Nicola Upson – Mit dem Schnee kommt der Tod

Wenn echte Krimischriftstellerinnen zu fiktiven Ermittlerinnen werden. In Nicola Upsons Weihnachtskrimi Mit dem Schnee kommt der Tod muss die Autorin Josephine Tey zusammen mit dem Scotland Yard-Ermittler Archie Penrose einen kniffligen Fall auf einer vom Sturm abgeschnittenen Insel lösen. Ein nostalgischer Weihnachtskrimi, der sich vieler bekannter Motive bedient, diese aber gut zu variieren weiß.


Der gute alte Whodunit-Krimi ist nicht totzukriegen. Jüngst bot Kenneth Branagh in seiner Interpretation von Agatha Christies Ermittlerfigur Hercule Poirot seinen dritten Kinoauftritt dar, indem er in A haunting in Venice in einem abgeschlossenen venezianischen Pallazzo auf Mördersuche geht. Und auch Nicola Upson bedient sich des klassischen Krimimotivs, um ihren an den Weihnachtsfeiertagen spielenden Krimi Mit dem Schnee kommt der Tod zu erzählen.

So gibt es auch bei ihr einen abgeschlossenen Schauplatz inklusive eines überschaubaren Figurenensembles, das ihren 2020 im Original erschienen Krimi in die Tradition von Agatha Christie, Ellery Queen, John Dickson Carr, Dorothy L. Sayers und Konsorten stellt.

Ein Mörder auf St. Michaels Mount

St. Michaels Mount heißt die Insel, die vor der Küste Cornwalls wie ein kleiner Bruder des weitaus bekannteren und größeren Ensembles Mont Saint Michel wirkt. Einst vom gleichen Orden wie in der Normandie genutzt befindet sich neben Gärten, einem kleinen Hafen und Häuserensemble eine Burg mit Kirche auf der Spitze der Insel. Besonders reizvoll macht die kleine Insel die Anreise. Denn diese kann per Schiff, bei herrschender Ebbe aber auch per Fußweg durchs dann verschwundene Meer erreicht werden.

Im Falle von Mit dem Schnee kommt der Tod ist es nun ein herrschender Wintersturm, der die Insel über die Weihnachtsfeiertage von der übrigen Außenwelt abschneidet und somit perfekte Rahmenbedingungen für eine Suche nach einem Mörder bildet, der schon kurz nach der Ankunft für einen ersten Toten unter den auf St. Michaels Mount weilenden Gästen sorgt.

Dabei ist der Roman nicht nur formal in der Verwendung seiner Erzählmittel eine Hommage an den klassischen britischen Ermittlerkrimi – auch eine der beiden entscheidenden Ermittlerfiguren ist eine Hommage an die sogenannte „Goldene Zeit“ des Krimis. Denn neben dem Scotland Yard-Ermittler Archie Penrose tritt die Krimiautorin Josephine Tey hier als Detektivin auf.

Eine Krimiautorin wird zur Ermittlerin

Nicola Upson - Mit dem Schnee kommt der Tod (Cover)

Die in Schottland geborene Josephine Tey war es, die neben ihren Theaterstücken mit Krimis wie etwa Nur der Mond war Zeuge in den 30er Jahren große Erfolge feierte und zusammen mit ihren schon erwähnten Kolleg*innen das Goldene Zeitalter des Rätselkrimis entschieden prägte. Kein Geringerer als Alfred Hitchcock (der in diesem Roman nur indirekt, in einem bald auf Deutsch folgenden anderen Band der Reihe dann aber einen ausführlichen Auftritt hat), nahm Teys Roman A Shilling for Candles als Basis für seinen Film Jung und unschuldig aus dem Jahr 1937.

Es ist somit eine wirklich prominente Autorin, die hier von der Erfinderin von Kriminalromanen zur Protagonistein eines Buchs ebenjener Gattung wird. Über ihr Leben und ihr Schaffen erfährt man allein auf der Basis von Mit dem Schnee kommt der Tod allerdings kaum etwas. Als Figur bleibt Josephine Tey ebenso wie ihr Co-Ermittler Archie Penrose blass.

