Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn

Die Wut, die bleibt. In Simone Atangana Bekonos Debüt gibt diese Einblick in die Seele einer jugendlichen Heldin, die ihre Verletzlichkeit in Gewalt kehrt – und die die Folgen ihres Tuns in eine Jugendstrafanstalt in den Niederlanden bringen. Doch kann ein Aufenthalt dort Salomés Zorn wirklich mindern – und woher kommt eigentlich diese Wut?


„Mein Name ist Salomé“, sage ich. „Salomé Henriette Constance Atabong. Das bin ich“

Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn, S. 243

Wo sich andere Figuren dem Leser oder der Leserin am Anfang einer Geschichte vorstellen, da beschließt Salomé, die von Simone Atangana Bekono erdachte Heldin, ihren Bericht mit diesen Worten.

Kennenlernen konnte man die junge Frau auf 242 Seiten zuvor ausführlich – denn im Kern ist das Debüt der niederländischen Autorin die Erkundung der Seelenlandschaft einer jungen Frau, die sich manchmal selbst fragt, ob es von ihr vielleicht zwei verschiedene Varianten gibt.

Die Wut, die bleibt

Dabei ist es die weniger zugewandte und freundliche als vielmehr höchst zornige und aggressive Version Salomés, die sie in die Situation gebracht hat, die als erzählende Rahmenhandlung dieses Buchs dient. Denn Salomé sitzt im Donut ein, dessen Name etwas in die Irre führt, ist ein Donut doch eigentlich eher mit kalorienreichem Genuss assoziiert. In realiter möchte man auf den Genuss dieses Donuts aber eher verzichten, denn es handelt sich um den Spitznamen einer Einrichtung des geschlossenen Jugendvollzugs.

Simone Atangana Bekono - Salomés Zorn (Cover)

Da sich die nach Geschlechtern getrennten und einzeln abgeteilten Einheiten der Strafanstalt rund um den Innenhof gruppieren, sprechen die Insassinnen dort etwas ironisch von einem Donut. Einzelzellen, streng getakteter Tagesablauf, Gespräche mit Therapeuten. So sieht der Alltag dort aus, wo sich Salomé ihren Taten stellen muss, die in den Donut gebracht haben.

Es sind gravierende Vorwürfe, die sich aus den Gespräch mit ihren Mitinsassinnen und Therapeuten sowie aus den Rückblenden herausschälen. Denn Salomé hat zwei Mitschüler schwer verprügelt. So schwer, dass einer von beiden für den Rest seines Lebens ein Glasauge tragen muss. Doch warum konnte es soweit kommen, dass eine eigentlich unscheinbare Frau zwei Gleichaltrige so misshandelt?

Das erzählt Salomés Zorn, in dem Simone Atangana Bekono Schicht für Schicht des Charakters und vor allem der Erfahrungen freilegt, die Salomé geprägt haben.

So wächst sie am Rande eines kleinen niederländischen Dorfs als Tochter eines Migranten der ersten Generation aus Kamerun auf. Eine buchbegeisterte Mutter, eine ältere Schwester und ein kleines Eigenheim, in dem die Familie wohnt. Das kennzeichnet die Familie Atabong, deren Oberhaupt eine eigene Antwort auf Rassismus und Ausgrenzung gefunden hat.

Mit der Faust in die Welt schlagen

Es ist wichtig, dass du dich nicht zum Opfer machen lässt“, sagte Papa, während er zeigte, wie man zuschlagen muss.

„Du machst zusammen mit deinem Schlag einen Ausfallschritt. Als ob du ein Loch in deinen Feind schlagen willst.“

Mittendurch schlagen. Stark sein. Schnelligkeit. Hart arbeiten. Sich nicht beklagen.

Sich nicht zum Opfer machen lassen.

Und wenn es doch passiert: schneller sein, als erwartet.

Das ist das Ziel

Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn, S. 62

Der Grund für dieses doch recht handfeste Coaching sind die permanenten Übergriffe und Mobbingattacken, denen sich Salomé auf ihrer Schule, dem Sint-Odulfus-Categoraal-Gymnasium ausgesetzt sieht.

