Bibliotheken im Kreuzfeuer

Do not go gentle into that good night,

Old age should burn and rave at close of day;

Rage, rage against the dying of the light.

Dylan Thomas – Do Not Go Gentle into That Good Night

Diese bekannten Zeilen aus Dylan Thomas‘ Gedicht sollen am Anfang dieses Textes stehen, der zugleich einer der letzten diesen Jahres ist. Denn wie es sich am Ende eines Jahres gehört, geziemt sich ein Rückblick auf das vergangene Jahr auch aus berufsfachlichem Winkel. Allzu verklärend und weihnachtsmilde soll dieser allerdings nicht ausfallen, sondern in Verwandtschaft zu jenen 1951 erstmals publizierten Zeilen Dylan Thomas‘ stehen, deren unversöhnlichen und kämpferischen Impetus ich auch gerne auf Bibliotheken übertragen möchte.

Denn obwohl man meinen könnte, dass es den Bibliotheken gut geht und angesichts wenig in der Öffentlichkeit vernehmbarer Klagen alles in bester Ordnung ist, markiert 2023 in meinen Augen auch eine Zäsur in Sachen Gefährdung von Bibliotheken, Wissen und damit letzten Endes auch unserer Gesellschaft.

Zensur allenorten?

Der Kernvorwurf, der Bibliotheken seit dem Erstarken rechter Kräfte immer deutlicher gemacht wird, ist der der Zensur. Alles ist heute irgendwie Zensur. Entscheidet sich beispielsweise die Stadtbücherei Augsburg, nach einem gemeinsamen Arbeitsprojekt mit Studierenden der lokalen Fachhochschule, dokumentationsbegleitend zum Forschungsprojekts rassismussensible Sticker auf der Rückseite mancher Kinderbücher anzubringen, um diese Werke zu kontextualisieren, lautet der in Leserbriefen und Zuschriften vorgebrachte Vorwurf Zensur.

Dass keine Bücher aus dem Bestand entnommen, sondern auf peripherer Stelle lediglich mit weiterführenden Informationen versehen wurden, die aus heutiger Sicht problematische Aspekte des Buchs in den Blick nehmen und Vorleser*innen Ratschläge an die Hand geben, das fiel in den meisten Zuschriften unter den Tisch. Dass eine wissenschaftliche Einordnung und Ergänzung wohl das Gegenteil von Zensur darstellt, geriet nicht nur hier völlig aus dem Blick.

Entscheidet sich ein Verlag (in England wohlgemerkt!), Neuausgaben von Roald Dahls Werken um in Augen der Verantwortlichen problematische Begriffe zu glätten und heutigen Gegebenheiten anzupassen, dann ist das Zensur, wenn man vielen Meinungsäußerungen in den Feuilletons oder Online-Kommentaren Glauben schenken darf.

Dass man über solche Beispiele und Eingriffe in Werke oder Kontextualisierungen trefflich streiten kann, das ist völlig unbenommen (auch ich sehe manche Auswüchse mehr als kritisch, das sei an dieser Stelle angemerkt).

Der beliebige Vorwurf der Zensur

Dass es sich bei den erwähnten Beispielen um einen Fall von Zensur handelt, ist aber völlig unzutreffend. Das zeigt schon ein Blick in die Begriffsdefinition, die der Duden wie folgt liefert:

Zensur, die: von zuständiger, besonders staatlicher Stelle vorgenommene Kontrolle, Überprüfung von Briefen, Druckwerken, Filmen o. Ä., besonders auf politische, gesetzliche, sittliche oder religiöse Konformität

Begriffsdefinition des Duden zum Thema „Zensur“

Dieser von überwiegend rechten Kräften eingebrachte Vorwurf einer Kontrolle von Druckerzeugnissen hinsichtlich einer wie auch immer gearteten Konformität ist falsch. Eine staatliche Stelle, die von oben herab die Medienwelt diktiert und Vorgaben hinsichtlich zu verbreitender und nicht zu verbreitender Bücher macht, es gibt sie hierzulande nicht. Bibliotheken bieten im Rahmen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung freien Zugang zu Wissen und Information – und wenn sich ein privatwirtschaftlicher Verlag zu Eingriffen in bei ihm publizierten Werken entscheidet, dann mag das je nach Lesart eine Anpassung an den Zeitgeist oder fortschrittliches Denken sein – nur eines nicht: Zensur oder Ausdruck einer ominösen „Cancel Culture“.

Der geradezu inflationäre Gebrauch des Vorwurfs der Zensur sorgt für eine Schleifung des eigentlich so konkreten Begriffs, der duch die Unschärfe bei der Begriffsverwendung des Wortes immer beliebiger und unkonkreter werden lässt.

