie sich anfreundet. Damit kommt dieses Hündinnengespräch übertitelte Kapitel schon zu seinem Ende und María Ospina Pizano wendet sich dem nächsten Tier in ihrer Reihe zu. Dafür geht es in die Luft, denn die Wanderung eines Scharlachkardinals steht im Fokus jenen Kapitels, das sowohl das längste und das überzeugendste in diesem Buch ist.

Der Weg dieses Zugvogels ist einer voller Mühen und Gefahren, die Pizano ausführlich schildert. Der zur Ordnung der Sperlingsvögel zählende Kardinal entgeht auf seinem Weg in den Süden nur knapp einem großen Vogelsterben zwischen den Wolkenkratzern Manhattans. Er überfliegt Statuen, sieht Geflüchtetencamps voller Minderjähriger an der Grenze zwischen den USA und Mexiko unter sich hinwegziehen. Er taucht auf dem Radar von Flughäfen auf und lässt sich weder von ausgebrachten Pestiziden noch von Ozeanen aufhalten, die er überquert, um dann am Ende seiner Kräfte doch noch sein Ziel zu erreichen.

Von Hunden, Vögeln, Maden und Stachelschweinen

María Ospina Pizano - Für kurze Zeit nur hier (Cover)

Dieser Episode folgen noch zwei kürzere Geschichten. Die erste handelt von einer Made, die in der Tradition Eric Carles zum Käfer wird und nach ihrer Verpuppung einige Abenteuer erlebt. Nach ihrem Weg aus der Erde gelangt das Käferweibchen zunächst in einen Kühlschrank – was dann schon eher an den Käferspezialisten Franz Kafka erinnert. Aus dem Kühlschrank setzt sich die Reise per Mangoldblatt und Auto über hundert Kilometer bis nach Bogotá fort, um schlussendlich im Magen einer Amsel zu landen.

Die letzte Geschichte in diesem fast ausschließlich aus tierischer Perspektive geschilderten Erzählreigen ist eine Erzählung, in der die menschliche Perspektive am ausgeprägtesten ist. Hier erzählt die 1977 in Bogotá geborene María Ospina Pizano von einer Frau, deren Hund einst ein trächtiges Stachelschwein riss. Das kaum überlebensfähige Stachelschweinbaby rettete die Frau aus dem Bauch der Mutter und zog es auf. Doch angesichts der Strafen, die die kolumbianische Regierung für die private Haltung solcher Wildtiere vorsieht, überantwortet sie das Jungtier nun einem sogenannten Wildtier- und Wildpflanzenversorgungs- und -begutachtungszentrum in Bogotá. Dort soll das junge Stachelschwein ausgewildert werden.

Es sind vier Geschichten, die nicht nur im Ausdruck und der Länge recht verschiedene sind. Sie alle verbinden sich zu einem mehr oder minder funktionierenden Reigen, da Pizano im letzten Teil des Romans das Zwiegespräch zwischen denen im ersten Teil eingeführten Hündinnen Kati und Mona wieder aufgreift, ehe es durch eine Adoption Katis zum Erliegen kommt.

Nezahualcóyotl und das indigene Erbe Kolumbiens

Wirklich rund oder stimmig ist das leider nicht wirklich, obschon Pizanos Debüt gleich mit einem Literaturpreis, nämlich dem Premio Sor Juana Inés de la cruz ausgezeichnet wurde und viele lobende Pressestimmen auf dem Buchrücken versammelt.

Kommend von der Forschung über Gewalt, Natur und Erinnerung in der zeitgenössischen kolumbianischen Kultur hat María Ospina Pizano an der Harvard University studiert – und diesen gelehrten Hintergrund merkt man Für kurze Zeit nur hier auch an.

So ist das Zitat, das dem von Peter Kultzen aus dem Spanischen übersetzten Buch den Titel gibt, eine Zeile des Herrschers und Dichters Nezahualcóyotl, der im 15. Jahrhundert im präkolumbischen Mesoamerika lebte. In seinen Zeilen beschwört er die Vergänglichkeit unseres Daseins auf der Erde. Damit liefert Pizano den wohl deutlichsten Hinweis, in welcher Tradition sich Maria Ospina Pizanos Text sich sieht.

Das kulturelle und indigene Erbe Südamerikas speist diesen Roman, nicht nur in vielen Zitaten. Vor allem der Gedanke des Animismus, als der Beseeltheit der ganzen Welt und damit auch der Tiere, spielt eine entscheidende Rolle in diesem Buch, das Tieren auf der Erde und in der Luft eine Perspektive gibt.