Als eine der wenigen Mitschüler*innen mit sichtbarem Migrationshintergrund ist Salomé Zielscheibe von Spott und dauernden Attacken der anderen Jugendlichen. Spätestens als eine Flüchtlingsunterkunft neben der Schule gebaut wird, bricht sich der Rassismus und die Verachtung ihrer Mitschüler*innen für Nicht-Weiße Bahn. Und so setzt Salomé auf das Mittel, das sie von ihrem Vater erlernt hat. Mit Konsequenzen, die sie schlussendlich in den Donut bringen.

Die zwei Salomés

Dabei gibt es auch eine andere Salomé. Eine, in der nicht beständig die Wut brodelt. Eine, die mit ihrer Mutter über Romane kommuniziert, die in der Welt der Literatur Geborgenheit findet, die sich für die antiken Mythen interessierte, allen voran die Legende der Medusa, und die vor allem in der Heimat ihres Vaters in Kamerun aufblüht.

Denn die familiären Wurzeln in Kamerun sind stets präsent, vor allem in Person ihrer Tante Céleste, deren Familie die Atabongs in einer der eindrücklichsten Szenen dieses Romans einst dort in ihrem Haus in Douala besuchten. Mittlerweile hat sich Céleste von ihrem Mann in Kamerun trennt und lebt mit einem neuen Partner in Spanien. Doch auch dort ist ihr Einfluss und ihre Denkweise auf Salomé präsent.

Wie Salomé zwischen den verschiedenen Einflüssen ihrer Familie und Temperamenten, den zwei Versionen ihrer selbst, den Erlebnissen dort im Donut und auch den widerstreitenden Eindrücken ihres Therapeuten Frits van Gestel, den sie aus dem Fernsehen kennt, wo er mit seiner Liebe zu Afrika bei Salomé keineswegs punkten konnte, all das vermengt Simone Atangana Bekono zum vielschichtigen Psychogramm einer jungen Frau, die ihren eigenen Weg erst noch finden muss und die ihre Wut manchmal auf Abwege führt, wenngleich die Hintergründe dieser Wut anschaulich begründet werden.

Dabei würde Salomés Zorn vielleicht noch ein etwas präsenterer Spannungsbogen abseits des sich langsam zusammensetzenden Bildes von Salomés Werden und Sein guttun, für ein Debüt allerdings ist das, was die 1991 geborene Simone Atangana Bekono hier vorlegt, in seiner psychologischen Tiefe und Ausdeutung wirklich schon sehr beeindruckend.

Fazit

Salomés Zorn ist eine umfassende Beschreibung der Seelenlandschaft einer wütenden jungen Frau, die von Rassismuserfahrung, von Gewalt, aber auch vom schwierigen Finden der eigenen Identität erzählt. Ausgehend von der Rahmenhandlung im Jugendstrafvollzug beschreibt Simone Atangana Bekono die von Ausgrenzung, von Bildungshunger und vom schwierigen Finden des eigenen Platzes in der Welt als Kind der ersten Migrantengeneration geprägte Welt.

Das erinnert mitunter an die Prosa Giulia Caminitos, aber vor allem an das Debüt Ellbogen der Autorin Fatma Aydemir. Denn wie Aydemir erzählt auch die junge Niederländerin vom schweren migrantische Erbe, das eine*n nicht nur durch das Äußere kennzeichnet, die Erfahrung von Rassismus und der Wunsch nach Abgrenzung und Frieden, der dann doch schnell in Gewalt kippen kann. Und so verbinden sich auch schnell Politik und Privates, Zorn und Sehnsucht nach Geborgenheit, die Enge des Donuts und die Sehnsucht nach der Weite der Welt da draußen. Das macht Salomés Zorn lesenswert und vielleicht auch zu einer potentiellen Lektüre für höhere Schulklassen macht.