Dabei gäbe es doch jeden Anlass zu Sorge angesichts Zensur und Bibliotheken. Nur findet diese Zensur nicht auf der oft inkriminierten „linken“, zeitgeistig und „woken“ Seite statt, sondern tatsächlich an jenem rechten Rand, von dem der Vorwurf so oft geäußert wird. Auch liegt der Schauplatz nicht in Europa, sondern befindet sich auf der anderen Seite des Atlantiks in Amerika, dem selbsterklärten „Land of the free“.

Book bans im „Land of the free“

So frei ist die Bibliothekswelt dort im „Land of the free“ allerdings nicht mehr, besonders wenn man in den von Gouverneur Ron deSantis regierten Bundeststaat Florida blickt. Dort sind mittlerweile sogenannte „Book Bans“ von staatlicher Stelle an der Tagesordnung und damit ein tatsächlicher und konkreter Fall von – Zensur.

Eingebettet in größere Agenda der orchestrierten Rückschrittlichkeit sind es etwa neben dem Feld des weiblichen Körpers in Form von Abtreibungsverboten auch die Bibliotheken als Hort der Aufklärung und des Erkenntnisgewinns, die in den Fokus der republikanischen Hardliner geraten sind.

So erließ Floridas Gouverneur jüngst ein sogenanntes „Stop-Woke“-Gesetz, das nach Ansicht der Gesetzgeber der Indoktrination von Kindern entgegenwirken soll und das die legislative Grundlage für Buchbann und Zensur liefert. Durch dieses Gesetz ist es möglich, missliebige und dem eigenen Weltbild widersprechende Titel zu melden und für die Entfernung aus (Schul)Bibliotheken vorzuschlagen.

Eine Möglichkeit, von der immer stärker Gebrauch gemacht wird und die nicht nur in Florida, sondern auch beispielsweise im Staat Idaho auch kuriose, vor allem aber sehr bedenkliche Blüten treibt. So scheiterte ein von der republikanischen Partei eingebrachtes Vorhaben dort nur knapp, das bibliothekarisches Personal haftbar gemacht hätte, wenn den Beschwerden von Kund*innenseite aus nicht nachgegangen worden wäre.

Steigende Zahlen von Zensuranträgen

Ein bedenklicher Trend, der sich auch mit Zahlen untermauern lässt. So belief sich die Zahl zur Löschung angemahnter Bücher laut Zählung der American Library Association (ALA) im Jahr 2021 auf 330 Löschanträge, die überwiegend von Elternseite aus eingebracht wurden (und deren Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte, da viele der Löschanträge gar nicht erfasst wurden).

Im vergangenen Jahr betrug die Zahl von Zensuranträgen bereits 1269, die sich insgesamt auf 2571 Titel erstreckten, Tendenz steigend. Das lässt für das Jahr 2023 wenig Gutes hoffen, ebenso wie die Tatsache, dass es für Politiker*innen bereits als Wahlkampfmittel opportun zu sein scheint, ganz offensiv mit der möglichen Schließung von unbliebsame Bibliotheken im Falle eines politischen Erfolgs zu drohen.

Im Fadenkreuz der Bücherkämpfer (die wohl selbst eine kleine Minderheit darstellen, aber im lautstarken Verbund eine erschreckend effiziente Einheit bilden) stehen überwiegend Bücher aus dem LGBTQ-Spektrum, die der gewünschten heteronormativen Norm und Form zuwiderlaufen. Aber auch Wissenschaft beispielsweise in Form der Evolutionslehre oder Schwarzer Geschichte hat es zunehmend schwerer in den Buchregalen des Landes.

Das sorgt mittlerweile für solche bedenklichen Auswüchse, dass sogar das eigentlich einheitsstiftende Poem The hill we climb der im Zuge der Inauguration Joe Bidens zu Bekanntheit gelangten Dichterin Amanda Gorman in Florida zur Zensur vorgeschlagen wurde. Der Vorwurf: Rassismus.

Studierende in den USA demonstrieren gegen Book bans an Bibliotheken.
Protest gegen Buchbann in den USA

Kann man über solch absurde Vorwürfe wie auch die Uninformiertheit der Möchtegern-Zensoren lachen (die den Gedichtband in ihrem Beschwerdeantrag kurzerhand der schwarzen Talkmasterin Oprah Winfrey anstelle von Amanda Gorman zuschrieben), so vergeht einem doch das Lachen, wenn man sieht, dass derartige Anträge Erfolg haben und Gormans Buch aus vielen Bibliotheken und Buchhandlungen entfernt wurde.