Es ist vielmehr der Star dieses Buchs, der mit seinem Auftritt das restliche Ensemble aus Autorin, Scotland-Yard-Ermittler, Pfarrer, Schlossherrin und Co überstrahlt. Denn zu dem besonderen Weihnachtsfest auf St. Michaels Mount hat sich keine Geringere als Marlene Dietrich angesagt, die mit dem derweil in halb Europa herrschenden Naziregime fremdelt und auf der malerischen Insel etwas Abstand zu den Avancen ihres Heimatlandes gewinnen will. Sie zieht die Blicke auf sich und sorgt auf der kleinen Insel für viel Aufsehen – und liefert dann auch noch eine entscheidende Beobachtung zur Entlarvung des Täters.

Defizite in der Figurenzeichnung

Bei so viel Glamour stehen Tey und Penrose deutlich zurück. Aber auch die Konzeption des Romans als Teil einer losen Reihe tut ihr übriges, dass die Figurengestaltung in diesem Buch etwas ins Hintertreffen gerät. So ist der ursprünglich 2020 unter dem Titel The Dead of Winter erschienene Krimi der neunte Band der Reihe um Tey und Penrose, die 2008 ihren Ausgang nahm. In ihrer inneren Logik bauen die Bände nicht stark aufeinander auf und können für sich gelesen werden – und so ist die Charakterentwicklung über die anderen Bände hinweg (die nun sukzessive in deutscher Übersetzung erschienen – die vorliegende besorgte Anna-Christin Kramer) wohl auch zwingender, als sie es in diesem fortgeschrittenen Teil der Reihe für sich genommen ist.

Davon abgesehen ist Mit dem Schnee kommt der Tod ein stimmungsvoller Krimi, der seinen Handlungsort auf der abgeschnittenen Insel über die Weihnachtsfeiertage gut in Szene zu setzen weiß. Nach einem reichlich brutalen Einstieg findet das Buch in gemächlichere Fahrwasser und beachtet die Spielregeln, die von Josephine Tey und anderen Größen des Genres zur Perfektion gebracht wurden, hervorragend. Eine nostalgische Mördersuche, die sich hervorragend über die Weihnachtsfeiertage wegschmökern lässt – aber nicht nur zu dieser Zeit. Weitere Bände der Reihe sind schon erschienen beziehungsweise kommen im Frühjahr 2024 auf den Markt.


  • Nicola Upson – Mit dem Schnee kommt der Tod
  • Aus dem Englischen von Anna-Christin Kramer
  • ISBN 978-3-0369-5011-2 (Kein & Aber)
  • 336 Seiten. Preis: 20,00 €
Diesen Beitrag teilen

Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones

Ein Titel so lang wie die Lebensreise, die der britische Journalist und Werbetexter Owen Booth in seinem Debütroman schildert: Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones erzählt von der Mannwerdung, der Heldenreise und den kuriosen Begegnungen des jungen Daniel Bones, der Ende des 18. Jahrhunderts von seiner englischen Heimat bis nach Südfrankreich und Italien gelangt.


Es ist ein seltsamer Anblick, der sich dem jungen Daniel Bones bietet, als er eines Abends um das Jahr 188- herum mal wieder durch die Marschlandschaft seiner Heimat streift. Ein Mann in einem schwarzen Anzug entsteigt dem Wasser, um sich bei Daniel über den richtigen Weg zum Fluss W. zu erkundigen. Auch wenn er den falschen Abzweig im Wasser genommen hat – Daniel ist von der Erscheinung des Mannes so eingenommen, dass er ihm wenig später auf dessen abenteuerlichen Reise folgen wird.

Als das Etwas näher kommt, erkenne ich, dass es tatsächlich ein Mensch ist, aber er schwimmt nicht, sondern gleitet wie in einem sehr niedrigen Eskimokajak dahin. Er liegt flach auf dem Rücken im Wasser in einer Art aufgepumptem Anzug, hat nur den Kopf angehoben und bewegt sich mithilfe eines kurzen Doppelpaddels vorwärts. Dabei zieht er eine kleine Trage aus Segeltuch, in der vermutlich seine Habseligkeiten oder seine Ausrüstung verstaut sind, an einem mehrere Meter langen Tau hinter sich her.

Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones, S. 20

Die Mutter tot, der Vater ein Schläger und Alkoholiker, der dem kleinen Bruder schon einmal den Arm bricht, wenig Perspektiven außerhalb einer Nachfolge im Austernzucht- und Schmuggelgewerbe – so begibt sich Daniel statt eines ebenso vorhersehbaren wie deprimierenden Lebens auf die Reise mit diesem seltsamen Mann, der aus dem Wasser kam und auf den Marktplätzen des Landes für seine Erfindung, den aufblasbaren Taucheranzug, wirbt.

Aufgemuntert durch die Gemeinschaft seines Heimatdorfs, die durch eine patriotische Rede des tollkühnen Captain Clarke B. in Euphorie versetzt wurde, wird er zum Assistenten des schillernden Captain, der ihn auf seiner Reise begleitet und fortan als dessen Adlatus fungiert.

Mit dem Froschmann von England bis nach Italien

Im Gefolge des tollkühnen Froschmanns reist er durch kleine englische Städte und Weiler, hilft dem Captain bei der Vorführung von dessen Tauchanzug, sammelt Geld ein und lernt das Leben in seiner ganzen Fülle kennen. Per Schlauchboot geht es über den Ärmelkanal, Stationen in Frankreich und Italien werden auf der Reise folgen. Immer zieht der Captain eine Melange aus neugieriger Bevölkerung, Organisierter Kriminalität, faszinierten Würdenträgern und äußerst hingebungsvollen Frauen an.

Owen Booth - Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones (Cover)

Denn dieser Captain, den wir durch die Beschreibungen seines Lehrjungen kennenlernen, er ist vieles: ein Scharlatan, ein Abenteurer, ein Erotomane, eine Glücksspieler und noch so viel mehr. Immer wieder erzählt er fantastische Märchen, will mit der Vorführung seines Anzugs mal Seeleute retten, mal die maritimen Streitkräfte unterstützen – immer aber irgendwie einen eigenen Vorteil herausschlagen, der ihn in Kontakt mit den Reichen und Mächtigen bringt und für eine gefüllte Börse sorgt.

Bis zum König von Italien bringt es der Captain auf seiner Tour, den er mit Daniel im Gefolge in Neapel am Fuße des Vesuvs kennenlernt und der schließlich durch ein Komplott sterben soll, in welchem Daniel eine entscheidende Rolle spielt.

Es sind tolldreiste Episoden wie diese, die den Reiz von Owen Booths Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones ausmachen.

Vom Rheinfall bis zum König von Italien

Dieses Buch ist als großer Bilderbogen angelegt, der voller Begegnungen und außergewöhnlicher Momente steckt. Kleinen Prinzessinnen, Mönchen, Räuberbanden oder reiche Witwen, Daniel Bones lernt sie alle kennen. Eine lebensgefährliche Fahrt den Rheinfall hinab, die Explosion eines Schiffs mit anschließender Rettung oder spätrömisch-dekadente Orgien sind nur einige Episoden in diesem an Geschichten und Figuren reichen Roman.

Das ist nicht frei von Komik und Sinn für Skurrilität, die mich persönlich manchmal an den lakonischen Witz Wes Andersons erinnerte. Als Referenzpunkte kann aber auch ebenso Esi Edugyans Washington Black herangezogen werden, mit dem sich Booths Buch in meinen Augen die Anklänge an Jules Vernes technologieoffene Reiseliteratur á la In 80 Tagen um die Welt teilt.

Doch nicht nur an diese Erzähltradition knüpft Booths Roman an. Wenn man wollte, könnte man Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones auch in der Erzähltradition des Barock verorten, und das nicht nur des Titels wegen.

Reiseliteratur mit Anklängen an die Barockliteratur

Aventüre und Heldenreise sind das Motto, das über den drei Büchern steht, die den Roman unterteilen (und die selbst wiederum jede Menge kleine Kapitel mit sprechenden Titeln aufbieten). Ähnlich wie Grimmelshausens Simplicissimus oder Swifts Gulliver ist auch Daniel Bones ein ständig Reisender, der die Lande durchmisst und dem die unglaublichsten Dinge auf seiner Reise widerfahren, wovon er in diesem Buch Zeugnis ablegt.

