Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts

Mit Das Liebespaar des Jahrhunderts treibt Julia Schoch ihre autofiktionale Trilogie weiter voran. Sie blickt auf den Anfang und das Ende einer Beziehung – und die Höhen und Tiefen dazwischen. Platz 1 der SWR-Bestsellerliste, Jubel im Feuilleton und allerorten – nur ich schere wieder einmal etwas in Sachen Lobpreisungen aus.


Schochs neuer Roman fällt in die Gattung der Beziehungsdeklination. Diese Romane blicken auf Beziehungen, die den Bogen vom anfänglichen Liebestaumel bis zur Entwöhnung, Scheidung oder Trennung beschreiben. Jüngst tat das etwa Caroline Schmitt in ihrem Debüt Liebewesen, auch der Spanier Isaac Rosa erzählte davon, gewann dem bekannten Topos aber durch seine invertierte Erzählform vom Ende her interessante Facetten ab.

Die Grande Dame der englischen Literatur, Jane Gardam, spürte den Entwicklungen einer Beziehung in gleich dreifacher Ausfertigung nach, indem sie dem Beziehungsleben von Frau (Eine treue Frau), Mann (Ein untadeliger Mann) und Liebhaber (Letzte Freunde) jeweils einen ganzen Roman widmete, die auf anachronistische Erzählkonzepte setzten.

Ästhetisch ordnet sich Julia Schochs Roman nun zwischen den Polen Gardam/Rosa und Schmitt ein. Nicht so schnodderig wie die junge Debütantin, nicht so komplex und raffiniert wie Gardam oder Rosa ist Das Liebespaar des Jahrhundert ein Buch, das schon mit den ersten Zeilen seinen Handlungsrahmen aufspannt.

Im Grunde ist es ganz einfach: Ich verlasse dich.

Drei Wörter, die jeder Mensch begreift. Es genügen drei Wörter, und alles ist getan. Man muss sie bloß aussprechen. Ich bin erstaunt, dass es so einfach ist. Und noch etwas erstaunt mich: Der Satz ist genauso kurz wie der, den ich am Anfang unserer Geschichte gesagt habe.

Drei Wörter am Anfang, drei Wörter am Ende. Wie es aussieht, lässt sich das Wichtigste im Leben mit sehr wenigen Wörtern sagen.

Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts, S. 7

Eine Liebe vom Anfang bis zum Ende

Julia Schoch - Das Liebespaar des Jahrhunderts (Cover)

Nach diesen Worten spürt die Erzählerin ihrer Beziehung nach, an deren Ende beeindruckende Zahlen stehen. 173.500 Fotos, 42 Reisen, vier Küchen, 8667 geschmierte Schulbrote und 41 Geburtstagstorten stehen für eine Beziehung, die schleichend ihren Ausgang genommen hat, ehe nun die finalen Worte zwischen den beiden Liebenden gesprochen wurden.

Die zunächst so evidente Logik, nach der die beiden jungen Leute zusammenkamen, das Studium, Aufenthalte in Paris oder Russland, das Zusammenziehen, Entfremdung nach dem ersten Kind, das schleichende Auseinanderleben bis zur Erkenntnis, mehr gegeneinander als miteinander zu leben. Das alles zeichnet Julia Schoch in ihrem mit 190 Seiten recht kurzen Roman in chronologischer Reihung nach.

In sehr sachlichem, kurzgehaltenen Ton blickt sie auf die Beziehung, in der beide Protagonisten namenlos und die Kinder so gut wie ausgespart bleiben. Auch die Beziehung selbst macht sie frei von großen Realien, wie die Erzählerin im Text hervorhebt.

Ich bin mir nicht sicher, ob Jahreszahlen unserer Geschichte etwas Wesentliches hinzufügen würden. Ob unsere Geschichte davon abhängt. Sollte man die Liebe nicht besser beschreiben, ohne sie einer bestimmten Zeit zuzuordnen? Oder braucht es ein Anfangsjahr? Würde es also etwas ändern, wenn ich sagte: Wir lernten uns 1991, 1994 oder im Jahr 2000 kennen? Solche Angaben würden mir das Gefühl vermitteln, wir wären nur das Produkt einer bestimmten Epoche, die Folge gewisser historischer Umstände. Als hätte alles so kommen müssen, wie es gekommen ist. Es käme mir so vor, als wäre ich eine Gefangene der Zeit.