Importierte Kulturkämpfe

Nun sind die USA bekanntermaßen natürlich nicht Deutschland. Angesichts der Begeisterung vieler politischer Akteure, US-amerikanische Kulturkämpfe auch hierzulande zu importieren und etablieren, kann ich aber nur davor warnen, sich auf diesen Kampf gegen die freiheitlich-demokratisch-fortschrittliche Gesinnung von Bibliotheken einzulassen.

Erste warnende Beispiele gab es in diesem Jahr ja bereits etwa mit der im Juni geplanten Kinderbuchlesung mit Drag-Künstler*innen, die die Münchner Stadtbibliothek anbot. Wenig war da von der liberalitas bavariae zu spüren, sondern nur ein erhitztes Debattenklima, das sich in einem veritablen Sturm der Entrüstung, Demonstrationen und Drohungen gegenüber der Bibliothek äußerte.

Man kann nur hoffen, dass diese mit viel medialem Getöse begleitete Kampagne gegen Bibliotheken und ihr Eintreten für eine offene und pluralistische Gesellschaft eine negative Ausnahme war, die sich so schnell nicht mehr wiederholt. Ein Blick nach Amerika straft diese Hoffnungen allerdings Lügen. Was bleibt also, wenn wir auf das kommende Jahr blicken?

Gehen wir nicht versöhnt in die Nacht und den Beginn des kommenden Jahres, ganz wie Dylan Thomas es fordert. Kämpfen wir gegen die mögliche Verdunklung einer aufgeklärten Welt. Bleiben wir wachsam, stärken Bibliotheken mit einem Eintreten für ihre informatorische Arbeit und wehren aller Anfänge, ihre Arbeit und das dahinterstehende Weltbild einer offenen Gesellschaft infrage zu stellen. Beziehen wir Position, hinterfragen wir plumpe Zensur-Vorwürfe, stellen Meinungen Fakten entgegen und sorgen für eine Versachlichung der Debatten und leisten damit auch öffentlich das, wofür Bibliotheken seit jeher eintreten. Die Gesellschaft braucht es dringender denn je!


[Disclaimer: die im Artikel zum Ausdruck kommende Meinung ist meine Privatmeinung, die in keinerlei Zusammenhang mit meiner beruflichen Arbeit steht.]

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Michael Maar – Leoparden im Tempel

Ob Elias Canetti, der Oger, das wechselhafte Gemüt Virginia Woolfs oder der Teufel bei Thomas Mann – in seinem wiederveröffentlichten Werk Leoparden im Tempel widmet sich Michael Maar abwechslungsreich den von ihm verehrten Schriftsteller*innen und nimmt ihr Werk und ihre exzeptionelle Bedeutung für die literarische Welt in den Blick.


Man könnte es sich leicht machen mit dem eigentlich nicht ganz so neuen Buch Michael Maars. Nach einer Erstveröffentlichung im Berenberg-Verlag vor sechzehn Jahren erscheint Leoparden im Tempel nun als Neuauflage im Rowohlt-Verlag, gehalten im Design seines 2020 erschienen Stil-Opus Magnum Die Schlange im Wolfspelz.

Schon der Blick auf die schmale Seitenzahl macht klar, dass es sich mitnichten um ein Werk handelt, dass an Maars ebenso voluminöses wie kenntnisreiches Literaturbergwerk anschließt. Vielmehr will er sich den von ihm verehrten Schriftstellern widmen, wobei ein Gendern des Untertitels tatsächlich fast überflüssig scheint. Denn von zwölf Schriftstellerporträts ist lediglich eines einer Frau gewidmet, nämlich Virginia Woolf.

Hier zeigt sich, dass in der den sechzehn Jahren seit Erscheinen des Buchs viel Sensibilisierung gegenüber der hier im Speziellen wie auch im Allgemeinen zuvorderst männlichen Kanonbildung stattgefunden hat. So sei nur an die Aktion #frauenzählen, das daraus entstandene Sachbuchprojekt Frauen Literatur von Nicole Seifert oder die hervorragende Kurzporträtsammlung Dichterinnen & Denkerinnen von Katharina Herrmann erinnert, die dem Maar’schen Männerüberschuss und Geniekult entgegenwirken, der sich in diesem Buch äußert.

