Louise Doughty – Deckname Bird

Bis nach Island schickt die Autorin Louise Doughty ihre Heldin Heather Berriman, die als Spionin für den Britischen Sicherheitsdienst unter dem Deckname Bird tätig ist. Brisante Erkenntnisse sorgen dafür, dass sie untertauchen muss. Dafür muss sie vom Radar ihrer Arbeitgeber verschwinden – und vor allem überleben.


Heather Berriman ist eine unauffällige Frau. Anfang fünfzig versieht sie ihren Dienst im Verbindungsbüro 2.6 des britischen Geheimdienstes. Zusammen mit ihrem Vorgesetzten Kieron und den Kolleg*innen ist sie mit internen Ermittlungen befasst und soll die Verlässlichkeit der Geheimdienstmitarbeitenden überprüfen. Doch schon auf den ersten Seiten tritt Heather eine schnelle, aber keineswegs kopflose Flucht an. Sie begibt sich aus dem Verbindungsbüro in Birmingham und tritt eine Flucht an, die sie über Schottland und Norwegen bis nach Island führen soll. Doch was die Hintergründe für ihre plötzliche Flucht sind, das zeigt sich erst deutlich später in Louise Doughtys Text.

Mit Deckname Bird hat die Britin einen geradezu klassischen Spionageroman geschrieben, der die Welt der Geheimdienste und vor allem die Welt des Untertauchens und spurlosen Gangs durch die Welt zelebriert. Sonderlich innovativ ist der Stoff der Agentin auf der Flucht dabei natürlich nicht.

Eine Agentin auf der Flucht

Louise Doughty - Deckname Bird (Cover)

Dass Geheimdienstmitarbeiter untertauchen müssen und sich gegen ihre früheren Arbeitgeber und deren Überwachungsapparat zur Wehr setzen müssen, ist ja essenzielles Handwerk von Agenten und wird dementsprechend immer wieder in Romanen aufgegriffen. Drehbuchautor Anthony McCarten strickte aus der Idee des Untertauchens gar einen ganzen temporeichen Thriller, in dem er die Möglichkeiten heutiger Überwachungstechnik auslotete und damit nicht gerade dazu beitrug, die Skepsis angesichts dieser Technik zu verringern. Ganz so temporeich ist Doughtys Thriller nicht, der sich lieber auf andere Aspekte des Untertauchens konzentriert.

Bei ihr hat besitzt das Untertauchen nämlich keinerlei Glamour und Nervenkitzel, sondern ist harte Arbeit. Der Weg nach Schottland ist von Entbehrungen gekennzeichnet und bringt Doughtys Agentin in Kontakt mit Obdachlosen oder übergriffigen Männern. Stets mit der Angst nach Überwachern in ihrem Nacken treibt es die Frau von Versteck zu Versteck, wobei ganz basale Probleme wie Hunger oder die Probleme bei der Toilettenbenutzung verhandelt werden. Da geraten selbst toll eingefangene Schauplätze wie ein Cottage in Schottland, die Berge in Norwegen oder die überwältigende Schönheit der Natur Islands ins Hintertreffen.

Rauer und realitätsnäher als ihre Kollegen

Wer sich Hochglanz-Action und reinen Thrill mit Finten und ausgeklügelten Manövern erhofft, der ist bei Deckname Bird fehl am Platz. Das Untertauchen hier bedeutet Angst, Einsamkeit, Unsicherheit und Entbehrung, vor allem aber immer Arbeit. Damit ist Louise Doughtys Thriller deutlich rauer und realitätsnäher als die Thrillerprodukte eines John Le Carré oder Robert Ludlum.

Die Spannung ihres Romans zieht sich aus der Frage des Überlebens einer Heldin, die als Frau mittleren Alters zudem deutlich abweicht vom üblichen Casting solcher Spionageromane. Damit gelingt Louise Doughty ein Roman, der dann eben doch herausstechen kann aus dem Vielerlei anderer Bücher mit ähnlichem Plot.