Andererseits ist alles so gekommen, wie es gekommen ist. Es gibt keine Variante unserer Geschichte.

Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts, S. 14

Frei von den Zwängen von Raum und Zeit kann aus dem jungen Paar eben auch das Liebespaar des Jahrhunderts werden. Denn während sich alle andere Paare trennen und entlieben, scheint die Liebe zwischen ihr und ihm immer weiter zu wachsen. Offensichtlich ist die Liebe des Paars eine grundlegend andere, als sie andere Menschen um sie herum erfahren. Das rechtfertigt dann auch die großen zeitlichen Anspruch, den Titel und Erzählerin im Buch erheben, obschon auch dieser Liebe eine Ende beschieden ist, wie man schon gleich zu Beginn von Schochs Buch weiß.

Mittelteil von Schochs Trilogie

Das Liebespaar des Jahrhunderts verfugt sich selbst mit Schochs erstem Teil ihrer Autofiktionstrilogie Trilogie Das Vorkommnis:

Wir verfolgten die Sache nicht weiter. Kurz darauf reiste ich zusammen mit den Kindern in die USA, genauer gesagt nach Ohio, wo ich an einer Universität unterrichten sollte. Im Trubel der Reisevorbereitungen und während der Monate im Ausland verlief unsere Diskussion im Sande. Das ganze Vorkommnis, die Frau, meine Halbschwester, und vielleicht auch deine wurden zu Episoden, die in eine andere Zeit gehörten. Sie störten die Gegenwart, und ich verbannte sie in die hintere Region meines Gedächtnisses, wo sie sich erst viele Jahre später bemerkbar machten.

Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts, S. 138 f.

Ähnlich wie im Vorgängerband kann ich auch diesmal in das einhellige Kritikerlob von Schochs Erzählen nicht wirklich einstimmen, obschon sich die Gründe für meine Probleme mit dem Roman durchaus subjektiv motiviert sind.

Die Sprache zu kunstlos und nüchtern und die Figuren bleiben bloße Schemen, obgleich man eigentlich ja nicht näher an Figuren heranrücken kann, als Schoch das mit ihrer introspektiven Ich-Erzählerin tut. Und doch bleiben sie und ihr Mann für mich profillos, ist alles zu austauschbar und schon dutzendfach gelesen. Alles kommt mir hier wie eine glatte Wand vor, in die ich keine persönlichen Identifikationshaken schlagen kann und an der ich immer wieder abrutsche beim Versuch, die Faszination nachzuvollziehen und das Besondere in diesem Buch zu sehen.

Fazit

Das ist Prosa, die in fast allen Lesenden wahrscheinlich etwas auslösen wird. Nur in mir leider nicht, zu unterkühlt und zu buchhalterisch war für mich trotz einiger Bonmots diese Nachzeichnung einer Liebe, die Julia Schoch hier in den Mittelpunkt ihres Erzählens rückt. Somit für mich wie schon der erste Band leider kein Highlight.

Weitere Meinungen zu Julia Schochs Roman gibt es bei Kommunikatives Lesen, auf DLF Kultur sowie Seesternsbücher.


  • Julia Schoch – Das Liebespaar des Jahrhunderts
  • ISBN 978-3-423-28333-5 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug ins Chaos? In Gabriele Tergits Roman Der erste Zug nach Berlin will die junge Amerikanerin Maud Deutschland nach dem Krieg besuchen. Sie tut das im Gefolge einer Expedition voller besonderer Charaktere und lernt ein Land kennen, in dem alle nur Opfer gewesen sein wollen und in dem bezüglich alter Nazieliten eine erstaunliche Kontinuität herrscht. Böse, treffend, schnell.


Ist Gabriele Tergit nach ihrer Wiederentdeckung in den letzten Jahren zumeist für ihre groß angelegte Familiensaga Effingers oder die Mediensatire Käsebier erobert den Kurfürstendamm bekannt, so gibt es aus dem Werk der 1982 in London verstorbenen Autorin noch immer viel zu entdecken. Der erste Zug nach Berlin ist dafür der beste Beweis.