Dazu gesellen sich viele Gedanken und Theorien von Denker*innen und Autor*innen wie Ocean Vuong, Cristina Peri Rossi, Jaques Derrida oder Gabriela Mistral, die im Text aufgegriffen werden.

Der fehlende rote Erzählfaden

Doch leider ist die animistische Perspektive ebenso wie die ganze Erzählhaltung dieses Romans nicht überzeugend, da sich María Ospina Pizano mit erzählerischer Halbherzigkeit begnügt. Statt konsequent aus den Augen der Tiere auf die Welt zu blicken, ist es ein wenig überzeugendes Gemisch aus auktorialem Erzähler und Tierperspektive. Woher soll das Käferweibchen wissen, dass es hundert Kilometer zurückgelegt hat und sich nun in Bogotá befindet? Woher weiß die Hündin, dass es ein Bolero ist, der der Kehle ihrer neuen Besitzerin entströmt oder dass die Statue, die sie in Bogotá passiert, Simon Bolivar zeigt? Die profunde Kenntnis menschlicher Kulturbegriffe der Tiere bleibt ebenso unklar, wie das erzählerische Ziel María Ospina Pizanos.

Statt sich wirklich konsequent auf die tierische Perspektive eizulassen und daraus auch auf das zerstörerische Verhalten der menschlichen Spezies in puncto Vergangenheit und Gegenwart zu schauen, schwankt sie zwischen Tier und Mensch, zwischen indigenem Erbe und unterschiedlich überzeugenden Kapitel, denen zumindest für mich in der Gesamtschau einen überzeugenden roten Faden vermissen ließen, der dabei helfen würde, die einzelnen Episoden zusammenzuhalten.

Alles wird kurz angerissen, verfliegt dann aber wieder wie der über Manhattan kreisende Vogelschwarm. In ihrer Erzählhaltung und Qualität sind Pizanos Geschichten, deren Verbindung nicht über kleine gegenseitige Cameos der Tiere und Figuren in den anderen Geschichten hinausreicht, einfach zu disparat.

Eher Kurzgeschichten denn ein stimmiger Roman

Was hätte dieses Buch für Chancen geboten. Der Umgang mit dem indigenen Erbe in Kolumbien, das Miteinander von Tier und Mensch auf dem Planeten, das eher einem Gegeneinander gleicht, und die Veränderungen, denen dieses Miteinander unterliegt. Auch die Wanderungen der Tiere hätte ein spannender Ansatzpunkt werden könnten, ahmt doch der Mensch zunehmend das Wanderverhalten von Tieren nach, und das nicht nur im gezeigten Grenzland zwischen Süd- und Nordamerika. All das hätte hochinteressantes Erzählmaterial ergeben.

Aber leider blitzt all dies nur kurz auf. Durch die Unverbundenheit der Episoden hat Für kurze Zeit nur hier eher den Charakter von Kurzgeschichten, die kaum in faszinierende Tiefen vordingen wollen oder können. Dass es möglich wäre, das zeigt ja wie schon erzwähnt die Geschichte des Scharlachkardinals, die Pizanos Erzähltalent und die profunde Beschäftigung mit ihren Themen erahnen lässt. In der Ganzheit aller Geschichten ergibt sich aber leider trotz viel Potential kein überzeugender und stimmiger Roman.

Mir ist das leider zu wenig. Wie man überzeugender den Blickwinkel ändert und aus ungewohnter Perspektive erzählt, das hat Samantha Harvey zuletzt mit Umlaufbahnen bewiesen. Dahinter bleibt María Ospina Pizano in allen Belangen leider zurück.


  • María Ospina Pizano – Für kurze Zeit nur hier
  • Aus dem Spanischen von Peter Kultzen
  • ISBN 978-3-293-00622-5 (Unionsverlag)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Nenad Veličković – Nachtgäste

Wie kann man nur vom Grauen des Krieges erzählen? Nenad Veličković entscheidet sich in seinem Roman Nachtgäste für die Perspektive einer jungen Frau, die in ihren Notizen und Niederschriften das Bild des belagerten Sarajevo inmitten des Bosnienkriegs entstehen lässt. Nicht nur die junge Frau fragt sich, wer hier eigentlich gegen wen kämpft – und vor allem wozu?