Bei diesem Fokus auf Vorankommen, Erleben und Staunen ist es die charakterliche Entwicklung und die im Vergleich zu diesem immensen Schilderungswillen manchmal etwas Zeichnung der Figuren, die bei Booths Debüt ins Hintertreffen gerät und manchmal etwas flach ausfällt. Auch sprachlich geht Booth den einfachen Weg, indem er Daniel als manchmal etwas naiven und nicht allzu gebildeten Jungen zeigt, dessen Sprache frei von historisierenden Burlesken ist und den Blick auf die Handlung wirklich nicht verstellt. Als Unterhaltungsroman mit rasantem Plot funktionieren diese wirklich wahren Abenteuer aber hervorragend. Stets treibt die Handlung voran, immer wieder warten neue Figuren und Episoden am Wegesrand. Langweilig wird es hier nie!

Fazit

Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones ist ein Abenteuerroman alter Schule, der die Retro-Anmutung des Covers auch im Inneren einlöst. Originell und von großer Handlungsfülle ist die Welt an der Schwelle des 18. zum 19. Jahrhundert, in die uns Owen Booth in seinem Abenteuer mitnimmt. Mit Daniel Bones und Captain Clarke B. kann man wirklich in diese historischen Welten eines wirklich ausgezeichnet, nämlich abtauchen!


  • Owen Booth – Die wirklich wahren Abenteuer (und außerordentlichen Lehrjahre) des Teufelskerls Daniel Bones
  • Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
  • ISBN 978-3-86648-663-8 (Mare)
  • 384 Seiten. Preis: 25,00 €
Diesen Beitrag teilen

Dennis Lehane – Kalt wie dein Herz

Ob der dritte Format- und Gestaltungswechsel innerhalb von fünf Bänden den verdienten Ruhm bringt? Angesichts der bisherigen Rezeption der Diogenes-Neuausgabe der Krimis von Dennis Lehane bezweifle ich. Obgleich Kalt wie dein Herz einmal mehr ein absoluter Ausnahmekrimi ist.


Dabei sieht es zu Beginn des Krimis gar nicht nach einem Fall von Kenzie & Gennaro aus, wie der fünfte Band der Reihe analog zu den anderen Krimis untertitelt ist. Denn die erfolgreiche (Arbeits-)Beziehung des Bostoner Detektivpaars ist nach den dramatischen Ereignissen aus Gone baby gone zu ihrem abrupten Ende gekommen. Angie Gennaro ist aus der Wohnung ausgezogen und man lebt getrennt.

Die junge Frau und der Stalker

Während sie für ein Sicherheitsunternehmen arbeitet und Männer datet, hält sich Patrick Kenzie weiterhin mit Detektivjobs über Wasser. In dieser Funktion sucht ihn Karen Nichols auf die sich von einem Stalker bedroht fühlt. Dieser stellt ihr nach und überschreitet dabei alle Grenzen.

Um das Problem zu lösen, setzt Patrick auf seine alte Freundschaft zu Bubba Rogowski, mit dem er den Stalker zuhause aufsucht und mit schlagkräftigen Argumenten auf ein sofortiges Ende der Annäherungen dringt.

Damit könnte das Buch natürlich zu Ende sein, doch wie das immer bei Dennis Lehane der Fall ist, liegt der Fall auch hier deutlich komplizierter, als es zunächst den Anschein hat. Denn auch Patrick Kenzie lässt nach der Trennung von Angelia Gennaro nichts anbrennen und fliegt mit einer attraktiven Strafverteidigerin in den Urlaub, statt sich vor dem Abflug noch einmal mit Karen Nichols in Verbindung zu setzen, die ihn unbedingt kontaktieren wollte.

Ein Suizid mit Folgen

Dennis Lehane - Kalt wie dein Herz (Cover)

Zurück aus dem Urlaub erwischt ihn die Nachricht vom Suizid Karens mit voller Wucht. Hat der Stalker nach der Abschreckung durch Bubba und Patrick doch noch einmal eine fatale Annäherung an Karen gewagt? Oder steckt etwas ganz anderes hinter dem Tod der jungen Frau?

Nichts ist hier, wie es scheint. Weder bei der Familie von Karen Nichols, noch im Umfeld der jungen Frau. Dass muss Patrick Kenzie erkennen, als er tiefer in die Ermittlungen einsteigt, nachdem ihm der Suizid von Karen alle Ruhe kostet. Wie konnte es zu dieser Tat kommen und warum hat er sich damals nur so wenig für das weitere Schicksal Karen interessiert und sich lieber dem Hedonismus hingegeben? Und wie konnte die Frau innerhalb weniger Monate so tief sinken, wie es alle Zeuginnen und Zeugen um sie herum beschreiben?