Schade ist allein die an manchen Stellen recht nachlässige Übersetzung des Buchs. So gibt es „Nordlichter“ anstelle von Polarlichtern zu bestaunen, den Finger schmückt ein „Hochzeitsring“ anstelle eines Eherings oder jemand kennt die „Raffiniertheit“ von Heathers Vater anstelle von dessen Raffinesse (obgleich beide Formulierungen im Deutschen zulässig sind, sich letztere aber zumindest für mich idiomatischer und runder liest als die etwas gequält klingende Nominalisierung, die im Buch Anwendung gefunden hat).

Fazit

Das anstrengende und entbehrungsreiche Versteckspiel einer Frau vor ihrem ehemaligen Arbeitgeber wird bei Louise Doughty zu einer spannenden Angelegenheit. die durch ihre Realitätsnähe und die für derartige Thriller ungewöhnliche Heldin besteht. Diese Heather Berriman ist eben kein James Bond und kein George Smiley, die locker flanierend durch die Handlung des Buchs schreitet. Diese Heldin kämpft, zittert, leidet. In Sachen Ungebügeltheit in puncto Plot und Personal ist das eher an Mick Herrons Slow Horses dran als an weltläufigem Agentenkitzel.

Das macht aus Deckname Bird einen zeitgenössischen und realistischen Agententhriller, der eine eigene Note in das weite Feld dieser Art von Spannungsliteratur einbringt – und der mit einer sorgfältigeren Übersetzung vielleicht noch etwas mehr geglänzt hätte.


  • Louise Doughty – Deckname Bird
  • Aus dem Englischen von Astrid Arz
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47494-5 (Suhrkamp)
  • 390 Seiten. Preis: 18,00 €
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Percival Everett – Dr. No

Fort Knox, dieser Name besitzt Klang – auch Dank der Verfilmung von Ian Flemings James Bond-Roman Goldfinger. Nach Auric Goldfinger ist es in Percival Everetts Roman Dr. No nun ein absurd reicher Tech-Milliardär, der auf den Spuren von Flemings Schurke wandeln will und sich dafür der Hilfe des Mathematikers Dr. Wala Kuti versichert. Denn dieser soll ihm beim Eindringen in die nationale Schatzkammer helfen, um das Objekt der Begierde zu stehlen: das Nichts.


Inmitten von Fort Knox, abgesichert mit Technik und Bewachern, lagern die nationalen Goldreserven der USA. Diese sind es aber weniger, die den Milliardär John Sill interessieren. Vielmehr will er ran an das große – Nichts:

Meine Expertise in nichts – nichts absolut nichts, sondern eindeutig nichts – führte dazu, dass ich mit einem oder vielmehr für einen gewissen John Milton Bradley Sill arbeitete, einen Selfmade-Milliardär mit einem einzigen Ziel, einem Ziel, das manchen faszinierend, den meisten verwirrend und schräg und allen idiotisch erscheinen mochte, sich aber zumindest leicht in Worte fassen ließ. John Milton Bradley Sill strebte danach, ein Bond-Schurke zu werden, und zwar ungeachtet der Fiktionalität von James Bond. Er formulierte es folgendermaßen: „Ich möchte ein Bond-Schurke sein.“ Ganz einfach

Percival Everett – Dr. No, S. 13

Und so möchte er wie einst Auric Goldfinger hinein ins Fort Knox, wobei ihm Wala Kintu als Mathematikprofessor helfen soll. Dessen Kollegin Eigen spannt Sill ebenfalls ein und beginnt auch noch gleich eine Affäre mit ihr. Jede Menge Bond-Reminszenzen gibt es, von der Schurkenkonferenz, auf der sich Sill eines Mitarbeiters per Haifischtank erledigt bis hin zu namentlichen Anspielungen, etwa beim Charakter Auric Takitall.