Porträts von Schriftstellern

Sollte man es sein lassen? Diese offensichtliche Ungleichbehandlung von Schriftstellerinnen als Anlass nehmen, das Buch in die Ecke zu stellen? Das wäre tatsächlich ein Fehler, denn obgleich die nicht zu leugnende maskuline Schlagseite ebenso wie die veraltete Rechtschreibung des Buchs rückwärtsgewandt scheint, gelingt es Maar vorzüglich, seine Verehrung der offensichtlicheren (Thomas Mann, Franz Kafka) und die hierzulande noch immer zu unbekannten Autoren (Anthony Powell, Gilbert Keith Chesterton) begeisternd vorzubringen und Lust auf ihr Schreiben zu machen (obgleich natürlich Größen wie Ingeborg Bachmann, Marlen Haushofer, Gabriele Tergit oder vergessene Autorinnen wie die gerade wieder neu entdeckte Helga Schubert durchgehend fehlen).

Michael Maar - Leoparden im Tempel (Cover)

Neben solchen Leerstellen merkt man auch den Aufsätze an, dass einige ihrer aufgegriffenen Punkte in der Zwischenzeit etwas anders betrachtet werden müssen. So ist beispielsweise Maars Frage, ob man Giuseppe Tomasi di Lampedusa vielleicht noch mit einer Labelung als Geheimtipp postum die Ehrung verschaffen könnte, die ihm für sein Werk Der Leopard gebührt, in meinen Augen hinfällig. Denn die glänzende Neuübersetzung von di Lampedusa Meisterwerk durch Burkhart Kroeber vor vier Jahren hat doch erheblich Staub von diesem Werk gepustet und dieses neu ins öffentliche Bewusstsein gebracht.

Genauso ergeht es den Klagen, die Maar in seinem Kapitel über Anthony Powell äußert. Dort beklagt er, dass Powell hierzulande völlig unbekannt sei und man ihm dem deutschen Publikum kaum schmackhaft zu machen vermag. Während letztere Beobachtung wahr zu sein scheint, ist die Vermittlungsarbeit doch in der Zwischenzeit weiter geraten (dem Maar auch in dem leicht angepassten Quellenverzeichnis Rechnung trägt, da er dort die 2015 begonnene Neuausgabe von Powells Gesamtwerk unter dem Titel Dance aufführt). So wurde diese Neuausgabe des Werkes im Februar 2016 von Maxim Biller an maximal prominenter Stelle im deutschen Fernsehen vorgestellt, nämlich beim Literarischen Quartett.

Sich verändernder literarischer Zeitgeist

Es sind einige Punkte dieser Art, an denen man feststellen kann, dass sich der literarische Zeitgeist gewandelt hat. So sind neue Blicke und Maßstäbe auf Literatur eingezogen, der Geschmack hat sich gewandelt, kurz: die Zeit seit dem ursprünglichen Erscheinen des Buchs ist nicht stehengeblieben. Das merkt man bei dem Blick auf die Äußerlichkeiten des Buchs durchaus.

Davon unberührt ist aber der Kern von Michael Maars Buch, dem man in seiner ganzen Begeisterung und dem sprudelnden Stil auch Stilblüten wie die folgende gerne verzeiht:

Man merkt seiner [Anthony Powells] Prosa nicht an, dass sie nach Joyce entstand. Um Modeströmungen hat dieser Autor sich nie geschert. Erst jetzt, nachdem sich deren Wasser verlaufen haben, kann man erkennen, wie einsam er herausragt.

Michael Maar – Leoparden im Tempel, S. 111

Jener Kern seiner kurzen Porträts, er gleicht nach wie vor einem brodelnden Magmakern voller heißglühender Lava (um hier einmal den bildhaften und blumigen Stil Maars aufzugreifen). Überraschend seine Erkenntnisse, wenn er etwas die Bedeutung des Teufels im Werk Thomas Manns herausarbeitet oder die ewige Rätselhaftigkeit im Werk Franz Kafkas beschreibt, der es mit seinem Bild der Leoparden im Tempel auch auf den Titel von Maars Buch geschafft hat.

Literaturverehrung, die begeistert

Gelungen stellt Maar auf nur wenigen Seiten die Besonderheiten im jeweiligen Werk der Autoren heraus und erklärt, was ihr Werk so faszinierend und über alle Zeiten erhoben macht. Das tut er in gut lesbaren und nachvollziehbaren Aufsätzen, von denen die Porträts Mann, Nabokov und di Lampedusa in meinen Augen zu den gelungensten zählen.