Obschon die Gräuel des Bosnienkrieges in den 90ern mehr oder minder vor unserer Haustür stattfanden, sind die Erinnerungen an das Kriegsgeschehen schon wieder sehr verblasst, wenn sie überhaupt je so präsent waren wie andere Kriegsgeschehen zur der damaligen Zeit, etwa der kurz zuvor begonnene Zweite Golfkrieg, den die USA gegen den Irak führten.

Auch in der Literatur fristet der Bürgerkrieg, der fast 100.000 Menschen das Leben kostete und zur Flucht und Vertreibung von fast 2,2 Millionen Menschen führte, ein Schattendasein. Zwar behandeln deutsche Autoren (Tijan Sila, Tanja Miljanović, Saša Stanišić) den Konflikt ebenso wie kroatische Autoren, darunter Miljenko Jergović oder Faruk Šehić – auf Interesse stoßen die zumeist von idealistischen Kleinverlagen herausgegebenen Werke besonders der fremdsprachigen Autor*innen dabei nur bedingt. Angesichts der überwältigenden Fülle von westlich zentrierter Literatur hat es diese Art von Büchern schwer.

Aus Logiergästen werden Nachtgäste

Nenad Veličković - Nachtgäste (Cover)

Der österreichische Jung und Jung-Verlag unternimmt jetzt einen weiteren Versuch, den im Original bereits 1995 erschienenen Roman Nenad Veličkovićs seinem Publikum zugänglich zu machen. Schon einmal war das Buch in deutscher Übersetzung im Jahr 1997 unter dem Titel Logiergäste erschienen. Nun liegt der Roman knapp zwanzig Jahre später in einer leicht überarbeiteten Übersetzung von Barbara Antkowiak dem Lesepublikum zum zweiten Mal vor.

Darin lässt Veličković seine Erzählerin Maja von einer ganz besonderen Schicksalsgemeinschaft berichten. Die junge Studentin erzählt in ihren Aufzeichnungen vom Krieg, der sie und ihre Familie in das vom Vater betreute Museum im Herzen Sarajevos verschlagen hat, das den Schauplatz des Romans bildet.

Ich heiße Maja. Was ich schreibe, wird ein Roman in Form eines Tagebuchs oder vielleicht ein Tagebuch in Form eines Romans. Das ist vorerst offen. Ich schreibe das, weil mir nichts anderes geblieben ist. Wir gehen nicht zur Schule, wir sehen nicht fern, wir verlassen den Keller nicht. Den Keller verlassen wir nicht, weil oben Krieg ist. Er wird zwischen Serben, Kroaten und Muslimen geführt.

Dávor sagt, der Krieg wird geführt, weil die Kroaten Kroatien haben, die Serben Serbien, aber die Muslime kein Muslimien. Alle denken, dass sie es haben sollten, doch sie können sich nicht über seine Grenzen einigen. Papa sagt, dass Dávor ein Esel ist und der Krieg deshalb geführt wird, weil Serben und Kroaten Bosnien unter sich aufteilen und die Muslime umbringen und vertreiben wollen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Einiges ist mir nicht klar.

Nenad Veličković – Nachtgäste, S. 8 f.

Nicht nur Maja ist einiges nicht klar, auch für die Leser*innen bleibt die Lage in Sarajevo unübersichtlich. Wer kämpft nun gegen wen, wo verläuft die Front, was soll der Krieg überhaupt erreichen? Neben der Sinnlosigkeit und der Brutalität des Kriegs und des Überlebenskampfes inmitten des diffusen Kriegsgeschehen lässt Maja in ihren Aufzeichnungen auch ein Bild des skurrilen Miteinanders der Nachtgäste entstehen. Nicht von ungefähr reicht der im Buch zitierte Bogen von Literaten deshalb von Jaroslav Hašeks und dessen braven Soldaten Schwejk über Karel Čapek bis hin zu Ivo Andrić. Auch Nenad Veličkovićs Schreiben deckt die Schattierungen dieser Autoren von absurd bis tragisch ab.

So erzählt Nenad Veličković vom Miteinander der bunt zusammengewürfelten Truppe. Da der Portier Brkic und dessen Freund Julio, die sich aus alten Partisanenkämpfen kennen. Dort die Großmutter, der Hund Sniffy, der Vater, Majas Mutter, die mit ihrem Hand zum Vegetarismus die Nerven der Gäste strapaziert, und dazu noch ihr Bruder Dávor mit dessen hochschwangeren Frau Sanja.