Der Milliardär und das Nichts

Gewürzt wird der durchgeknallte und alles andere als stringente Plot der Handlung mit vielen Bemerkungen und Einwürfen Wala Kintus, der als Erzähler auf dem Autismus-Spektrum wandelt und als mathematisch geschulter Denker zu umständlichen Ansichten wie Verhaltensweisen und Dialogen neigt. Dabei lässt er beständig Satzbrocken wie den folgenden fallen:

Die Lüge ist das arithmetische Axion, demzufolge x für jedes x auf der Welt gleich x ist. Nur der Glaube lässt dies als unwiderlegbare Wahrheit zu. Selbst wenn ich x als das Ding definiere, das zu einer bestimmten Position in der Zeit eine bestimmte Position im Raum einnimmt. Ich war mir ziemlich sicher, dass der Mann, der vor dem Gebäude, in dem sich mein Büro befindet, eine bestimmte Position im Raum einnahm, John Sill war, und deshalb sprach ich ihn als solchen an.

Percival Everett – Dr. No, S. 52

Geheimdienstler, verschwindende Städte, ein einbeiniger Hund namens Trigo, viel Chaos und Diskussionen, das macht Dr. No aus. Trotz dem mathematischen Sachverstand Wala Kitus ist ein logischer Fortgang der Geschichte nicht immer gegeben, stattdessen beobachtet Percival Everett mit großer Freude, wie Sill seinem Vorbild der Bond-Schurken nacheifert und damit alles in Chaos stürzt. Egal ob im superschnellen U-Boot auf Wettfahrt mit den Behörden oder im Schurkenquartier, das durch eine exzellente Buchauswahl glänzt. Irgendwo zwischen Gru und Ian Fleming oszilliert dieses Buch mit Mut zum Knallchargentum.

Rassismus als werkimmanentes Thema Percival Everetts

Percival Everett - Dr. No (Cover)

Auch umkreist Dr. No wieder, wie schon seine letzten Romane Die Bäume und James das Thema des Rassismus. Großartig etwa die Szene, als Kitu bei einer Polizeikontrolle in seinem Auto angehalten wird und keine Fahrerlaubnis vorweisen kann. Aufgrund der omnipotenten Verfügungsgewalt von Sill über sämtliche Sicherheitsbehörden ist das auch eigentlich kein Problem und Kitu drohen keine Konsequenzen.

Viel interessanter dabei ist aber der Rassismus des anhaltenden Polizeibeamten, der sich immer mehr herausschält. Je verzweifelter der Mann seine behördliche Ohnmacht feststellen muss, umso hilfloser werden seine Versuche, Wala Kitu doch noch festzuhalten, bis zuletzt der einzige und stärkste Grund für die gewollte Festnahme in seinem Sprechen offenbar wird: Wala Kitu ist schwarz und als solcher per se verdächtig.

Hier scheint Everetts Talent zu Komik und gleichzeitiger Gesellschaftsanalyse voll durch. Ingesamt aber ist Dr. No ein Buch, das mit seinem anstrengenden Erzähler und der immanenten Überdrehtheit herausfordert. Natürlich fängt Percival Everett die infolge der Autismus-Diagnose leicht verschobene Wirklichkeitswahrnehmung Wala Kitus bravourös ein und mit dem ins Absurde übersteigerten Techmilliardär auf Schurkenmission knüpft Dr. No auch an die Allmachtsfantasien der im Silicon Valley beheimateten Tech-Bro-Elite an.
Tatsächlich lädt das Buch in seiner ganzen Durchgeknalltheit wunderbar dazu ein, viele Interpretationen zu bemühen und eigene Lesarten anzustrengen. Die Literaturkritik wird dies wieder mit Vergnügen tun – aber dennoch bin ich deutlich weniger begeistert.

Fazit

Für mich ist dieses Buch wieder einmal etwas zu viel des Guten. Allmählich kristallisiert sich im Oeuvre Percival Everetts ein regelmäßiger Amplitudenschlag heraus. Auf ein grandioses Buch folgt immer wieder eine zu überdrehte Satire, die mich nicht überzeugen kann. Das war mit Die Bäume so, das auf das hervorragende Erschütterung folgte – und das ist jetzt mit Dr. No so, das zumindest hierzulande auf das völlig zurecht mit dem Pulitzer-Preis gekrönte Rassismusdrama James folgte (im Original erschien Dr. No bereits 2022, also vor James).