Das schlechte Gewissen quält Patrick und lässt ihn trotz der vielen Sackgassen, in die er sich manövriert, immer wieder weiterforschen. Seine Suche nach den Gründen für den Suizid bringt ihn schließlich auf die Spur eines wirklich gefährlichen Mannes.

Nach wie vor aktuell und von bestechender Qualität

Die Reihe um Patrick Kenzie und Angela Gennaro ist wirklich ein Phänomen. Schon seit Lehanes Debüt Dunkelheit, nimm meine Hand gelingt ihm eine Reihe auf erstaunlich hohem Niveau, die abseits von Zeitkolorit (wie antiquierter Überwachungstechnik etc.) auch über zwanzig Jahre nach ihrem ursprünglichen Erscheinen ganz hervorragend funktioniert. Jeder der Bände weist eine andere Erzählstruktur und Herangehensweise auf, Themen und Setzungen variieren, wobei sich die Romane am ehesten in Sachen Auftreten eines bestimmten gefährlichen Typs von Mann ähneln. Das ist bei Kalt wie dein Herz auch nicht anders, hier ist es ein eiskalter Psychopath, in dessen Plan der Selbstmord von Karen Nichols nur ein Baustein ist.

Wie Lehane diesen Plan langsam enthüllt und bis ins Finale dieses über 500 Seiten starken Krimis immer wieder neu zu überraschen weiß, das ist großartig gemacht. Der Heißsporn Patrick Kenzie, das Duell mit dem Psychopathen, die Annäherung an Angela Gennaro, das Einbinden von Architektur und Stadtgeschichte Bostons, das macht Lehane so in dieser Qualität keiner nach.

Zu wenig Interesse – und editorischer Wankelmut

Der einzige Wermutstropfen bei der Sache ist und bleibt das mangelnde öffentliche Interesse – und der Wankelmut des Diogenes-Verlags, der bei jedem Buch eine neue Gestaltungsidee zu verfolgen scheint (nach einem schwarzen Cover bei Band 2 ein weißer Rücken, dann wieder zurück zur schwarzen Gestaltung bei Band 3, dann ein weißes Paperbackformat mit Kinomotiv für Band 4, Band 5 dann als Taschenbuch mit Klappenbroschur). So darf man gespannt sein, ob und wie uns der finale Band der Reihe Moonlight Mile noch erwartet. Im Buchregal herrscht bei dieser Reihe auf alle Fälle optisch das, was in Lehanes Neo-Noir Boston die Erfahrungswelt der beiden Detektive dominiert: nämlich Chaos.

Davon abgesehen ist jeder Band eine Entdeckung wert, besonders durch die zeitgemäße Neuübersetzung durch Peter Torberg.


  • Dennis Lehane – Kalt wie dein Herz
  • Aus dem Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-257-30046-8 (Diogenes)
  • 510 Seiten. Preis: 18,00 €
Diesen Beitrag teilen

Helga Bürster – Als wir an Wunder glaubten

Glauben und Aberglauben in der ostfriesischen Provinz kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. In Helga Bürsters Roman Als wir an Wunder glaubten erzählt die Autorin von Kriegsheimkehreren, Aberglauben unter der Landbevölkerung und der Modernisierung, die allmählich sogar im ostfriesischen Moor ihre Spuren hinterlässt.


Unnenmoor, so heißt der Weiler in der ostfriesischen Provinz, der Schauplatz der Geschehnisse in Helga Bürsters Roman ist. Dominiert wird die Umgebung des kleinen Dorfs vom namensgebenden Moor, das seit Menschengedenken bis vor die Tore Unnenmoors reicht. Moorleichen hat man daraus schon geborgen, aber auch Waffen, Munition und den ein oder anderen Pass, den die Menschen kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs besser verschwinden lassen wollten, ehe die Alliierten ihren Weg in die ostfriesische Einöde fanden.