Aus allen Zeilen spricht die Verehrung Maars, der mit seinen Porträts wie auch später in der Schlange im Wolfspelz seine immense Belesenheit herausstellt. Seine Einführung in das Schaffen der oftmals alles andere als umgänglichen und bescheidenen Autoren macht Lust, sich mit den Werken genauer zu beschäftigen. Er gibt einen Eindruck, wie Literaturvermittlung zu begeistern vermag, wie ein genauer Blick beim Lesen den unverkennbaren Stil zutage treten lässt – und wie man mitreißend davon zu erzählen vermag.

Das wiegt in meinen Augen die klar benennbaren Kritikpunkte an Leoparden im Tempel auf alle Fälle wieder mehr als auf, sodass ich für dieses Büchlein eine große Empfehlung aussprechen möchte. Gerne sei der Band auch als Geschenk allen Literaturfans empfohlen, Ich empfehle im Anschluss an die Lektüre danach dann die Lektüre von Dichterinnen & Denkerinnen, denn dann hat man auch einen ausgewogenen Eindruck von Schriftstellerinnen, die es durchaus auch mit den hier vorgestellten Männern aufnehmen können!


  • Michael Maar – Leoparden im Tempel
  • ISBN: 978-3-498-00398-2 (Rowohlt)
  • 144 Seiten. Preis: 22,00 €
  • Zum Buch bei Yourbookshop
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Veronica Lando – Der flüsternde Abgrund

Wenn der Regenwald ruft… Veronica Lando nimmt uns in ihrem Debüt Der flüsternde Abgrund mit nach Granite Creek, einem kleinen Dorf im australischen Regenwald. Hier ist ein Junge verschwunden – und das nicht zum ersten Mal. Der Regenwald habe ihn wie viele Menschen zuvor in seine Fänge gelockt, heißt es. Der Journalist Callum Haffenden mag das nicht glauben und steht bei seiner Suche nach dem Verschwundenen schon bald vor der Frage, welche Abgründe hier gefährlicher sind – die des Waldes oder die der Menschen?


Für Menschen wie ihn ist der australische Regenwald nicht gemacht. Das muss der preisgekrönte Journalist Callum Haffenden schnell feststellen, als er wieder in seine Heimat nach Granite Creek zurückkehrt. Der Anlass ist ein bestürzender. Denn wie schon einige Male zuvor ist erneut ein Junge im Regenwald verschwunden. Man munkelt von der Legende des flüsternden Waldes, der die Menschen zu sich lockt und sie dann im steinernen Abgrund seiner Felsen zerschellen zu lassen. Kinder wappnen sich mit klingelnden Armbändern, um der Versuchung des Waldes zu widerstehen. Und auch Callum spürt die Anziehung des Waldes, als er sich der Suche nach dem verschwundenen Jungen anschließt.

Dabei sind dauerbeschlagene Brillengläser noch das kleinste Hindernis. Undurchdringliche Fauna, mörderische Kasuare, giftige Pflanzen – und dann auch noch das lockende Felsenmeer, das immer wieder zu rufen scheint, wenn der Wind günstig steht. Sie alle erschweren Callum und den Freiwilligen die Suche. Die wahren Motive Callums, die ihn für die Suche die lange und sehr beschwerliche Reise aus dem tasmanischen Hobart antreten lassen, enthüllt Veronica Lando allerdings erst langsam.

Verschwunden in Granite Creek

Veronica Lando - Der flüsternde Abgrund (Cover)

Vor Ort versucht Callum Licht ins Dunkel zu bringen. Warum war der Junge im Wald campen, wo doch ein Hurrikan aufzieht und Dauerregen und die menschenfeindliche Umgebung des Regenwaldes doch eigentlich keinen Grund für einen längeren Aufenthalt im Freien liefern? Hat eventuell Callums alter Feind, der Vater des Jungen seine Hände im Spiel? Als dann auch noch in Callums Hotelzimmer eingebrochen wird, mehren sich die Zeichen, dass jemand überhaupt nicht daran gelegen ist, dass die Wahrheit über den Jungen und die Geheimnisse von Granite Creek ans Tageslicht gelangen.

Der flüsternde Abgrund von Veronica Lando ist ein Krimi, der für ein Debüt einen hohen Formwillen an den Tag legt (dem die Autorin literarisch tatsächlich auch entsprechen kann). So ergänzt sie die Handlung um Callums Suche nach der Wahrheit mit Rückblenden, die aus Ich-Perspektive Geschehnisse vor dreißig Jahren erzählen. Diese Rückblenden verschmelzen langsam mit der Gegenwart, ehe alles in einem sturmumtosten Showdown kulminiert, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart gegenseitig überlagern.