  • Simone Atangana Bekono – Salomés Zorn
  • Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm
  • ISBN 978-3-406-80000-9 (C. H. Beck)
  • 246 Seiten. Preis: 24,00 €
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Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand

Kuba, das ist dieses pittoresk verfallene Eiland, auf dem die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. Liebevoll handgedrehte Zigarren, Zuckerrohr, Caipirinha und Sonnenschein den ganzen Tag und dazu die Musik des Buena Vista Social Club. So kuschelig kann man es sich in seinen Klischees über die sozialistisch regierte Insel eingerichtet haben. Wie grundfalsch diese Bilder allerdings sind, das beweisen die stilistisch vielfältigen Erzählungen von Ángel Santiesteban, die es nun unter dem Titel Stadt aus Sand in der Reihe Weltempfänger der Büchergilde Gutenberg zu entdecken gibt.


Bei den vorliegenden Erzählungen kann man wirklich von einer Entdeckung sprechen, denn auf dem deutschen Buchmarkt ist Ángel Santiesteban so gut wie unbekannt. Zwar erschien im Jahr 2017 eine Sammlung von sechzehn Kurzgeschichten unter dem Titel Wölfe in der Nacht, die in den Medien auch etwas Widerhall fand. Davon abgesehen aber ist der Name Ángel Santiesteban wohl nur großen Kennern der kubanischen Literatur ein Begriff. Das gilt aber auch für Kuba selbst, wo der 1966 geborene Schriftsteller mit einem Publikationsverbot belegt ist und sogar schon einmal im Gefängnis saß, woraus er erst auf öffentlichen Druck wieder freikam.

Dass die Prosa Santiestebans den Machthabern in Kuba nicht recht sein kann, das zeigt sich schon nach kurzer Zeit, beginnt man in den Erzählungen des Kubaners zu lesen. Denn das Bild, das seine Geschichten von der Insel zeichnen, ist wenig schmeichelhaft. Und erst recht hat es nichts mit den eingangs genannten Klischees zu tun, die Santiesteban hier kraftvoll zerschlägt.

Politischer Druck, Überwachung und Unterdrückung

Er erzählt von politischem Druck, bei dem Menschen schon einmal im Gefängnis landen, nur weil sie in der Nähe des Ortes aufgegriffen wurden, wo sich der Comandante kurzfristig erleichtern musste. Ein doppeldeutiges Verhör genügt, um einen unbescholtenen Köhler hierbei ohne Prozess ins Gefängnis zu bringen (Selbstmordwalzer).

Ángel Santiesteban - Stadt aus Sand (Cover)

Er zeichnet das Bild eines Systems, in dem Menschen verzweifelt aufsteigen möchten und sich durch einen unbewussten Griff an die Nase selbst in die Psychiatrie bringen (Der bedeutendste Popel der Geschichte), in der ein zufälliger Kontakt mit einem Jugendfreund einen zum Verdächtigen macht, dem Misshandlungen wiederfahren (Richelieus Männer) oder in dem man die eigene innerfamiliäre konfessionelle Prägung nicht einmal geschützt innerhalb der eigenen vier Wänden ausleben kann und so ganz eigene Wege finden muss, um sich dem Überwachungssystem wenigstens etwas zu entziehen (Der Äquilibrist).

Überhaupt, die Überwachung und Unterdrückung, sie ist in vielen von Santiestebans Geschichten höchst anschaulich beschrieben. Die Paranoia, die dieses System erzeugt, in dem Menschen von einem auf den anderen Tag verschwinden (Auf der Suche nach Benny) und in dem man nicht einmal im Ausland vor den Behörden und Zensoren geschützt ist (Dolce Vita), sie wird nachvollziehbar und setzt sich dann in jenen Geschichten fort, die den feinen Grat erkunden, der zwischen Normalität und dem allzu schnellen Abgleiten in die Kriminalität oder psychiatrischen Anstalten des Inselstaates verläuft.

So ist es in der Geschichte Das Skelett des Herrn Morales das verzweifelte Streben eines Büroangestellten, der vor der Überführung der sterblichen Überreste seines Vaters diese wieder vervollständigen möchte oder in der schon erwähnten Erzählung Der bedeutendste Popel der Geschichte der Wunsch nach Aufstieg im politischen System, der für Santiestebans Protagonisten geradewegs in die Psychiatrie führen, obschon sie auf dem Grat zwischen Normalität und Kriminalität nur einmal kurz gestrauchelt sind.

Die Unbarmherzigkeit des politischen und gesellschaftlichen System Kubas, sie werden in diesen Geschichten in ihrer ganzen Abgründigkeit offenbar.