Diesen kurzen Roman siedelt Gabriele Tergit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an. Die junge Ich-Erzählerin Maud begleitet im Gefolge ihres Onkels Phipps eine amerikanische Reisedelegation nach Deutschland. Die Neunzehnjährige steht kurz vor einer Hochzeit mit ihrem gleichaltrigen Freund und so ist diese Reise noch einmal die große Gelegenheit zum ungebundenen Reisen und Abenteuer, ehe sie in den Stand der Ehe eintritt.

Von Amerika ins Nachkriegsdeutschland

Im Zug finden sich illustre Gestalten, die Maud ganz genau beobachtet und karikiert:

Als ich ins Flugzeug stieg, brüllten sie alle durchs Megaphon und sangen und trugen kleine Papierkappen und kurz und gut, es war himmlisch. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen Cocktail zu trinken. Neben mir saß ein junger Engländer mit einem merkwürdig unbeweglichen Gesicht, sehr groß, sehr schwarz mit einer Pfeife und in der der Eiseskälte des späten März ohne Mantel an Deck. Nur einen Schal und Handschuhe. Es war der 53. Lord Dolgelly, der noch gestern ein Mr. Randall gewesen war, aber glücklicherweise war sein älterer Bruder, der Lord, bei einem der Expeditionsversuche mit Raketen zur Minverva, dem kürzlich entdeckten Planeten, zu gelangen, verunglückt. Er sprach nicht, rauchte und machte auch sonst einen leicht idiotischen Eindruck.

Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin, S. 9

Inmitten vulgärer Amerikaner, Engländer mit geerbten Adelstiteln und vieler weiterer Unikate macht sich nun Maud auf, um zu reportieren und das Land der Täter kennenzulernen. Auf der Reise kommt es zu zahlreichen Diskussionen. Man streitet über Rassismus, die Press oder die richtige Strategie für das Re-Education-Programm, das den Deutschen die Folgen ihres Tuns vor Augen führen soll. Man ist sich uneins, die Argumente und Ansichten fliegen hin und her – und das zudem noch oftmals auf Englisch, das Gabriele Tergit immer wieder in den Passagen einfließen lässt (deren Übersetzungen sich dann aber auch im Anhang des Buchs finden).

Der Umgang mit der Schuld

Gabriele Tergit - Der erste Zug nach Berlin (Cover)

Ähnlich wie zuletzt auch Andreas Pflüger in Ritchie Girl blickt auch Gabriele Tergit in ihrem in den 50er Jahren entstandenen Roman auf die deutsche Nation und ihren Umgang mit der Schuld. In vielen Gesprächen will Maud ergründen, wie eine ganze Nation unter ihrem Führer Hitler mehrere Kontinente mit ihrem Krieg überziehen und Millionen von Menschen ermorden konnte. Die Erkenntnisse, die ihre Gespräche zutage fördern, sind aber ernüchternd.

Niemand will etwas getan haben, alle sind ausnahmslos Opfer, äußern antisemitische Klischees, sehen sich von feindlich gesinnten Juden in England und Amerika zu Unrecht angegriffen und weißen jegliche Schuld von sich, die sie den Alliierten zuschieben. Täter war man keinesfalls und wusste von nichts etwas – und wenn Maud und ihre Delegation dann tatsächlich auf ein misshandeltes Opfer der Nationalsozialsten stoßen, dann stirbt dieses Opfer in der Folge unterversorgt und in ärmlichen Verhältnissen, ausgegrenzt von der übrigen Gesellschaft.

Es ist viel Bitternis über diesen infamen Umgang mit der eigenen Schuld und die Kontinuitäten der Karrieren, die Nazikader an den Tag legen, wenn sie nach dem Ende des „3. Reichs“ weiterhin an zentralen Schaltstellen der Macht sitzen. Das verbindet sich in Der erste Zug nach Berlin mit viel Fatalismus und Uneinigkeit unter Amerikanern, Russen und Engländern, die allesamt auch nicht frei von Rassismus und Stereotypen sind.

Orientierung an Gabriele Tergits Original-Typoskript

Gabriele Tergits Buch ist trotz seiner Kürze keine einfache Lektüre. Sie vermengt erregte Dialoge, die vom Englischen ins Deutsche wechseln und umgekehrt, erzählt in schnellen Schlaglichtern, rast so manches Mal nur durch die Handlung und ist auf ein fast atemloses Erzählen bedacht, bei dem der Leser wie Tergits Heldin Maud so manches Mal erst begreifen muss, was hier gerade verhandelt wurde oder über was sich die Delegation da ganz genau echauffiert.