Insofern für mich eher ein No für diesen Tech-Milliardär und seinen mathematischen Adlatus.


  • Percival Everett – Dr. No
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-446-28417-3 (Hanser)
  • 319 Seiten. Preis: 26,00 €
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Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten

Was ist die schönste Natur wert, wenn doch der Mensch in ihr umhergeht und die Grundlagen der Natur und ihre Intaktheit bedroht? Das beschäftigt die kanadische Autorin Gabrielle Filteau-Chiba in ihrem Roman Die Ungezähmten, der nun in der Übersetzung von Katrin Segerer auf Deutsch erstmals vorliegt. Darin erzählt sie von einer Wildhüterin, die das Raubtier Mensch auf ganz eigene Art bekämpft.


Kamouraska, eine in der Provinz Québec gelegene Gemeinde. Hier versieht die Wildhüterin Raphaëlle Robichaud ihren Dienst in den Wäldern zwischen Flüssen, tiefen Wäldern und Ahornplantagen. Einsam lebt sie in einem Trailer und verzweifelt an der Aufgabe, der sie sich gegenübersieht.

Wie soll man die Wälder und die Natur beschützen, wenn doch Wilderer nahezu ungestört die Tierpopulation dezimieren, Konzerne Raubbau an der Natur betreiben und die Politik sich nicht wirklich für die Fragilität der Natur interessiert und lieber eine Chimäre der Wildnis Kanadas feiert? Raphaëlle zweifelt so manches Mal an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns, sieht sie sich doch einer Übermacht feindlicher Kräfte gegenüber. Als dann auch noch ihre frisch bei ihr im Trailer eingezogene Hündin Coyote fast in einer der Fallen eines besonders brutalen Wilderers landet, ist für die Wildhüterin endgültig das Maß voll.

Wer sind wir, wenn sich uns angesichts der alltäglichen Grausamkeiten nicht das Fell sträubt? Nichts weiter als selbst nur Tiere, Bestien ohne Herz und Verstand.

Und ich, die Wildhüterin, muss mit meinem orwellschen Titel leben und die Jagd. und Fallenindustrie behüten, muss maßlose Mörder laufen lassen, die unsere Wälder entvölkern. Als hätten die Pelzraubtiere nicht ihren Platz in der Nahrungskette. Heute Abend werde ich viel Wasser in meinen Wein gießen müssen.

Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten, S. 86

Sie bläst zum Kampf gegen die Wilderer – und bekommt Unterstützung von ungeahnter Seite. Bei ihren Recherchen zur Identität des gesuchten Wilderers stößt sie per Zufall auf das Tagebuch einer anderen Frau, in der Raphaëlle eine Seelenverwandte erkennt. So sucht sie nun nicht nur nach dem Wilderer, sondern auch jener Anouk, die in dem Tagebuch ihre Seele offenbarte und die auf Raphaëlle eine große Anziehung ausübt.

Reich an Themen

Gabrielle Filteau-Chiba - Die Ungezähmten (Cover)

Die Ungezähmten von Gabrielle Filteau-Chiba vereint einige Themen. Zuvorderst ist das Buch eine Hymne an die Schönheit der Natur dort im Grenzland zwischen Kanada und den USA. Ähnlich wie Tammy Armstrong zuletzt gelingt auch der französischsprachigen Autorin in ihrem Buch eine kraftvolle Hommage an Wald und Wild dort in Nordamerika – und eine Beschreibung der immensen Zerbrechlichkeit, die der Natur trotz ihrer scheinbaren Robustheit innewohnt.

Dann ist ihr Buch auch eine Rachegeschichte, die Erzählung einer Frau, die gegen männliche Dominanz, Selbstherrlichkeit und Brutalität aufbegehrt. Nicht umsonst lauten Titelüberschrift schon einmal „Privatjagd“, „Vendetta“ oder „Zahn um Zahn“. Die schon fast archaische Rache am Wilderer, der in Raphaëlles privateste Bereiche eingedrungen ist, kontrastiert Gabrielle Filteau-Chiba mit einer sanften queeren Liebesgeschichte, die sich zwischen der Wildhüterin und der Tagebuchschreiberin Anouk anbahnt und die damit einen Gegenentwurf zur männlichen Welt voller Gewalt darstellt.