Nun liegt das Kriegsende schon ein paar Jahre zurück und allmählich normalisiert sich auch in Unnenmoor die Lage, wenn auch nur ganz langsam. Die Armut ist überall noch zu greifen, viele Männer sind im Krieg geblieben – darunter auch der Vater von Betty, die mit ihrer Mutter Edith nun das gemeinsame Haus bewohnt. Dritter im Bunde ist der Journalist Theo, der mit Bettys Mutter in einem „Bratkartoffelverhältnis“ steht, das sich allerdings selbst auch in der Schwebe befindet – schließlich könnte Ediths Mann auf den heimischen Hof zurückkehren, wenn auch mit jedem verstrichenen Monat die Hoffnung sinkt.

Die Geister des Moors

Zuflucht findet Betty bei der alten Guste, die in einer windschiefen Kate im Moor haust und die Betty bei ihren Besuchen immer wieder mit mystischen Erzählungen von Moorgeistern, Töverschen und anderen Legenden unterhält. Es ist ein Glaube an die Urkräfte des Moors und der unsichtbaren Geister, der sich in den Erzählungen Bann bricht und der auf Betty einen starken Eindruck macht. Denn auch sie meint die Urkräfte des Moors in sich zu spüren, insbesondere als sie in einer verhängnisvollen Nacht dem Ruf des Moors Folge leistet.

Helga Bürster - Als wir an Wunder glaubten (Cover)

Den anderen Dorfbewohnern bleibt die Wirkmacht des Moors ebenfalls nicht verborgen, auch wenn sie diese eher als Aberglaube abtun. So wendet sich Ediths ehemals beste Freundin Anni nach Einflüsterung durch einen lokalen Strippenzieher, Spökenfritz geheißen, gegen ihre Freundin. Für sie wie für die anderen Dorfbewohner scheint nach den Intrigen und sorgsam gestreuten Gerüchten festzustehen, dass Edith, ihre Tochter und auch Guste mit dunklen Kräften aus dem Moor im Bunde stehen.

Während das ganz reale Wirtschaftswunder auch langsam die ostfriesische Provinz erfasst, sorgt der Aufschwung allerdings nicht für eine Ausrottung dieses mythischen Aberglaubens, im Gegenteil.

Während das Moor systematisch ausgetrocknet wird, um neue Straßen zu bauen, steht die Bevölkerung noch immer im Bann des (Aber)Glaubens. Ein Arbeiter begeht Selbstmord und durch die Aufwiegelung des schon unter den Nationalsozialisten gut gelittenen Spökenfritz nehmen die dörflichen Spannungen zu, auf deren Höhepunkt Betty und ihre Mutter gar als Hexen tituliert werden – mit dramatischen Folgen.

Der Glaube im Mikrokosmos Dorf

Als wir an Wunder glaubten blickt auf den Mikrokosmos Dorf und darauf, wie der Glaube nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs in ganz unterschiedlichen Facetten Anhänger fand. So beschreibt Helga Bürster die Versuche von Ediths ehemaliger Freundin Anni, die für ihren behinderten Sohn Heilungen bei allen möglichen Scharlatanen sucht und die den abergläubischen Einflüsterungen des Strippenziehers Fritz erliegt.

Guste hingegen glaubt an die Naturkräfte und findet vor allem in der jungen Betty eine Verbündete, die die Kraft des Moors ebenso in sich zu spüren vermeint. Diese unterschiedlichen Aspekte verbunden mit einer Dorfgeschichte der Nachkriegszeit machen den Reiz dieses mit reichlich plattdeutschen Dialogfetzen versehenen Romans aus.

So zeigt Bürster neben dem multiperspektivischen Erzählen aus der Sicht Ediths, Bettys oder des Kriegsheimkehrers Josef auch den Aufschwung in der Provinz, der den großen Baumaschinen folgen sollte. Der Wirt, der einen Fernseher in die Dorfkneipe stellt, die neuen Häuser mit modernen Sanitäranlagen oder auch neckische Spielereien wie ein neuer Katalog für Ehehygiene, den die frühere Hausiererin nun unter die Leute bringt, sie alle sind Zeichen eines sich wandelnden Zeitgeists, der nur den Glauben auszusparen scheint. Das ist gut erzählt und zeigt die Dorfgemeinschaft als gesellschaftlichen Nukleus zerrissen zwischen Glaube und Welt.