Die Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf

Ihr Miteinander beschreibt Maja ebenso wie den Alltag im Museum, bei dem Truppen zu Gast sind, ein wagemutiger Ausbruchversuch mit einem improvisierten Ballon unternommen wird und der Weg mit Kanister zur Wasserverteilung schon einmal zum gefährlichen Gang wird, wenn die Serbo-Sniper lauern und sich die Müllberge in der abgeschnittenen Stadt immer höher türmen.

Daraus entsteht ein Bilderbogen, der von der Gleichzeitigkeit von Petitessen und Überlebenskampf erzählt – und wie der Krieg mitsamt dem Belagerungszustand alle die Unterscheidung solcher Dinge zum Verschwinden bringt. Egal ob drohende Niederkunft von Majas Schwägerin, ein über Dávors Kopf schwebender Einberufungsbefehl oder die Suche nach dem verschwundenen Sniffy. Für alles ist in Nachtgäste Platz und Nenad Veličković kann es durch die gewählte Form und Perspektive glaubhaft vermitteln.

Nicht nur angesichts der Konflikte etwa in Israel oder in der Ukraine birgt Nachtgäste viel Allgemeingültiges und erzählt nachvollziehbar, wie sich Krieg anfühlt, der durch den Schauplatz des bewohnten Hotels gleichzeitig auch etwas Enthobenes und Absurdes bekommt.

Fazit

Nenad Veličković gelingt mit Nachtgäste ein lesenswertes Buch, das die Schrecknisse des noch gar nicht so lange zurückliegenden Krieges wieder wachruft. Im zweiten Anlauf ist diesem Werk nun hoffentlich der Erfolg und die Aufmerksamkeit beschieden, die es neben den Werken der anderen eingangs erwähnten serbischen, kroatischen und bosniakischen Autor*innen verdient und die Markt und Kritik hierzulande viel zu oft links liegen lassen.


  • Nenad Veličković – Nachtgäste
  • Aus dem Bosnischen von Barbara Antkowiak
  • ISBN 978 3 99027 411 8 (Jung und Jung)
  • 240 Seiten. Preis: 24,00 €
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Cristina Henríquez – Der große Riss

Mit dem Amtsantritt von Donald Trump als 47. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika ist er wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt – der Panamakanal. Auf ihn erhebt der amerikanische Präsident Anspruch, obschon der Kanal gar nicht auf amerikanischen Boden liegt. Aber die Fremdbestimmung über das Gebiet auf dem Isthmus durch den Nachbarn im Norden hat Methode, wie Cristina Henríquez in ihrem Roman Der große Riss zeigt.


Ein rothaariger Marinesoldat aus Louisiana, der sich während der Reise mit John angefreundet hatte –John zufolge hatten sie eine Runde Dame gespielt, während Marian krank in der Kabine gelegen hatte – stand mit ihnen bei der Reling.

Er sagte: „Wir sind in einen Sumpf gekommen!“

John nickte. „Richtig. Und wir werden hier Ordnung schaffen.“

Cristina Henríquez – Der große Riss, S. 27

Da ist sie wieder, die Hybris der amerikanischen Oberschicht, die gleichzeitig mit Verachtung und einem gesunden Sinn für die eigenen, kolonialen Interessen auf den Rest der Welt blickt. Ist das noch Ordnung oder schon eher die Durchsetzung des eigenen Vorteils in fremden Ländern, der aus solchen Zeilen spricht?

Amerikanische Machtgelüste in Panama

Geäußert werden sie im Fall des Romans von Cristina Henríquez auf einem Postschiff, das sich Richtung Panama befindet. Denn noch 125 Jahre vor den aktuellen Machtgelüsten und Herrschaftsansprüchen eines Donald Trumps war es schon einmal ein amerikanischer Präsident, der auf dem Isthmus, jener mittelamerikanischen Landenge zwischen Pazifik und Atlantik, das Glück seines Landes suchte. Denn seiner Auffassung nach sei es Amerika bestimmt, hier einen Kanal zu bauen, der die langen und umständlichen Fahrten um das Kap Hoorn herum oder durch die Magellanstraße in Südamerika überflüssig mache.

Und so machten sich amerikanischer Staat und Aktiengesellschaft daran, auf fremden Boden mithilfe von Grabungen und Dämmen den Panamakanal zu erschaffen, der heute zu einer der wichtigen Handelsstraßen zu Wasser zählt und der stets auch politische Begehrlichkeiten weckt, wie nun auch der Vorstoß Donald Trumps wieder zeigt.