Während sie Callums Sicht auf den verschwundenen Jungen Stück für Stück dekonstruiert, indem immer mehr dunkle Flecken auf seiner in eigentlich so reinen Weste auftauchen drängen dazu gegenläufig immer mehr familiäre Geheimnisse und Wahrheiten in Granite Creek ans Tageslicht. Das ist alles wohldosiert und aufeinander abgestimmt. Mehrere, gut eingearbeitete Wendungen halten die Spannung hoch und lassen mit Callum miträtseln.

Vermisstensuche, Nature Writing und Familiengeheimnisse

Mit der Figur des ornithologisch begeisterten Callum bringt Lando zudem eine gehörige Prise Nature Writing ins Buch, ist die Natur des australischen Regenwaldes doch neben Callum der zweite große Hauptdarsteller. Von Säulengärtnern bis zur Flecken-Rußeule gibt es jede Menge Vögel zu entdecken, mit der man auch gut in Elizabeth Hargreaves‘ Spiel Flügelschlag punkten könnte.

Diese Verschmelzung von Natur, Suche nach einem vermissten, dörflichen Legenden und familiären Geheimnissen erinnert in dieser Kombination etwas an ihren australischen Landsmann Kyle Perry. Mit dessen Debüt Die Stille des Bösen ist dieses Debüt ebenbürtig (was deutlich für beide Autor*innen aus Down Under spricht und wieder einmal kriminalliterarisch deutlich das übertrifft, was sich hierzulande so auf den Bestsellerlisten tummelt).

So gelingt Herausgeber Thomas Wörtche hier erneut eine tolle Entdeckung für das von ihm kuratierte Krimiprogramm bei Suhrkamp. Hier ist eine kriminalliterarische Stimme aus Australien zu lesen, deren reifes und souverän gestaltetes Krimidebüt auf weitere Werke diesen Kalibers hoffen lässt.

Von dem Flüstern dieses Buchs kann man sich gerne in die Seiten hineinlocken lassen – man wird es im Gegensatz zu einigen Figuren im Buch nicht bereuen!


  • Veronica Lando – Der flüsternde Abgrund
  • Aus dem australischen Englisch von Karen Witthhun
  • ISBN 978-3-518-47366-5 (Suhrkamp)
  • 370 Seiten. Preis: 18,00 €
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Vorschaufieber Frühjahr 2024

Zweimal im Jahr nehme ich mir die Verlagsvorschauen vor und sichte hunderte von neuen Büchern hinsichtlich Titeln, die aus der Masse herausstechen und die meine Aufmerksamkeit wecken. Das Hauptkriterium hierbei ist ein sehr subjektives – mein Geschmack und meine Neugier. Große Häuser, unabhängige Verlage, bekannte Stimmen oder Debüts – all das versucht diese Übersicht in drei Kategorien zu bündeln – vielleicht macht das ein oder andere hier aufgeführte Buch euch ja auch Lust, sich etwas genauer damit zu beschäftigen oder es auf eure Listen zu packen.

Falls dem so sein sollte: der Link hinter den jeweiligen fett gesetzten Buchtiteln führt zur Verlagshomepage, auf der die Bücher und ihre Autor*innen genauer vorgestellt werden – und nun viel Vergnügen beim Entdecken und Stöbern!

Belletristik National

Ronya OthmannVierundsiebzig (Rowohlt). Sebastian GuhrDer Spanische Esel (Berenberg). Julja Linhof – Krummes Holz (Klett-Cotta). Deniz OhdeIch stelle mich schlafend (Suhrkamp). Dana von Suffrin – Nochmal von vorne (Kiepenheuer Witsch)

Franziska Gänssler – Wie Inseln im Licht (Kein & Aber). Kristin Höller – Leute von früher (Suhrkamp). Kathrin Schumacher – Liste der gebliebenen Dinge (Leykam). Maria Leitner – Hotel Amerika (Reclam). Hank Zerbolesch – Gorbach (Steidl).

Belletristik International

Ann Napolitano – Hallo du Schöne (aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Dumont). Eleanor CattonDer Wald (aus dem Englischen von Melanie Walz. btb). Aleksandar Hemon – Die Welt und alles was sie enthält (aus dem Amerikanischen von Henning Ahrens. Claassen). Anthony Passeron – Die Schlafenden (aus dem Französischen von Claudia Marquardt. Piper). Paul Murray – Der Stich der Biene (aus dem Englischen von Wolfgang Müller. Kunstmann).