Die ganze Fülle dieses trotz seiner Kürze so vielfältigen Romans wird nun erstmals durch die vorliegende Ausgabe erlebbar. Denn wie Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem Nachwort schreibt, orientiert sich die aktuelle Ausgabe am Original-Typoskript Gabriele Tergits. Zwar gab es im Jahr 2000 bereits eine Ausgabe des Romans, doch der damalige Herausgeber griff stark in den Text ein, glättete, kürze und strich. Diese Bereinigungen sind nun wieder entfernt, wodurch ein vielstimmiger Roman erscheint, der uns mitnimmt direkt in die Zeit unmittelbar nach der Stunde 0 in Deutschland (die es so ja gar nicht gab, wie Der erste Zug nach Berlin eindrücklich zeigt).

Mehr Meinungen zu Gabriele Tergits Roman gibt es auch auf dem Blog von Birgit Böllinger und im HeymannBlog von Sönke Schneider.


  • Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin
  • Artikelnummer: 17460X (Büchergilde Gutenberg)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Michael Kröchert – Wasserläufer

Walden auf dem Fluss. In Michael Kröcherts Roman Wasserläufer wird ein selbstgebautes Floß auf den Gewässern der Havel zu einem Rückzugsort für einen Fotoreporter. Doch die Idylle und Erfüllung seiner Wünsche erwartet ihn dort nicht. Vielmehr gewinnt Kröcherts Buch, indem er das romantische Vorhaben des Mannes mit der politischen Gegenwart vor Ort kreuzt.


Wasserläufer ist ein Roman, der seine eigenen ideellen Bezugspunkte selbst zitiert. Denn als Rio, der Ich-Erzähler in Michael Kröcherts Roman, in einem Anfall von Marie-Kondo-hafter Entrümpelungswut sein Floß von allem überflüssigen Ballast zu säubern beginnt, sind es auch die Bücher, die ihm dabei in die Hände geraten und derer sich der Fotoreporter in diesem Anfall entledigen möchte. Da findet sich Gehen oder Die Kunst, ein poetisches Leben zu führen von Tomas Espedal, Die Schiffbrüchigen von F. E. Raynal neben Pilger am Tinker Creek von Annie Dillard natürlich neben dem Vater aller Fluchtfantasien, nämlich Henry David Thoreaus Walden oder Vom Leben im Wald. Allesamt Lektüre, die von Rückzug, Einsamkeit und Kontemplation erzählt und der eigentlich auch Rio nacheifern wollte.

Walden auf der Havel

So hat er sich selbst ein Floß gezimmert, mithilfe dessen er die Flüsse und Seen rund um die Havel einen Sommer lang bereisen möchte. Das Leben auf dem Boot als Rückzug vom täglichen Leben, das ihn sehr in Beschlag genommen hat. Als Fotoreporter war er ständig mit Bilderfluten, Leid und Newsdruck belastet, eine Corona-Erkrankung hat ihn des Geruchs- und Geschmackssinns beraubt und auch mit seiner Partnerin ist vieles wie etwa die mögliche Familienplanung noch nicht geklärt.

Ich hatte mir vorgenommen, zum Baum mit dem Stuhl zu schwimmen und den Abend dort zu verbringen, doch die Strecke erschien mir zu weit , und ich watete zum Schilf. Dort lauschte ich dem Knistern der Blätter und dem wilden Geraschel, beobachtete auch Wasserläufer, die hin- und herhuschten. Meine Gedanken waren in Aufruhr. Es war im Grund genommen derselbe Aufruhr, der mich auch in Berlin permanent begleitet hatte.

Michael Kröchert – Wasserläufer, S. 125

Nun als Kontrastprogramm also das Leben auf den Flüssen und Seitenarmen der Havel in Brandenburg. Ankern auf Seen, Schwimmen und Tauchen im Wasser. Viel Einsamkeit und Ruhe, um zu sich zu finden und der eigenen Mitte nachzuspüren. Zwar blieb sein Ersuchen um eine Genehmigung seines Floßes ohne Antwort des Wasserwirtschaftsamtes, aber davon lässt sich Rio nun nicht mehr nicht aufhalten.