Ergänzt wird das Ganze durch Illustrationen der Autorin, die sich immer wieder im Text finden, neben Tagebucheinträge und dem Aufglimmen von Poesie, die manchmal sogar an der Konkreten Poesie geschult ist.

Eine stilistische Mischung mit mangelhaft motivierter Erzählperspektive

Das ist eine reizvolle Mischung, bei der nur die Wahl der Perspektive nicht ganz aufgeht. So ist Gabrielle Filteau-Chiba mit der Erzähltechnik der Ich-Erzählerin ganz nah dran an ihrer Figur Raphaëlle – will dann neben der Einführung Anouks mithilfe deren Tagebuchs auch noch vom Wilderer erzählen, obwohl ja eigentlich Raphaëlles Blick auf die Welt der zentrale und bestimmende ist.

Das klappt nicht so ganz, da Filteau-Chiba diese Perspektive durch eine Mischung aus realistisch geschilderten Traumpassagen und der konkreten Erzählung des Schicksal des Wilderers in den Erzählfluss holen will. Dabei blieben zumindest bei mir Fragen ob der Verlässlichkeit dieser Perspektive.
Woher hat die Wildhüterin ihr Wissen über das Schicksal des Wilderers, wenn sie doch zugleich weit weg von diesem flieht? Was ist Vorstellung, was Traum, was Realität? Dieses Schwanken der Verlässlichkeit mag trotz aller erzählerischer Tricks wie etwa der klassischen Mauerschau in Form eines Briefs schlussendlich nicht so ganz funktionieren und hätte vielleicht noch einer anderen erzählerischen Lösung als der hier angebotenen bedurft.

Fazit

Von solchen Einwänden abgesehen ist Die Ungezähmten ein krafttvolles Buch, das Natur und das Eintreten für deren Schutz feiert. Mit der Wildhüterin Raphaëlle Robichaud gelingt Gabrielle Filteau-Chiba ein widerständiger und eigensinniger Charakter, dem man durch die Wälder und Pfade der kanadischen Natur gerne folgt und mit der man mitbangt, mag man diese Art von Rache im Roman auch nicht gutheißen. Unterhaltsam und mitreißend ist dieser Natur Noir-Roman aber auf alle Fälle.


  • Gabrielle Filteau-Chiba – Die Ungezähmten
  • Aus dem Französischen von Katrin Segerer
  • ISBN 978-3-423-28515-5 (dtv)
  • 336 Seiten. Preis: 24,00 €
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Helen Rebanks – Die Frau des Farmers

Memoir, Beschreibung der bäuerlichen Lebenswelt und Kochbuch zugleich – Helen Rebanks gibt in ihrem Buch Die Frau des Farmers Einblick in ihr Leben als Bäuerin und Mutter. Und schafft damit gleich noch einen interessanten Gegenschuss zum vor knapp zehn Jahren erschienenen Bestseller ihres Mannes James Rebanks.


Bäuerliches Leben, das ist keine pastorale Idylle. Mutterschaft schon gar nicht – das zeigt Helen Rebanks in ihrem Buch eindrücklich. Zusammen mit ihrem Mann James leben sie mit ihren vier Kindern auf einem abgelegenen Hof im nordenglischen Cumbria, wo ihr Mann Herdwickschafe züchtet.
Von dieser Aufgabe und den wenig romantischen Seiten des Schafzüchterdaseins erzählte James Rebanks bereits in seinem Buch Mein Leben als Schäfer, das zum Bestseller avancierte. Eine Betrachtung über sein englisches Bauernleben und die Geschichte der von der Familie bewirtschafteten Farm folgte.