Audrey Magee – Das Habitat (aus dem Englischen von Nicole Seifert. Nagel und Kimche). Uri Jitzchak Katz – Aus dem Nichts kommt die Flut (aus dem Hebräischen von Markus Lemke. Hoffmann und Campe). Hari Kunzru – Blue Ruin (aus dem Englischen von Nicolai von Schweder-Schreiner. Liebeskind). Patrícia Melo – Die Stadt der Anderen (aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Unionsverlag). Teju Cole – Tremor (aus dem Englischen von Anna Jäger. Claassen)

Percival EverettJames (aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser). Elizabeth Graver – Kantika (aus dem amerikanischen Englisch von Juliane Zaubitzer. mare) Danya Kukafka – Notizen zu einer Hinrichtung (aus dem Englischen von Andrea O’Brien). Anjet Daanje – Der erinnerte Soldat (aus dem Niederländischen von Ulrich Faure. Friedenauer Presse). Maria Borrély – Das letzte Feuer (aus dem Französischen von Amelie Thoma. Kanon).

Elsa Morante – La Storia (aus dem Italienischen von Maja Pflug und Klaudia Ruschkowski. Wagenbach). Richard RussoVon guten Eltern (aus dem Englischen von Monika Köpfer. Dumont). Claire Fuller – Jeanie und Julius (aus dem Englischen von Andrea O’Brien. Kjona). Leo Vardiashwili – Vor einem großen Walde (aus dem Englischen von Wibke Kuhn. Claassen). Barbara Kingsolver – Demon Copperhead (aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. dtv).

Daisy Hildyard – Notstand (aus dem Englischen von Esther Kinsky. Suhrkamp). Sarah WinmanDas Fenster zur Welt (aus dem Englischen von Elina Baumbach. Klett-Cotta). María José Ferrada – Der Plakatwächter (aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg). Isaac Rosa – Ein sicherer Ort (aus dem Spanischen von Luis Ruby. Liebeskind). Carlos Fonseca – Austral (aus dem Spanischen von Sabine Giersberg. Wagenbach).

Maria Messina – Das Haus in der Gasse (aus dem Italienischen von Ute Lipka. Friedenauer Presse). Liz Nugent – Die seltsame Sally Diamond (aus dem Englischen von Kathrin Razum). Terhi Kokkonen – Arctic Mirage (aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Hanser Berlin). Svetlana Lavochkina – Carbon. Ein Lied von Donezk (aus dem Ukrainischen von Diana Feuerbach. Voland & Quist). Nana Kwame Adjei-Brenyah – Chain-Gang All-Stars (aus dem Englischen von Rainer Schmidt. Hoffmann und Campe).

Spannung

Ron Rash – Der Friedhofswärter (aus dem Englischen von Sigrun Arenz. Ars Vivendi). Adam Morris – Bird (aus dem Englischen von Conny Lösch. Edition Nautilus). Lavie Tidhar – Maror (aus dem Englischen von Conny Lösch. Suhrkamp). Susanne Tägder – Das Schweigen des Wassers (Tropen). Gary Philips – One-Shot Harry (aus dem Englischen von Karen Gerwig. Polar).

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Arnon Grünberg – Gstaad

Wie man sich in einem Buch täuschen kann. Statt eines luftigen und unterhaltsamen Schelmenromans irgendwo zwischen Manns Felix Krull, Der Zauberberg und Drei Männer im Schnee, den die Außengestaltung des neuesten Bandes der Anderen Bibliothek nahelegt, gibt es mit dieser Neuausgabe eines Frühwerks von Arnon Grünberg einen bedrückenden, teils ekelerregenden, doch auch faszinierenden und rätselhaften Roman zu lesen, der tief in die menschlichen Abgründe hinab- und dann wieder auf die Hügel und Berge bis nach Gstaad emporsteigt.


François Lepeltier ist ein Kind der vielen Namen und Geschichten. Einst wurde er im Badezimmer eines Hotels in Heidelberg gezeugt, in dem seine Mutter als Zimmermädchen arbeitete. Seinen Vater, von dem Francois den Namen übernahm, verstarb kurz nach der Geburt an einer Krebserkrankung. Trotz einer erwogenen Abtreibungen und Adoptionsversuchen ist er bei seiner Mutter geblieben, mit der er nach einem regelrechten Vagabundenleben nun in Baden-Baden in der Pension am Sonnenhügel Quartier bezogen hat.