In Cristina Henríquez‘ Roman befindet sich die Baustelle zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade auf dem Höhepunkt. Die Baustelle lockt mit der Aussicht auf Lohn und Brot Menschen nicht nur aus Amerika herbei. Auch Omar sucht bei den Bauarbeiten im „Großen Riss“ sein Glück. Eine Arbeit als Fischer auf dem Wasser ist das seine gar nicht, weshalb er sich zum Unverständnis seines Vaters auf den Weg zur Baustelle macht.

Oh wie schön ist Panama?

Cristina Henríquez - Der große Riss (Cover)

Und auch die junge Ada bricht als blinde Passagierin ohne das Wissen ihrer Mutter aus Barbados nach Panama auf. Dort hofft sie ebenfalls auf Arbeit, da sie dringend für ihre Familie Geld verdienen möchte. Ihre Schwester leidet nach einer Lungenentzündung unter Flüssigkeit in der Lunge und benötigt eine Operation. Die utopischen Kosten von 15 Pfund sind für ihre alleinerziehende Mutter und die beiden Töchter so nicht zu stemmen, weshalb sie sich nun ebenfalls aufmacht und im herrschaftlichen Anwesen der Oswalds Arbeit findet.

Ausgehend von diesen beiden Figuren erzählt Christina Henríquez vom Leben und Arbeiten dort in Panama, wo das Wetter nur die beiden Aggregatszustände nass und heiß kennt. Während der große Riss das Land immer tiefer durchzieht, ist er auch zwischen den Generationen der Eltern und ihrer Kinder aufgetreten. Während der Fischer Francisco seinen Jungen Omar nicht verstehen kann, der täglich auf der Baustelle auf dem Isthmus schuftet, trennt sich auch Ada von ihrer Familie, um Geld nachhause zu bringen.

Ein gefälliger historischer Roman – mit zu wenig Rissen

Leider überführt Henríquez diese Ausdeutung der Risse nicht auch auf ihre Figuren. In diesem konventionell und gefällig erzählten historischen Roman fehlt es den Figuren selber an Craquelé, das diese interessant machen würde.

Auch wenn der Roman selbst viele Fragen antippt, etwa das übergriffige Verhalten der amerikanischen Kolonisatoren, die für den Bau ihres Kanals schon einmal ganze Dörfer umsiedeln wollen, bleiben die großen Konflikte hier doch auf und löst sich fast alles in Wohlgefallen auf. Die Liebe kittet zum Ende hin wieder viele Risse, Eltern nähern sich ihren Kindern an und umgekehrt, irgendwie fügt sich alles und bleibt bruchlos – womit Christina Henríquez viel Potential vergeudet.

Die Kontinuität zwischen amerikanischen Bauherren auf dem Isthmus einst und die aktuellen neokolonialen Tendenzen der USA, all das könnte bei einer mutigeren Bearbeitung des Themas höchst erhellend sein. Alle politischen und gesellschaftlichen Implikationen lässt der Roman aber so gut wie außen vor.

Francisco starrte in die Luft. Er erinnerte sich, wie optimistisch und hoffnugnsvoll Joaquín zur Zeit von La Separación gewesen war. „Ich nenne ihn La Boca“, sagte Francisco.

„Wen?“

„Den Kanal.“

„Du nennst ihn den Mund?“

„Ja. Er frisst uns auf.“

Joaquín nickte pathetisch. „Das ist richtig, mein Freund. Wir sind der Fisch“.

Cristina Henriquez – Der große Riss, S. 198 f.

Der große Riss konzentriert sich auf die Figuren aus der Arbeiterschichte und verpasst es, über diesen lebensweltlichen Ausschnitt hinaus ein größeres Bild zu zeichnen. Außer kleinen Protestfeuern und kurzen Momenten der kritischen Beschau der kolonialen wirtschaftsorientierten Verhaltensweisen der Amerikaner bleibt der Roman zu zahm und dringt nicht wirklich in die Tiefe vor.

Hätte Christina Henríquez den Mut zu einer Tiefenbohrung in Sachen gesellschaftlicher Auswirkungen des Baus gehabt, ganz so, wie es die Amerikaner mit dem megalomanischen Bauprojekt auf dem Isthmus zeigten, hätte der Roman mehr Wirkung entfaltet. So konzentriert sich die Autorin lieber auf die kleinen Glücksmomente und Fügungen des Lebens und verharrt auf dem Anwesen der Oswalds, zeigt die Annäherung von Ada und Omar und beschränkt sich auf oberflächliche Dialoge, wie dem hier zitierten Beispiel.