Nun aber wirft Helen Rebanks ihren Blick auf den Alltag und ihrer Familie und beleuchtet damit die Aspekte des Lebens, die ihr Mann in seinen Werken eher aussparte. Die erzwungene Pause des ganzen Lebens infolge der Corona-Pandemie nutzte sie, um erste Gedanken und Skizzen über ihr Leben und Werden niederzuschreiben.

Für mich war es das erste Mal, dass ich über die Welt um mich herum so richtig nachdenken konnte. Ich hörte auf, ständig irgendetwas hinterherzujagen und ausschließlich im „Tun“ zu sein. Stattdessen habe ich das Leben, das wir uns auf dem Hof aufgebaut haben, sehr bewusst wahrgenommen. Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, woher ich gekommen bin und warum ich getan habe, was ich getan habe. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich mich auf mich selbst konzentriert und das Schreiben als Möglichkeit genutzt, meine Gedanken und Vorstellungen auszudrücken.

Helen Rebanks – Die Frau des Farmers, S. 407

Vom Leben als Bäuerin, Köchin und Mutter

Helen Rebanks - Die Frau des Farmers (Cover)

Schon der Titel von Rebanks Buch zeigt sich die Definition ihrer Rolle über ihren Mann – was sich im Inneren fortführt, in dem Rebanks einen ehrlichen und ungeschönten Blick auf die Beziehung wirft, die die beiden eingegangen sind und die im Lauf der Zeit mal besser, mal schlechter funktioniert.

Zurückblickend auf ihre eigene Kindheit erzählt Helen Rebanks von ihrer kindlichen Entdeckung der weiten Welt der Kulinarik – und vom Kennenlernen ihres Mannes, der so ein anderer Farmer ist als all die übrigen Bauern in ihrem Lebensumfeld. Gemeinsam beziehen die beiden eine Wohnung in Oxford und erproben das Leben als Partner. Es wird die erste Immobilie in einer ganzen Reihe an Wohnungen und Häusern sein, die sie immer näher an die Heimat der beiden in Cumbria heranführen wird.

Mehrmals beziehen sie neue Zuhause, renovieren und ziehen doch wieder um, während die ersten beiden Kinder zur Welt kommen. Von den Schwierigkeiten der Beziehung in jener Zeit erzählt Rebanks ausführlich. Unterbrochen von immer wieder eingestreuten Rezepten (ein Kennzeichen des ganzen Buchs) erzählt sie von Überlastung, vom Kampf an mehreren Fronten mit Immobilienproblemen, finanziellen Engpässen und mehr als ungleich verteilter Sorgearbeit. Ihr täglicher Alltag, den der Buchuntertitel Mein Leben in einem Tag suggeriert, kommt wenig vor, stattdessen besteht das Buch überwiegend aus Rückblenden, die neben knappen biografischen Wegmarken vor allem die Schwierigkeiten des familiären Lebens ausführlich beleuchten.

Dominierende innerfamiliäre Themen

Während ihr Mann ausführlich von seinem Alltag als Schäfer und den Herausforderungen der Schafzucht erzählt, sind es bei Helen Rebanks die innerfamiliären Themen, die in Die Frau des Farmers dominieren.

Als progressive Schrift hin zu einem neuen, gleichberechtigten familiären Miteinander von Mann und Frau dient Die Frau des Farmers nur bedingt. Der Mann als Ernährer der Familie und die Frau als Betreuerin der Kinder und als ständige Köchin am Herd – hin bis fast zur Selbstaufgabe, Rebanks Buch hat diesem alten Rollenbild wenig entgegenzusetzen. Die beiden leben ein althergebrachtes und zumeist funktionierendes Beziehungssystem, das in seiner traditionellen Lebensweise durchaus Klischees erfüllt.

So wartet im Gegensatz zum auf den beruflichen Alltag zentrierten Buch ihres Mannes ihr Werk mit über fünfzig Rezepten auf. Diese reichen, die von Frühstücksideen für die Familie bis hin zur Rezepte der Schweinshaxenbrühe für 70 Bauern und zeigen Helen Rebanks als kreative wie auch traditionelle Versorgerin und Köchin in der Tradition ihrer Vorfahren. Überhaupt, die Tradition. Am Ende des Buchs finden sich dann ausführliche hauswirtschaftlichen Ratschläge in Form von Listen für die Vorratskammer oder das Gefrierfach, die auch jede Tradwife glücklich machen dürften.