Unterschiedliche Erzählungen

Wenn diese Geschichten etwas eint, dann ist es ihre Einheit in Sachen Unterschiedlichkeit. Denn es ein stilistischer und thematischer Strauß an Stilen und Umfang, den die dreizehn von Thomas Brovot ins Deutsche übertragenen Erzählungen kennzeichnen.

So gibt es die gnadenlose Selbsterklärung einer Schwarzen, die sich selbst verleugnet und dem Rassismus zuneigt. Ein Mann in einer parabelhaften Geschichte, der in der sandigen Wüste eine Stadt errichtet, um dort am Steg der Ankunft eines Schiffes zu harren oder die Erzählung einer Mietergemeinschaft in einem dystopischen Setting, das die Leiche einer Verstorbenen im Wettlauf gegen das Unwetter, das gegen ihr Haus anbrandet, in Sicherheit bringen wollen. Aber auch für Spielereien mit der Metaebene von Texten bleibt bei Ángel Santiesteban noch Platz.

Und obschon diese Erzählungen wirklich divers und nicht wirklich einordenbar sind, so gibt es doch ein entscheidendes verbindendes Element. Das ist die Hoffnungslosigkeit, die fast allen Erzählungen innewohnt. Die Träume, die politischen Karrieren, die Hoffnungen, sie alle sind in diesen Geschichten auf Sand gebaut. Zwar kann man sich in Tagträume flüchten, wie dies die Prostituierten in der titelgebenden Eingangsgeschichte Stadt aus Sand tun. Viel bringen wird es allerdings nicht. Das ist die bittere Erkenntnis, die diesen Erzählungen innewohnt.

Ein willensstarker Autor

Schön, dass es die Büchergilde im Rahmen des Weltempfängers möglich gemacht hat, sechs Jahre nach dem ersten Erzählungsband auf Deutsch nun auch diese dreizehn Geschichten aus Kuba erlesbar zu machen. So bekommt man den Eindruck eines Staates, der auf Unterdrückung und Strafe setzt, um seine System am Laufen zu erhalten. Ein System, dem der oder die normale Kuba-Besucher*in nicht ansichtig werden dürfte, und das deshalb umso spannender zu lesen ist, setzt der Kubaner mit seinen Geschichten doch nicht bloß auf Agitation, sondern weiß auch literarisch durch Varianz zu überzeugen.

Und nicht zuletzt rückt diese Veröffentlichung mit Ángel Santiesteban einen unerbittlichen Schreiber ins öffentliche Interesse, der radikal für seine Prosa einsteht und dafür auch Gefängnis in Kauf nimmt. Oder um es mit den Worten von Paul Ingeenday zu sagen, der das Nachwort zu Stadt aus Sand liefert:

In den Jahre zuvor hatte ich einige Autoren und Autorinnen des Inselstaates kennengelernt, hier Kompromissler, dort Protestnaturen, aber so radikal wie Santiesteban war niemand von ihnen aufgetreten; manche waren entnervt ins Exil gegangen wie so viele vor ihnen, um ihr Glück in der wachsenden kubanischen Diaspora von Miami, Madrid, Paris oder Berlin zu versuchen.

Und nun dieser: ein sanfter Trotzkopf, der vor innerer Energie zu bersten schien. Der geschworen hatte, sich aus seiner Heimat nie vertreiben zu lassen und – das Undenkbare – die Castros zu überleben, Gefängnis hin oder her. Der sagte, es sei ihm egal, ob seine Literatur überhaupt erscheinen dürfe, er schreibe sie so oder so, mit Geld, ohne Geld, oft übrigens in der Nacht. Seine Geschichten drängten aufs Papier, damit sie ihn im Innersten nicht verbrannten. „Das ist der einzige Sinn, den ich in meinem Leben entdecken kann“, sagte er mir. „Dafür bin ich auf der Welt. Um zu schreiben“.

Paul Ingeenday in seinem Nachwort zu Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand, S. 248

Schön, dass der Weltempfänger diese vielseitige und so willensstarke Stimme für uns europäische Leser*innen einfängt!