Ein dezidiert politischer Roman

Michael Kröchert - Wasserläufer (Cover)

Doch kein Mensch ist keine Insel, und so macht auch Rio schon bald dort zwischen den fiktiven Soliner und Fernower Seen die Bekanntschaft mit ganz unterschiedlichen Menschen. Da ist Birk, der Rio gastfreundlich aushilft, ihm Essen und Reparaturmaterial für sein Boot zur Verfügung stellt. Da gibt es aber auch den Gegenentwurf zum dem Linksradikalismus zuneigenden, naturverbundenen Birk. Er trägt den Namen Jost und lebt zusammen mit seiner Freundin Magda auf dem luxuriösen Boot namens Ponceau, das ebenfalls auf dem Fluss ankert. Sein Geld hat er gemacht, nun investiert er in eine Kaffeekooperative in Honduras und versucht in Gesprächen und Treffen, sich mit Menschen jenseits seines Standes zu verbünden.

Es ist eine Vielzahl an Figuren, denen Rio trotz seiner geplanten Einsamkeit während seines Sommers auf dem Floß begegnen wird.

Dabei beschränkt sich Michael Kröchert nicht allein auf eine Beschreibung des Lebens und der Erfahrung dort auf See. Wasserläufer ist auch ein dezidiert politischer Roman. Denn Rio begegnet Menschen, die ganz unterschiedlich auf die Gesellschaft blicken und die sich auf diametral auseinandergesetzten Positionen des politischen Spektrums wiederfinden und die das in einigen der Gespräche auch umfassend darlegen.

Während Jost bei der Durchsetzung seiner linken Weltsicht auch auf Gewalt setzt, schimpft sein Vater Ludger über Polen als pars pro toto für das Fremde. Rio begegnet dem MotorMän, einem Besitzer eines Sportboots, dessen rowdyhafte Auftritte auf dem Wasser Mensch und Natur in Schrecken versetzen. Er erinnert an neurechte Kräfte und Agitatoren, die es in Landestrichen wie Brandenburg zuhauf gibt und deren Werben auf fruchtbaren Boden fällt.

Fazit

So gelingt es Kröchert in seinem Roman, Rios Rückzug auf das Floß in der Tradition der Naturerfahrung der Romantik und der Innerlichkeit der Biedermeier-Ära die mit der harten politischen Gegenwart zu kreuzen, wodurch Wasserläufer an Tiefe und Kraft gewinnt. Sein Buch ist konsequent und begeht nicht den Fehler, irgendeinen Aspekt des Lebens dort auf dem Wasser zu verklären. Von Containern bis zu Dorffesten der neuen Rechten ist Wasserläufer ein Buch, das mit wachem Blick auf die Zustände des Landes blickt und das auch den Mut hat, den Rückzug in die Natur zu de-romantisieren. Das macht aus Wasserläufer einen starken Gegenwartsroman, der mit seiner Form und literarischen Spielereien wie kleinen Schnitten und einem gesellschaftlichen Gegenwartsbild im Kleinen überzeugen kann.


  • Michael Kröchert – Wasserläufer
  • ISBN 978-3-608-50016-5 (Tropen)
  • 368 Seiten. Preis: 25,00 €
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Emma Cline – Die Einladung

Hochsommer in den Hamptons. Dort, wo die Schönen und Reichen vor den Toren New Yorks Urlaub machen, da möchte auch Alex sein und dazugehören. Nur Die Einladung zu diesem exklusiven Leben, sie fehlt ihr. Und so schnorrt sie sich in Emma Clines zweitem Roman von Tag zu Tag durch. Sommerlektüre irgendwo zwischen Victor Jestin und Peter Richter.


Die Hamptons, sie sind der Sommersitz der begüterten New Yorker. Im August ziehen sie sich zurück in ihre exklusiven Anwesen, um dort die heißen Tage zumeist bis zum Labor Day-Feiertag, dem ersten Montag im September, zu verbringen. Auch Alex will im Kreis der Hautevolee ihren Sommer verbringen. Einen einzigen Haken hat die Sache – die junge Frau hat keinerlei Einladung für die exklusiven Partys und Häuser. Und so schnorrt sie sich durch, prostituiert sich und lässt sich von anderen Männern aushalten, die ihr ein Ticket zur Upperclass verschaffen sollen.