Fazit

Helga Bürster gelingt ein farbiges, stimmiges und eindrucksvolles Bild dieser Zeit, die sich trotz aller Modernität auch nicht von altem (Un)Glaube lösen konnte oder wollte. Das macht aus Als wir an Wunder glaubten eine lohnenswerte Lektüre, die nicht nur für norddeutsche Leserinnen und Leser von Interesse sein dürfte!


  • Helga Bürster – Als wir an Wunder glaubten
  • ISBN 978-3-458-64388-3 (Insel)
  • 285 Seiten. Preis: 23,00 €
Diesen Beitrag teilen

Jordan Harper – Alles schweigt

Los Angeles Noir: Stau, Schmutz und düstere Geheimnisse hinter der Hochglanzfassade Hollywoods. Showrunner Jordan Harper legt einen großartigen Großstadtthriller vor, der von der Verkommenheit der Stadt und ihrer Elite erzählt. Wie soll man den mächtigen Netzwerken dort das Handwerk legen, wenn Alles schweigt?


Wenn es einen Begriff gibt, der in den letzten Jahren steile Karriere gemacht hat, dann ist es unzweifelhaft der Begriff des Narrativs. Alles und jeder heute setzt auf ein Narrativ, eine Erzählung oder einen Spin, um Dinge zu erklären oder sich seine Thesen zurechtzuzimmern. Auch Mae, eine der beiden Hauptfiguren in Jordan Harpers Alles schweigt arbeitet mit dem Narrativ. Manchmal mit ihm, manchmal auch dagegen. Denn sie ist eine Art Spindoktor der öffentlichen Wahrnehmung in Los Angeles.

Dort, wo Hollywoodproduzenten, Politiker oder Schauspielerinnen in hoher Konzentration auftreten, ist auch das Risiko ein Fehltritts immer in der Nähe. Und Mae ist im Auftrag ihres Chefs Cyrus von der Agentur Mitnick & Associates darauf spezialisiert, solche Fehltritte auszubügeln oder wenigstens dafür zu sorgen, dass an den Skandalverursacher*innen in der Öffentlichkeit möglichst wenig hängen bleibt. Eine echte Narrativ-Arbeiterin also.

Niemand fragt, ob das wahr ist. Niemanden interessiert’s. Die Aufgabe besteht darin, Verantwortung und Macht zu trennen.

Jordan Harper – Alles schweigt, S. 44

Die Öffentlichkeitsarbeiterin und der Ex-Polizist

Wenn die Manipulation von Journalisten und Instagramfeeds nicht ausreicht, dann kommt in Hollywood der Ex-Polizist Chris Tamburro zum Einsatz. Dieser ehemalige Steroid-Junkie bietet auch nach seinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst immer noch eine imposante Erscheinung, sodass er für seine Auftraggeber immer dann tätig wird, wenn Menschen eingeschüchtert oder mit purer Gewalt Ziele durchgesetzt werden sollen. So ergänzt Chris Maes Tun um eine physische Komponente – und auch früher waren die beiden ein Paar, ehe sie sich voneinander trennten.

Nun bekommen sie es in Jordan Harpers Krimi zunächst unabhängig voneinander mit zwei Fällen zu tun, deren Zusammenfinden aber nur eine Frage der Zeit ist. So beschäftigt die Öffentlichkeitsarbeiterin Mae neben Routinejobs wie der Rückführung einer suchtkranken Schauspielerin in die Erfolgsspur das außergewöhnliche Verhalten ihres Vorgesetzten. Dieser möchte sie unter den Augen der Öffentlichkeit zu einer Nachforschung in eigener Sache überreden. Doch ehe sich Mae genauer mit dem Anliegen ihres Chefs beschäftigen kann, wird dieser erschossen – und Mae wittert alles andere als einen Zufall hinter dem Raubmord auf offener Straße.

Auch Ex-Cop Chris ist besorgt. Denn er folgt den Spuren des Gangmitglieds, das Maes Chef erschossen haben soll. Immer stärker verflechten sich die Spuren der beiden Ex-Geliebten, die schnell die dunkle und gefährliche Seite Los Angeles‘ zu spüren bekommen. Denn zunehmend verdichten sich die Zeichen, dass einzelne, für sich wie Zufall scheinende Ereignisse, doch in größerem Zusammenhang zu stehen scheinen. Die beiden bekommen es mit mächtigen Netzwerken hinter den Kulissen der Traumfabrik zu tun. Netzwerken, denen man kaum beikommen kann.