  • Ángel Santiesteban – Stadt aus Sand
  • Aus dem Spanischen von Thomas Brovot
  • Mit einem Nachwort von Paul Ingendaay
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 173670
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Vorschaufieber Frühjahr 2023

Wieder ein halbes Jahr vorbei, wieder gibt es neue Vorschauen mit den ersten Titeln für das Jahr 2023. Was mich am meisten interessiert und worauf ich mich am meisten freue, das versucht dieser Beitrag zu sammeln.

International

Percival EverettDie Bäume (aus dem Englischen von Nikolaus Stingl, Hanser). Christine Dwyer HickeySchmales Land (aus dem Englischen von Uda Strätling, Unionsverlag). J. O. MorganDer Apparat (aus dem Englischen von Jan Schönherr, Rowohlt). Richard RussoMohawk (aus dem Englischen von Monika Köpfer, DuMont). Tara M. StringfellowMemphis (aus dem amerikanischen Englisch von Marion Kraft, ecco)

Mattias EnardDer perfekte Schuss (aus dem Französischen von Sabine Müller, Hanser). NoViolet BulwayoGlory (aus dem Englischen von Jan Schönherr, Suhrkamp). Zain Khalid – Bruder (Aus dem Englischen von Eva Regul, Kjona). Toine HeijmansDer unendliche Gipfel (aus dem Niederländischen von Ruth Löbner, mairisch) Sarah WinmanLichte Tage (Aus dem Englischen von Eliane Baumbach, Klett-Cotta).

Jordan TannahillDas Summen (aus dem Englischen von Frank Weigand, Goya Lit). David HewsonGarten der Engel (aus dem Englischen von Birgit Salzmann, Folio). Lisa Weeda Aleksandra (aus dem Niederländischen von Birgit Erdmann, Kanon). Lee ColeKentucky (aus dem Englischen von Jan Schönherr). Olli JalonenDie Kunst, unter Wasser zu leben (aus dem Finnischen von Stefan Moster, mare)

Gabrielle ZevinMorgen, Morgen und wieder Morgen (aus dem Englischen von Sonia Bonné, Eichborn). Carl Nixon Kerbholz (aus dem Englischen von Jan Karsten, Culturbooks). Selva AlmadaKein Fluss (aus dem Spanischen von Christian Hansen, Berenberg). Hayley Scrivenor Dinge, die wir brennen sahen (aus dem Englischen von Andrea O’Brien, Eichborn). Karina Sainz BorgoDas dritte Land (Aus dem Spanischen von Angelica Ammar, S.Fischer).

Yara Rodrigues FowlerZwischen Himmel und Erde (aus dem Englischen von Maria Meinl, Hoffmann&Campe). Eric Vuillard Ein ehrenhafter Abgang (aus dem Französischen von Nicolas Denis, Matthes&Seitz). Anthony McCartenGoing Zero (aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié, Diogenes). Shady LewisAuf dem Nullmeridian (aus dem Englischen von Günther Orth, Hoffmann&Campe). Nela RywikováKinder der Wut (aus dem Tschechischen von Christina Frankenberg, Mitteldeutscher Verlag).

Wiederentdeckt

Mark Aldanow Der Anfang vom Ende (übersetzt aus dem Russischen von Andreas Weihe, Rowohlt). Cécile Ines LoosHinter dem Mond (aus dem Spanschen von Renate Burckhardt, Atlantis). Penelope MortimerDaddy’s gone a-hunting (aus dem Englischen von Kristine Kress, Dörlemann). Paul ZiffererDie Kaiserstadt (Reclam). Marvel MorenoIm Dezember der Wind (aus dem kolumbianischen Spanisch von Rike Bolt, Wagenbach).

National

Leander Fischer Die Doppelgänger (Wallstein). Anselm OelzePandora (Schöffling). Raphaela EdelbauerDie Inkommensurablen (Klett-Cotta). Emanuel MaeßAlles in allem (Rowohlt). Anna WarnerNormalhöhe (Harper Collins).

André HilleDie Jahreszeit der Steine (C. H. Beck). Annika BüsingKoller (Steidl). Franzobel Einsteins Hirn (Zsolnay). Demian LienhardMr. Goebbels Jazz Band (Frankfurter Verlagsanstalt). Robert SeethalerDas Café ohne Namen (Claassen).