Doch bei einem älteren Liebhaber leistet sich Alex auf einer Party im Alkohol- und Drogenrausch einen Fehltritt, sodass er sie aus seinem Haus komplimentiert. Nun gilt es für die junge Frau, sich in der Welt der Hamptons durchzuschlagen und neuen Anschluss zu finden. Denn zurück nach New York kann sie nicht, hat kein wirkliches Dach über dem Kopf und über so etwas wie Geld verfügt sie gleich zweimal nicht. Und so versucht sie unter größter Anstrengung die Fassade eines Lebens zu wahren, das eigentlich nur Schein statt Sein ist, immer mit dem verzweifelten Ziel vor Augen, ohne Geld und Dach über dem Kopf zu überstehen, um in ein paar Tagen zu einer Party ihres Sugardaddys zurückzukehren.

Alex ging eine Weile in der Sonne. Streckenweise, dort, wo sich die Baumkronen verflochten, lag die Straße im Schatten. Die Luftfeuchtigkeit brachte sie dennoch zum Schwitzen. Ihre Stirn war nass, auch der Hals. Sie hob den Saum ihres Shirts und versuchte eine Brise heraufzubeschwören. Ihre Sandalen scheuerten. Immer wieder musste sie stehen bleiben, sich vorbeugen, um einen Finger zwischen Haut und Sandalenriemchen zu schieben. Ihr Weekender war klein genug, um nach Strandtasche auszusehen, nicht nach einer Tasche, die ihr ganzes Hab und Gut enthielt, und das war wichtig. Es war wichtig, nicht zu verzweifelt zu wirken, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Sie war ein Mädchen, das am Straßenrand entlangging, und solange sie sich an diese ruhigen Straßen hielt, war das nicht so ungewöhnlich.

Emma Cline – Die Einladung, S. 96 f.

Durchschnorren in den Hamptons

Emma Cline - Die Einladung (Cover)

Man verfolgt auf einem dramaturgisch recht gleich bleibenden Level die verzweifelten Versuche Alex, den Anschluss an ihr bisheriges Leben zu halten, das mit 22 Jahren noch recht kurz ausgefallen ist. Sie bezirzt Hausangestellte, simuliert auf Hauspartys Zugehörigkeit oder nutzt fremde Kinder, um auf Kosten derer Eltern die Kreditkarten mit ihrem Konsum zu belasten.

Dabei zeigt Emma Cline eine junge Frau, die zwischen Ignoranz, Selbsttäuschung und Skrupellosigkeit changiert – immer mit dem verzweifelten Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Welt, die nicht die ihre ist. Mit Verve rennt Alex gegen diese unsichtbaren Klassenschranken an, wobei man nicht weiß, ob man die Dreistigkeit der jungen Frau bewundern oder bemitleiden soll.

Insgesamt gesehen passt der englische Originaltitel The Guest dabei eine ganze Nummer besser zu Emma Clines Buch als die deutsche Variante der Einladung, auch wenn Alex beständig einer solchen Einladung hinterherjagt. Aber die eigentliche Hauptdarstellerin ist und bleibt Alex, die sich in fremde Leben einzuschleichen versucht. Sie mag sich so verbiegen und verstellen, wie sie will, mag charmieren und das unbeschwerte Summergirl geben – und doch bleibt sie in der Welt der Hamptons immer nur ein Gast.

Damit führt Emma Cline gewissermaßen das Thema des Dazugehörigkeitsgefühl und der weiblichen Anpassung fort, das sie schon in ihrem Debütroman The Girls (2016) und dem Kurzgeschichtenband Daddy (2021) verhandelte.

Fazit

Emma Cline inszeniert ihre Geschichte in einer flirrenden, sommerhellen Stimmung, die aber auch genug Raum für untergründige Spannung und dunkle Momente lässt. Ihr Buch Die Einladung ist ein perfekter Summerread. Ihre Heldin Alex schwankt zwischen Leichtigkeit, Bangen, Exzess und Scharade. Angesichts dieser stimmigen Mischung verzeiht man sogar die gerade anfangs etwas rumpelnde Übersetzung gerne.