Als ungeschönten Blick auf die Herausforderungen, die Familie bedeutet, ist ihr Buch aber durchaus bemerkenswert. Bäuerliches Leben kommt wie der familiäre Alltag eher am Rande vor, dafür ist das Buch stark, was die Beschreibung der Selbstaufgabe und die partnerschaftlichen Kämpfe, anbelangt. Familie ist eben nie ein perfektes Bild von Gemeinschaft, sondern bedeutet auch Erschöpfung und Niederlagen. Auch romantisiert Helen Rebanks den Alltag dort in der Einsamkeit Cumbrias nicht. So spielt die Keulung von Tieren infolge einer Pandemie oder das Festsitzen auf dem autarken Hof inmitten von Schneemassen, die so gar nichts von Winteridylle als vielmehr von Überlebenskampf hat, in ihrem Buch auch eine große Rolle.

Fazit

Gesellschaftlichen Fortschritt findet man in Helen Rebanks Buch nur in Form des ungeschönten Blicks auf die Herausforderung, die Mutterschaft und ein traditionelles Familienbild bedeuten kann. Dennoch ist diese Form des Zusammenlebens eine, die die Autorin aber doch auch erfüllt, wie zumindest die kurzen Einsprengsel im Text hoffen lassen. Der Mann als Ernährer, die Frau als Köchin, die althergebrachte Ordnung bestätigt Die Frau des Farmers an vielen Stellen des Textes – wartet aber auch mit Rezeptideen und Illustrationen von Eleanor Crow auf.

So ist dieses Buch eine Wundertüte, die mit unterschiedlichsten Themen von selbstkritischem Memoir, Helen Rebanks Blick auf den bäuerlichen Alltag und die ihr wichtigen Themen, Kulinarik bis hin zur Beschreibung bäuerlicher wie partnerschaftlicher Tradition aufwartet.


  • Helen Rebanks – Die Frau des Farmers – Mein Leben in einem Tag
  • Aus dem Englischen von Nastasja S. Dresler
  • ISBN 978-3-608-96673-2 (Klett Cotta)
  • 416 Seiten. Preis: 24,00 €
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Nicolás Ferraro – Ambar

Roadtrip, Coming of Age und Gangsterballade. Das alles mischt der Argentinier Nicolás Ferraro in seinem Thriller Ambar zusammen, in dem er eine junge Teenagerin zusammen mit ihrem Vater, einem Auftragsmörder, quer durch Argentinien schickt. Nun liegt das Buch in der Übersetzung von Kirsten Brandt im Pendragon-Verlag vor.


Meine Kindheit ist ein unvollendetes Tattoo, weil irgendjemand beim Stechen ständig das Design verändert hat. Oder ich habe beschlossen, es nicht weiter stechen zu lassen, weil ich den Schmerz nicht mehr ertrage.

Nicolás Ferraro – Ambar, S. 230

Das Tattoo, es ist ein Leitmotiv, das sich durch den ganzen Roman des argentinischen Autors und Bibliothekars Nicolás Ferraro zieht. So ziert ein Tattoo mit der Inschrift ÁMBAR den Unterarm von Ambars Vater, der sich die Erinnerung an seine Tochter unter Schmerzen auf seinen Körper hat schreiben lassen. Im Gegensatz zu anderen tätowierten Männer sind es aber auch zahlreiche Narben, die seine Haut zieren, denn Ámbars ist nicht wie andere Väter. Ámbars Vater ist ein Killer.

Die Tochter eines Killers

Ruhe, ein stabiles Zuhause oder Schule, das alles gibt es für seine Tochter nicht, denn mit seiner Tochter an seiner Seite ist ihr Vater unterwegs durch ganz Argentinien. Für seine Aufträge reist er in Autos umher, bringt Menschen um und ist auf der Flucht. Seit Kindesbeinen an sind so die Erinnerungen von Ámbar an ihren Vater von Wunden und der damit verbundenen Gewalt geprägt.