Das tut niemanden weh, ist gefällig und lässt sich gut weglesen. Es bringt aber auch keine gesteigerte Erkenntnis mit sich. Diesem Roman fehlt leider etwas Subtext, insbesondere angesichts der aktuellen politischen Entwicklungen. Eher ist der Roman etwas für Freunde historischer Unterhaltung, wie sie etwa Daniala Raimondi oder Abraham Verghese sie schreiben.

Fazit

So verschenkt Der große Riss leider einiges an Potential und kommt über einen gefälligen historischen Roman nicht hinaus. Etwas mehr Mut zu kleinen Rissen im Erzählen und in den Figuren hätte dem Roman von Christina Henríquez gutgetan. So bietet der konventionelle historische Roman in diesen Tagen keine gesteigerten Erkenntnisse und ist leider zu schnell wieder vergessen.

Weitere Stimmen zu Cristina Henríquez‘ Roman gibt es unter anderem bei der NZZ, SWR Kultur und Deutschlandfunk Kultur.


  • Cristina Henríquez – Der große Riss
  • Aus dem Englischen von Maximilian Murmann
  • ISBN 978-3-446-28251-3
  • 412 Seiten. Preis: 26,00 €
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Clara Arnaud – Im Tal der Bärin

Auf dem Berg, da wohnt der Bär – oder besser gesagt die Bärin. Clara Arnaud nimmt uns in ihrem ersten auf Deutsch erschienen Roman Im Tal der Bärin mit auf die Berghöhen der Pyrenäen. Dort kreuzen sich die Lebenswege eines Schäfers und einer Ethologin mit der Bärin. Kraftvolle Prosa, die die Schönheit und das Leben in den Bergen gelungen einfängt.


Arpiet ist ein kleines Dorf, das am Fuße der Pyrenäen liegt. In unmittelbarer Nähe zur spanischen Grenze gelegenen ziehen sich die Bergrücken hin, die von den Schäfern und Schäferinnen beweidet werden. Auch Gaspard ist ein solcher Schäfer, der sich nach dem Studium in Paris nach seiner Kindheit in Arpiet zurückgesehnt hat und mittlerweile dort mit seiner Frau und den Töchtern wohnt. Die eigentliche Liebe und Sehnsucht aber gehört der Landschaft in den Bergen, wo er sich nun als Schäfer verdingt und eine mehrere hundert Schafe umfassende Herde betreut. Die Sommer verbringt er alleine dort oben auf den Berghängen. Gesellschaft leisten ihm nur seine Hündin, die Herde und die Erinnerungen.

Zweite Hauptfigur des Romans ist die Ethologin Alma, die ebenfalls nach Arpiet gezogen ist. Dort versieht sie an einem Zentrum für Biodiversität ihren Dienst. Das eigentliche Arbeitsfeld sind aber auch für sie die Berge. Denn dort oben lebt nach Wiederansiedlungsversuchen nun eine Bärin, la negra genannt. Diese beobachtet sie für ihre Feldforschung, nachdem sie dem Leben der Bären bereits ihre akademische Facharbeit gewidmet hat.

Eine Bärin in den Pyrenäen

Clara Arnaud - Im Tal der Bärin (Cover)

Von den Bewohnern von Arpiet wird Alma misstrauisch beäugt. Denn ein sonderlich großes Verständnis für die Bärin hegt dort kaum jemand. Man solle die Bärin und ihre Jungen besser gleich töten, schließlich stellt das Tier nur eine Bedrohung für die Schafe dort oben auf den Bergen dar, so die landläufige Meinung. Doch Alma lässt sich von solchen Meinungen nicht aufhalten und spürt in den Wäldern und entlang der Steilgrate der Bärin und ihrem Leben nach.

Und auch Gaspard spürt die Existenz der Bärin am eigenen Leib. Immer wieder schweben die von ihm betreuten Schafe im Laufe des Sommers, den Im Tal der Bärin schildert, in Lebensgefahr, wenn sich die Bärin auf Futtersuche an die Schafe heranwagt. Nicht zuletzt sind es aber auch Erinnerungen, die ihn immer wieder heimsuchen. Denn im vergangenen Jahr kam eine junge Schäferin dort oben in seiner Gesellschaft ums Leben. Hat die Bärin auch damit zu tun?