Er macht sich im Haus nützlich, unterstützt die Mutter bei ihren Diebestouren, lenkt das Verkaufspersonal ab und ist treuer Adlatus seiner Mutter, die von der Pensionsbesitzerin ausgenutzt wird. Dort in Baden-Baden machen Mutter und Sohn die Bekanntschaft mit dem illustren Ehepaar Cecherelli, die als Dauergäste in der Pension wohnen. Zunehmend geraten François und seine Mutter in den Bann der beiden. Während Herr Cecherelli den Korintherbrief übersetzt, braucht seine Gattin „Bewachung“, die ihr François‘ Mutter zukommen lassen soll. In diesen rätselhaften Spielen aus Befriedigung, Voyeurismus, ödipaler Spielereien und Streicheleinheiten begegnen sich die Beteiligten, wobei es sogar zu Verstümmelungen kommt.

Vom Sonnenhügel in Heidelberg bis nach Gstaad

Arnon Grünberg - Gstaad (Cover)

Schlusspunkt dieses Kapitels Sonnenhügel wird der Tod Frau Cecherellis in der pensionseigenen Badewanne sein, die sich mit einem Tauchsieder selbst kocht und daraufhin von François‘ Mutter ersetzt wird. Zusammen verlassen Herr Cecherelli und die nunmehr Rodolfo Cecherelli und seine Mutter die Pension, um das Vagabundenleben fortzusetzen. Die nächsten Stationen des Vagabundenlebens liegen vor ihnen…

Ebenso wie in der Folge die Hotels und Städte wechseln, ist auch die Beziehung zwischen François und seiner Mutter sowie dessen Karriere und das gemeinsame Erleben vielen Veränderungen unterworfen. Es wird es zu Morden kommen, Francois wird in Stuttgart zu Herrn Kühler werden, der als Hochstapler-Zahnarzt unter Mitarbeit seiner Mutter Ausgestoßene und randständige Menschen behandelt und sie um ihr weniges Geld erleichtert, wobei es doch nach eigenem Bekunden dieser Beichte in Romanform nach alleine darum geht, am Baum des Guten zu rütteln.

Eine Welt des Ekels und der Perversion

Ob als Skilehrer oder als Wein-Sommelier in Gstaad, wohin der letzte Abschnitt dann doch noch führt – immer wieder erfindet sich François neu und manövriert sich mit seinen primitiven Trieben und seltsamen Verhaltensweisen in Situationen, aus denen dann wieder eine Flucht an einen neuen Schauplatz erwächst.

Dabei ist Grünbergs Roman, der ursprünglich unter Pseudonym im Jahr 2002 erschien und nun in der Übersetzung von Rainer Kersten als 464. Band in der Anderen Bibliothek vorliegt, kein heiterer Schelmenroman, der einen ödipalen Hochstapler auf seiner Tour durch Europa zeigt. Nein, sein Roman ist düster, ekelerregend, bietet grausame Morde und Tode in Serie – und doch auch unbestreitbar faszinierend. Man fragt sich, warum man Grünberg doch immer weiter in diese düstere Welt folgt, in der es trotz aller montanen und mondänen Schauplätze so abstoßend zugeht – aber man tut es.

Wenn das neue, aus der Schriftstellerin Julia Franck und Rainer Wieland bestehende Herausgeberduo der Anderen Bibliothek schreibt, dass es hier in Grünbergs Roman nichts Reines mehr gibt, sondern nur unappetitliche Dinge und Menschen, die einander auf alle erdenkliche Weise erniedrigen, dann trifft das hier wirklich zu. Moralische Maßstäbe gibt es hier nicht, allenfalls einen von nahezu animalischen Trieben besessenen Erzähler, dessen eigenes kultiviertes Auftreten von seinem Verhalten konterkariert wird und das einem ganzen Tross Verhaltenstherapeuten auf lange Zeit Arbeit geben könnte.

Fazit

Ähnlich wie zuletzt Ottessa Moshfegh in ihrer tiefschwarzen Fantasie Lapvona blickt auch Arnon Grünberg hier ganz tief in die Abgründe der menschlichen Temperamente und Neigungen. Die Schattenseiten menschlicher Existenzen beleuchten und eine Erkundung des eigenen Ekels zwischen beschriebener Selbstverstümmelung, Ekzemen und sexueller Perversion, das leistet Gstaad von Arnon Grünberg – oder wie es das Herausgeberduo formuliert: Schonungslos, mit sardonischem Humor lotet Arnon Grünberg in diesem Buch die Grenzen des Zumutbaren aus. Auch das kann und muss bisweilen die Aufgabe von Literatur sein.

So schnell brauche ich nach Moshfegh und Grünberg eine solche Auslotung persönlich allerdings nicht mehr. Seien Sie gewarnt!


  • Arnon Grünberg – Gstaad
  • Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
  • ISBN 978-3-8477-0465-2 (Die Andere Bibliothek, Bd. 464)
  • 336 Seiten. Preis: 48,00 €
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