Als ich zwölf war, hat Papá mir beigebracht, Kugeln zu entfernen und Wunden zu nähen. Mit dreizehn habe ich schießen gelernt und ein paar Monate später, wie man ein Auto kurzschließt.

Nicolás Ferraro – Ámbar, S. 8

Doch auch Ámbar hat Ziele, die sich in Form eines Tattoos ausdrücken. Denn darauf spart das Mädchen schon seit langer Zeit, während es mit seinem Vater durch Argentinien zieht und immer wieder die Identität wechselt, mal Alejandra heißt oder auf den Tarnnamen Delfina hört und ihren Vater bei seiner Arbeit unterstützt, indem sie Orte und Menschen ausspioniert oder seine erlittenen Wunden versorgt.

Unterwegs durch Argentinien

Nicolás Ferraro - Ámbar (Cover)

Doch nun ist alles anders. Denn jemand möchte Ámbars Vater tot sehen. Dieser dreht allerdings den Spieß um und macht Jagd auf die Menschen, die seinen Tod wollen. Und so beginnt ein Roadtrip, der von Gewalt. immer neuen Identitäten und Schauplätzen geprägt ist, während das Mädchen und ihr Vater auf der Reise über ihren Musikgeschmack streiten und eigentlich nur aus der Geschichte herauswollen, in die sie geraten sind. Doch dabei rückt eine Frage immer weiter in Ámbars Fokus: kann sie ihrem Vater überhaupt trauen?

Ámbar kennzeichnet eine Mischung aus Elementen eines klassischen Road Novels, die manchmal schon fast spaltterhaften Gewalt vor allem im letzten Teil des Buchs sowie dem Grundmotiv eines Coming of Age-Romans, in dem sich Ámbar zum ersten Mal verliebt und eigentlich andere Ziele hat, als das Überleben ihres Vaters zu sichern. Es ist ein Roman, der an seiner disparaten Motivlage scheitern könnte, es aber nicht tut. Denn all diese Elemente fügen sich sehr gut zusammen und lassen den Roman immer weiter vorantreiben, während Ámbars Vater nacheinander alle Verdächtigen auf seiner Liste abklappert, um seinen Gegnern näher zu kommen.

Und auch wenn sich die Schauplätze Argentinien und Chile nicht ganz die gleichen sind, so ist doch auch die Ähnlich zu María José Ferradas Roman Kramp unübersehbar. War es bei ihr ein Handelsvertreter, der zur Zeit der Pinochet-Diktatur mit seiner Tochter auf Reisen durch das Land ging, ist Ámbar gewissermaßen die große Schwester zu diesem Roman. Auch hier dominiert die Reise eines Vaters mit seiner Tochter und deren Erwachsenwerden den Roman, wenngleich Nicolás Ferraros Erzählung genrebedingt deutlich gewalthaltiger und ohne große politische Bezüge daherkommt.

Fazit

Ein dunkler Roadtrip und das spannungsgeladene Verhältnis einer Tochter zu ihrem Vater stehen im Mittelpunkt dieses Romans, der sich aus ganz verschiedenen Genres und Stilistiken speist und doch zu einem wohlgetakteten und pulsierenden Noir findet. Mit Nicolás Ferraros mit dem Premio Hammett ausgezeichneten Kriminalroman ist dem Pendragon-Verlag eine interessante Entdeckung gelungen, deren eher an ein Jugendbuch erinnernde Aufmachung fast ein wenig am Charakter des Buchs vorbeigeht. Das Erscheinen von Ámbar auf der Krimizeit-Bestenliste des Jahres würde mich nicht verblüffen.


  • Nicolás Ferraro – Ámbar
  • Aus dem Spanischen von Kirsten Brandt
  • ISBN 978-3-86532-901-1
  • 312 Seiten. Preis: 22,00 €
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