Krimi

Erin FlanaganDunkelzeit (aus dem Englischen von Steffen Jacobs, Cornelius Hatz und Stefanie Kremer). James Kestrel Fünf Winter (aus dem amerikanischen Englisch von Stefan Lux, Suhrkamp). Adam LeBorDistrict VIII (aus dem Englischen von Jürgen Bürger). Mary Paulson EddisDas Erbe des Solomon Farthing (aus dem Englischen von Kathrin Bielfeldt, Ariadne). Carlo E. GaddaDie grässliche Bescherung in der Via Merulana (aus dem Italienischen von Toni Kienlechner, Wagenbach).

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Annie Ernaux – Der junge Mann

Ein Blick in die Schreibwerkstatt Annie Ernaux‚ und weit mehr als eine nachgereichte Gabe zur Verleihung des Literaturnobelpreises im vergangenen Jahr: ihre kurze autobiographische Erzählung Der junge Mann, die von einer Affäre genauso wie von Klassenunterschieden und dem Aufstiegsstreben erzählt.


Der Blick auf die reinen Äußerlichkeiten des Buchs lässt zunächst den Eindruck einer Mogelpackung entstehen, die ihren dünnen inneren Gehalt geschickt kaschieren soll. Gerade einmal vierzig recht spärlich und in großer Type bedruckte Seiten, dazu noch ein paar Seiten mit einer Werkauswahl der bei Suhrkamp erschienenen Bücher von Annie Ernaux, fertig ist Der junge Mann.

Ist das nicht eigentlich eher eine kleine Erzählung, die in einem Sammelband besser aufgehoben wäre, die hier mit viel Mühe und merkantilem Geschick zu einem Buch mit ambitionierter Preisgestaltung aufgeblasen wird?

Nein, auch wenn man das Buch als Leser wohl nicht länger als zehn Minuten brauchen dürfte. Denn das Buch nimmt im Schreiben von Annie Ernaux durchaus eine spannende Doppelrolle ein, ist es doch eine autobiographische Erzählung, die sich in ihr gesamtes Oeuvre einfügt und anknüpft. Zugleich ist Der junge Mann auch Werkstattbericht und Auskunft über Ernaux‘ eigenes Schreiben, der die prägenden Erzählthemen und den erzählerischen Ansatz noch einmal vor Augen führt.

Eine Affäre mit dem Zeug zum Skandal

Dabei beginnt alles wie eine umgekehrte Version von Peter Maffays Und es war Sommer.

Mein Gedächtnis lieferte mühelos Bilder vom Krieg, von amerikanischen Panzern in La Vallée, Lillebonne, von Plakaten mit General de Gaulle und seinem Käppi, von Demos im Mai 1968, und jetzt war ich mit jemandem zusammen, dessen frühste Erinnerungen bis zur Wahl von Giscard d’Estaing zurückreichten, wenn überhaupt.

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 34

Das was Tessa Hadley im vergangenen Jahr in ihrem zu Unrecht kaum beachteten Roman Freie Liebe eindrücklich aber fiktiv beschrieb, Annie Ernaux hat es in der Realität selbst erfahren. Die leidenschaftliche Affäre mit einem jungen Mann, die sie als mittelalte Frau mit einem eigentlich festen Platz im Leben beginnt. Noch einmal die eigene Studentenzeit erleben, noch einmal den Rausch des Begehrens und der völligen Hingabe. Das ist es, was sie mit dem titelgebenden jungen Mann sucht und erlebt, wobei der junge Mann in ihrer Erzählung eigentlich ein konturloser Schemen bleibt, der nicht einmal einen Namen erhält.

Annie Ernaux und der junge Student

Annie Ernaux - Der junge Mann (Cover)

Die Affäre, in die sie sich kurz vor Beginn der Jahrtausendwende stürzt, ist dazu angetan, gesellschaftlich den Stab über sie zu brechen. Denn wenn sich ein Mann eine deutlich jüngere Geliebte nimmt oder sich in eine Affäre stürzt, dann ist das etwas, das gesellschaftlich kein Aufsehen erregt und weithin akzeptiert ist. Der umgekehrte Fall hingegen ist weitaus mehr dazu angetan, Aufsehen und offene Ablehnung hervorzurufen. Das muss auch Annie Ernaux selbst erleben, nicht nur am Strand von Capri, wo sie mit ihrem jugendlichen Geliebten den Sommerurlaub verbringt.