  • Emma Cline – Die Einladung
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27757-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €
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Hans Pleschinski – Der Flakon

Vom Elbflorenz nach Pleiße-Athen. In seinem neuen Roman Der Flakon schickt der Münchner Schriftsteller Hans Pleschinski eine Adelige auf eine waghalsige Mission zur Zeit des Siebenjährigen Kriegs. Dabei muss sich das Buch mit dem Vergleich mit einem anderen historischen Roman stellen, bei dem Pleschinskis neues Buch leider den Kürzeren zieht.


Sachsen, 1756. In Leipzig und an vielen anderen Orten kommt die Epoche der Aufklärung zu ihrer großen Blüte. Christian Fürchtegott Gellert schreibt Fabeln, Gottsched und seine Frau reformieren das Theater und die Sprache. Man musiziert, pflegt Freundschaften, sucht in Vorhaben wie dem Zedler’schen Lexikon das Weltwissen zu bündeln. Während im Pleiße-Athen aufgeklärt wird, wird im Elbflorenz Dresden fleißig gesammelt. So kauft Carl Friedrich Heineken als bevollmächtigter Stellvertreter des Premierministers unentwegt Kunstschätze für die königliche Sammlung an, darunter Dürer, Tizian und Holbein. Im Grünen Gewölbe funkeln und strahlen die Geschmeide, dessen Erbauung einst August der Starke veranlasste. Kunst und Kultur allenorten – aber auch der Siebenjährige Krieg steht bereits vor der Tür.

Kampf um Sachsen

Den Startschuss dafür hat Friedrich II. von Preußen im August 1756 gegeben. Mit seinen Truppen überschritt er kurzerhand die Grenzen Sachsens. Er marschiert auf Dresden und Leipzig zu. Reichsminister Brühl ist zusammen mit seinem Herrscher Friedrich August aus Dresden nach Warschau geflohen. Seine Frau Maria Anna Franziska Reichsgräfin von Brühl hat er in seinen Brühlsche Herrlichkeiten geheißenen Prunkbauten zurückgelassen. Sie hofft ebenso wie ganz Sachsen auf eine Intervention der Verbündeten. Österreich unter Kaiserin Maria Theresia, der russischen Zarin Elisabeth Petrowna oder der eigentlichen französischen Staatenlenkerin, Madame de Pompadour. Sie alle sollen dem von Preußen so bedrohten Sachsen beistehen und militärische Unterstützung leisten.

Hans Pleschinski - Der Flakon (Cover)

Doch ein Befreiungsschlag der sächsischen Armee mithilfe der Unterstützung österreichischer Truppen am Königsstein misslingt (nebenbei – was für ein schöner Kofferbegriff aus Pleschinskis früheren Werken Königsallee und Wiesenstein) Die Sachsen werden von Friedrich II. aus dem Feld geschlagen, für die preußische Armee zwangsrekrutiert und dessen Truppen können in ihrem Tun fortfahren, um weiterhin Dresden zu verwüsten und die Stadt Leipzig um horrende Zahlungen zu erpressen.

Reichsgräfin Brühl beschließt in dieser aussichtslosen Lage zu handeln. Sie will von Dresden nach Leipzig aufbrechen, um dem Tyrannen Friedrich II. unter die Augen zu treten. Entscheidende Bedeutung kommt in ihrem Plan dem Mittel Tufania zu, den sie in einem Flakon auf ihrer Reise mit sich führen möchte:

Mit Tufania, vielleicht nur wenigen Tropfen, hatten vor allem im Süden, in Palermo, Frauen ihre grausamen oder greisen Ehemänner beseitigt, mit denen sie verheiratet worden waren. Eine Essenz der Erlösung. Eine bewährte Mischung aus Belladonna, Arsen und Blei. Geruchlos, rasch in der Wirkung und nahezu spurlos. Erst der unbedachte Gebrauch, ein Weiterreichen der Flüssigkeit und dann Bestattungen in Serie hatten auf Sizilien die Behörden alarmiert.

Ein feines Mittel.