Der menschliche Umgang mit bedrohten Spezies

Im Tal der Bärin ist ein Buch, das vom Umgang der Menschen mit der bedrohten Spezies der Bären erzählt. Totale Auslöschung oder Schutz? Im dritten, immer wieder eingestreuten Erzählstrang bietet Clara Arnaud auch eine historische Sichtweise auf diesen Komplex, indem sie vom Leben des Bärenführers Jules erzählt, der Ende des 19. Jahrhundert aus Arpiet in Richtung Amerika aufbricht, mit im Gepäck ein von ihm gefangener und dressierter Bär.

Mit ungemein viel Wissen um das Leben dort oben an den Berghängen der Pyrenäen und des Lebens der Bären nimmt Clara Arnaud mit in diese wilde Welt. In Arnauds urwüchsiger, von Sophie Beese ins Deutsche übertragenen Sprache und der Kraft der Naturbeschreibungen erinnert das Ganze etwas an die Werke Maria Borrélys. Vom Aufstieg Gaspards im Frühling über den Sommer auf den Almen dort oben bis zum Abtrieb der Tiere in den Herbsttagen erstreckt sich der erzählerische Bogen, den dieses Buch bildet.

Nicht zuletzt ruft ihr ökologisch geprägter Roman im Spannungsfeld zwischen Mensch und Tier auch Erinnerungen wach an die Romane der Australierin Charlotte McConaghy, darunter insbesondere an ihr in Schottland spielendes Werk Wo die Wölfe sind, das von der Wiederansiedlung von Wölfen in den Highlands und dem Widerstand dagegen erzählt. Aber auch Paolo Cognettis Romane um die Anziehungskraft der Berge und Sara Gruens Prosa ließe sich als Bezugsgröße von Clara Arnauds Roman nennen, mit dem ihr trotzdem etwas ganz Eigenständiges gelingt.

Ein überzeugendes Buch mit irreführendem Titel

Gefahr und Idylle, Arbeit und Entspannung, Freiheit und Verantwortung, das sind die Spannungsfelder dieses Romans, der der Natur in den Pyrenäen ein Denkmal setzt und die Komplexität in unserem Verhältnis zu Raubtieren – wie im vorliegenden Fall eben den Bären – ausleuchtet.

Angesichts einer solch überzeugenden Gesamtleistung stellt sich nur die Frage nach der Sinnhaftigkeit des deutschen Titels. Das titelgebende Tal spielt im Roman nur eine untergeordnete Rolle. Natürlich liegt das Dorf Arpiet dort unten im Tal, ist aber sowohl für Gaspard als auch für Alma aber nur jener problembehaftete Ort, an dem Unverständnis und Bärenfeindlichkeit grassieren. Vielmehr lösen sich beide Figuren ja schon rasch von diesem Nebenschauplatz. Und tatsächlich sind es ja die Berge, auf denen die Bärin lebt und die fast die gesamte naturgesättigte Handlung des Romans um die drei Figuren bestimmen.

Erinnert der französische Originaltitel Et vous passerez comme des vents vous im Deutschen etwas an die berühmten windigen Zeilen aus dem Gedicht Vom armen B. B. des Dramatikers Bertolt Brecht, in dem er von den Städten schrieb, von denen nur der Wind bleiben würde, der durch sie hindurchging, so bleibt von derartiger Poesie in der nun gewählten deutschen Titelvariante überhaupt nichts übrig. Mit Tälern begnügt sich Clara Arnaud nicht, vielmehr steigt ihr Roman in mitreißende Höhen empor, was die deutsche Titelwahl ruhig hätte auch so abbilden dürfen.

Fazit

Davon abgesehen ist Im Tal der Bärin ein kraftvoller Roman, der die Natur und das ökologische Gleichgewicht dort nahe der Gipfel der Pyrenäen besieht und neben der Bärin zwei angenehm komplexe Figuren in den Mittelpunkt rückt. Es ist eine wirkliche Entdeckung, die der Kunstmann-Verlag mit Clara Arnaud da aufgetan hat!


  • Clara Arnaud – Im Tal der Bärin
  • Aus dem Französischen von Sophie Beese
  • ISBN 978-3-95614-622-0 (Kunstmann)
  • 352 Seiten. Preis: 26,00 €
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