Sie mit 54 Jahren in der Menopause, er ein junger Student ohne viel Geld in einer bescheidenen Studentenbude. Und doch stürzen sich beide mit Wucht in diese Affäre, bei der Ernaux die Wochenenden bei ihm in Rouen verbringt, wo sie auch selbst einst studierte.

Er begegnete mir mit einer Leidenschaft, wie ich sie mit vierundfünfzig Jahren noch bei keinem Mann erlebt hatte.

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 17

Die Affäre mit dem jungen Studenten wird zugleich zum Portal in ihre eigene Vergangenheit, wenn in der Wohnung zum Liebesspiel Musik der Doors erklingt und sie in ihrer postkoitalen Ermattung auf der am Boden liegenden Matratze auf das gegenüberliegende ehemalige Krankenhaus Hôtel-Dieu blickt, in dem sie einst 1963 eine Abtreibung vornehmen ließ (was sich so wieder wunderbar ins Oeuvre Ernaux‘ einfügt, schließlich erzählte sie bereits in Das Ereignis von dieser Erfahrung).

Re-Enactment der eigenen Studentenzeit

Der junge Mann dient Annie Ernaux zum Re-Enactment ihres eigenen Lebens, ihrer Studentenzeit und jener Phase, mit der sie als arrivierte und gebildete Autorin eigentlich schon längst abgeschlossen hatte.

Mit ihm durchlief ich alle Alter des Lebens, alle Alter meines Lebens

Annie Ernaux – Der junge Mann, S. 21

Neben der Leidenschaft und der Zeitreise zurück in ihre eigene Studentinnenzeit zeigt ihr die Affäre aber auch ihr eigenes Vorankommen in der französischen Gesellschaft auf. Denn während der junge Mann in Armut lebt und sich mit kreativen Spartricks über Wasser hält, ist es doch ein gesellschaftlich gesetztes Leben, das Ernaux führt. Zwei Kinder mit einem Lehrer, akademische Bildung, literarische Erfolge als Autorin, alles ist da. Im Kontakt zu ihrer Affäre, der aus dem Prekariat stammt, dieses aber mitsamt sämtlicher habituellen Gepflogenheiten vom ostentativen Nicht-Wählen bis hin zu mangelnden Tischmanieren gar nicht ablegen will, kommt sie sich wie eine Bildungsbürgerin vor, die längst einen intellektuellen, aber vor allem sozialen Abstand zum Milieu und Habitus der Studentenwelt gewonnen hat.

So dient ihr die Affäre auch zur Selbsterkundung und zur Betrachtung des eigenen Lebensweges, auf dem sie mit dem jungen Studenten noch einmal mehr als nur einige Schritte zurückmacht, ehe die Affäre dann mit dem Beginn des neuen Jahrtausends endet. Die Klassenunterschiede, die in dieser Affäre offenbar werden, sie sind sowieso ein Lebensthema im Schreiben der Autorin – und in diesem Text wird das erneut ganz deutlich.

Die Poetik von Annie Ernaux‘ eigenem Schreiben

Was dieser Text zudem deutlich zeigt, das ist, wie Ernaux schreibt und ihre Poetik funktioniert. Denn das Konzept ihres Schreibens und ihres schreibenden Selbstverständnisses ist diesem Buch vorangestellt:

Wenn ich die Dinge nicht aufschreibe, sind sie nicht zu ihrem Ende gekommen, sondern wurden nur erlebt.