Hans Pleschinski – Der Flakon, S. 104

Tyrannenmord als letzter Ausweg

Der Tyrannenmord als letzter Ausweg. Zusammen mit ihrer Kammerzofe Luise von Barnhelm bricht die Reichsgräfin im Winter auf und reist inkognito per Postkutsche. Dabei erfährt sie anschaulich die Verheerungen im Land, sieht Züge jüdischer Geflüchteter und kommt Leipzig auf Umwegen immer näher…

Wenn der Münchner C. H. Beck-Verlag in seiner Werbung und dem Klappentext des Buchs davon spricht, dass Hans Pleschinski hier endlich ein wenig bekanntes Kapitel deutscher Geschichte erzählt, dann stimmt das nur so halb. Mag man auch den preußischen Überfall auf Sachen als entscheidendes Initiationsereignis der Siebenjährigen Kriegs nach dem Geschichtsunterricht auch nicht mehr wirklich präsent im Kopf haben, so wurde dieses Thema literarisch doch erst im vergangenen Jahr behandelt und in diesem Jahr mit einer Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse geadelt. Die Rede ist vom famosen Werk Aufklärung von Angela Steidele.

Zwar legte sie ihren erzählerischen Fokus auf die Leipziger Frauen, die neben ihren Männern und Vätern wie Johann Sebastian Bach oder dem bereits erwähnten Johann Christoph Gottsched die Aufklärung entschieden voranbrachten. Aber gerade im letzten Teil der Aufklärung ist die Belagerung Leipzigs durch die Truppen Friedrichs II. großes Thema, das sie aus der Perspektive der Zivilbevölkerung schildert.

Setzt Hans Pleschinski nun auf die in Teilen gleichen Themen, in Teilen gleichen Handlungsorte und Personen, so provoziert das natürlich einen direkten Vergleich zwischen beiden Werken. Ein Vergleich, in dem Pleschinskis neuer Roman für mich zumindest leider unterliegt.

Hans Pleschinski oder Angela Steidele?

Denn wo Angela Steidele unangestrengt Wissen vermittelte, durch die Wahl der Bach-Tochter Doro als zentrale Erzählerin einen runden und logischen Erzählfluss kreierte und ein rundum überzeugendes Lese- und Bildungserlebnis im Sinne ihres Buchtitels schuf, da liegt bei Hans Pleschinski die Sache etwas anders.

Er hält sich mit vielen Schilderungen der militärischen Lage und zahllosen historischen Randnotizen auf, lässt seine Figuren durch die Gassen Dresdens eilen, ehe dann endlich das entscheidende Komplott der Reichsgräfin geschmiedet wird. Erst nach einhundert Seiten bricht diese dann tatsächlich zur zentralen Kutschfahrt auf, die im Mittelpunkt des Romans steht.

Auch diese wird wieder zum geistesgeschichtlichen Schaulaufen. Pleschinski lässt verschiedene Theorien und Disziplinen in Form von mitfahrenden Kutschgästen und Schenkengästen auftreten. Weltpolitik, Kunst, kulturelle Strömungen, Erfahrungen des Kriegsleids und der allgegenwärtigen Zerstörung, kleine Verweise auf die Gegenwart (etwa wenn die Leipziger auf der Straße mit dem Verweis auf die Einheit als ein Volk demonstrieren), historische Biografien und Wendepunkte wie die Katte-Tragödie – all das fließt in Der Flakon ein. Leider aber rumpelt das Ganze so unelegant und schwerfällig wie die Kutsche der Reichsgräfin auf den sächsischen Wegen.

Fazit

Vielleicht hätte mich Der Flakon ohne die Kenntnis von Angela Steideles in allen Belangen so viel eleganteren Erzählung mehr überzeugt. Auch eine Formung des ganzen als Novelle mit der Kutschfahrt als zentralen Motiv wäre hier vielleicht die bessere Wahl gewesen. So aber verbindet sich hier leider in vielen Passagen erzählerische Langeweile mit geschichtsinformatorischen Overkill, abschweifende Seitenepisoden mit wenig ausgestalteten Figuren. Dass es Pleschinski so viel besser kann, hat er ja etwa in seinem grandiosen Werk Wiesenstein ja bereits bewiesen. Hier hätte ein klarerer Fokus aber notgetan, um im Wettrennen um den überzeugenderen historischen Roman nicht von Angela Steidele abgehängt zu werden.


  • Hans Pleschinski – Der Flakon
  • ISBN 978-3-406-80682-7 (C. H. Beck)
  • 360 Seiten. Preis: 26,00 €
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