Macht und Machtmissbrauch in allen Facetten

Jordan Harper - Alles schweigt (Cover)

Alles schweigt ist ein aktueller Thriller, der als Großstadtkrimi ebenso gut funktioniert, wie er auch die unterschiedlichen Facetten von Machtmissbrauch offenlegt. Mittlerweile sind durch die Prozesse um Harvey Weinstein, Jimmy Savile und Co. die (macht)missbräuchlichen Taten einflussreicher Männer im Showgeschäft zwar gut dokumentiert und in der Öffentlichkeit bekannt. Was dieses Treiben aber tatsächlich bedeutet, das führt Jordan Harper hier wirklich eindrücklich und nachvollziehbar vor Augen.

Besonders die Schweigenetzwerke und die stillen Bewahrer der Macht, die dafür sorgen, dass Täter immer wieder trotz Tuscheln hinter vorgehaltener Hand und eigentlich vorhandenem Wissen um die schlimmen Zustände davonkommen, nimmt sein Krimi in den Blick (der in der Kombination des englischen Originaltitels Everbody knows und dem Deutschen Alles schweigt eine bezeichnende Verbindung eingeht).

Zudem widmet sich Harpers Roman neben diesem Machtmissbrauch in der Hochglanzindustrie, bei dem die verschiedenen Zahnräder von großen Playern bis zu Vertuschungskünstlerinnen wie Mae ineinander greifen, auch dem Machtmissbrauch durch Polizeibehörden. Jordan Harper zeigt durch die Figur von Chris eine Welt, bei der sich organisiertes Verbrechen und Polizeibehörden eigentlich nur noch durch das Tragen einer Marke unterscheiden. So erzählt er von selbstherrlichen Polizeigangs, die diverse Gegenden terrorisieren und sich durch Korruption und Schweigen in ihrem Tun unantastbar und sakrosankt fühlen.

Ihm gelingt es beeindruckend, von korrupten Gangs mit tätowierten Erkennungszeichen, abgezweigten Drogen und illegalen Waffen zu erzählen, die eben nicht zum organisierten Verbrechen, sondern dessen eigentlichen Bekämpfern zählen. Ein Zustand, vor dem die Verantwortlichen schon längst kapituliert haben, wenn sie ihn nicht selbst weiter befeuern.

Einmal quer durch Los Angeles

Houchtourig ist dieser Roman, der Mae und Chris an verschiedenste Schauplätze Los Angeles bringt, von Obdachlosenlagern mit ergreifenden Schicksalen bis zu den Hügeln Hollywoods und den Luxusvillen am Mulholland Drive. Immer tiefer verstrickt er seine beiden Helden in die unsichtbaren Netzwerke von Mächtigen und deren Schutztruppen, gegen die ein Kampf aussichtslos erscheint.

Hier zeigt sich die Erfahrung Jordan Harpers als Autor, die er durch seine Tätigkeit als Showrunner für Serien wie Gotham oder The Mentalist zweifelsohne hat. Alles ist sauber gearbeitet, die verschiedenen Schauplätze werden gut beschrieben und der Plot nachvollziehbar und mit stetig anziehender Spannungsschraube entwickelt (der zudem von Conny Lösch wieder einmal sehr souverän ins Deutsche übertragen wurde, Wortneuschöpfungen wie den „Penner-Sprenger“ inklusive).

Mag das Cover mit seiner hellen Anmutung und den pittoresken Hügeln Hollywoods auch schöne Assoziationen an die Stadt der Engel wecken – im Kern ist Alles schweigt ein sozialkritischer Thriller über Machtmissbrauch, den aussichtlosen Kampf dagegen und das vielgestaltige vielgestaltige Stadtporträt Los Angeles‘ in düsteren Farben. In meinen Augen reiht sich das Buch hervorragend neben Ivy Pochodas grandiosem Diese Frauen, Steph Chas Brandsätze und A. G. Lombardos Stadtvermessung Graffiti Palast ein.


  • Jordan Harper – Alles schweigt
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-550-08151-4 (Ullstein)
  • 384 Seiten. Preis: 22,99 €
Diesen Beitrag teilen