Annie Ernaux – Der junge Mann

Das beweist der Text ganz deutlich. Denn die Französin gesteht, dass sie den Abschluss eines Lebensabschnitts oder Erlebnisses braucht, um ihn schreibend zu verarbeiten. So ist die sich auflösende Beziehung zu dem jungen Studenten Ausgangspunkt für den Erfolg ihres Schreibprojekts über ihre eigene Abtreibung (wobei sie das Abstoßen des Fötus mit dem Abstoßen von der Beziehung mit dem Studenten engführt). Erst wenn etwas vorbei ist, dann kann etwas die Verschriftlichung beginnen. Das zeigt auch Der junge Mann und ist dadurch so etwas wie ein Schlüssel zum literarischen Selbstverständnis der Nobelpreisträgerin und das rechtfertigt in meinen Augen auch die große Form der Aufmachung, die keinesfalls eine Mogelpackung, sondern ein Schlüsseltext zum Werk von Annie Ernaux ist.

Fazit

Selbstbeschreibung und Selbsterkundung in einer Welt mit festgeschriebenen Rollenbildern, das Zertrümmern von Tabus, die radikale Offenheit, sie zeichnen Annie Ernaux‘ Schreiben aus. Und in Der junge Mann tritt genau das ganz deutlich zu Tage. Deshalb ist der Text weit mehr als nur ein kleiner literarischer Baustein im Gesamtgefüge von Ernaux‘ Werk, sondern ein zentraler Pfeiler, der ihr Schreiben und ihren Blick auf die Weltkonzentriert bündelt. Der Text zeigt fokussiert die schriftstellerischen Anliegen und Themen im Werk der Nobelpreisträgerin. Mit ihrem neuesten Buch erklärt uns Annie Ernaux, wie sie die Welt sieht und beschreibt. Und nicht zuletzt zeigt Der junge Mann, wie viel in einem kleinen Textkondensat stecken kann.


  • Annie Ernaux – Der junge Mann
  • Aus dem Französischen von Sonja Finck
  • ISBN 978-3-518-43110-8 (Suhrkamp)
  • 48 Seiten. Preis: 15,00 €
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Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen

Wie Schlafwandler schienen dem australischen Geschichtsprofessor Sir Christopher Clark die Figuren, die mit ihrem Handeln den Ersten Weltkrieg auslösten. Folgerichtig gaben sie seinem großen Werk über die Hintergründe jenes Ersten Weltkriegs den Titel. Und auch Raphaela Edelbauer scheint sich für ihren neuen Roman Die Inkommensurablen Inspiration bei Christopher Clark geholt zu haben. Denn ihr Roman, der das vielgestaltige Wien am Vorabend des Großen Krieges porträtiert, hat ebenfalls das Schlafwandeln als Motiv gewählt, obschon es hier nicht nur die Protagonist*innen ergreift, sondern bei der Lektüre das ein ums andere Mal auf den Leser oder die Leserin überzuspringen scheint.


Dabei beginnt alles wie eine Art Pastiche des mittlerweile schon zum modernen österreichischen Klassiker gereiften Roman Der Trafikant von Robert Seethaler. Ein junger vaterloser Mann kommt aus der österreichischen Provinz (hier Tirol) per Bahn in das überbordende Wien, das kurz vor dem Ausbruch eines Weltkriegs steht. Er macht in der überfordernden Stadt Bekanntschaft mit neuen Freund*innen und sucht – im Gegensatz zu Franz Huchel, dem Helden von Seethalers Buch – aktiv die Berührung mit dem Fach der Psychoanalyse.

Angekommen im Wien, der Stadt der Psychoanalyse

Doch so überschaubar wie die Schauplätze und die Handlung des Seethaler’schen Trafikanten bleibt Raphaela Edelbauers Buch mitnichten. Vielmehr sind es vier ganz unterschiedliche Figuren, die im Mittelpunkt des Romans stehen, darunter eben jener Bauernbub namens Hans Ranftler, den die Österreicherin mit einem großartigen ersten Satz einführt, der gekonnt Ton und Thema des Folgenden setzt und dem der Schlaf schon eingeschrieben ist.

Es war sechs Uhr zweiundreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k.u.k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 9

Vaterlos geworden und auf dem Land an der intellektuellen Dumpfheit des Landlebens leidend zieht es Hans ins brodelnde Wien, wo er unbedingt die Praxis der Psychoanalytikerin Helene Cheresch aufsuchen möchte. Denn Hans ist überzeugt, eine Gabe zu besitzen, die ihn seit fünf Jahren begleitet. Ständig sprechen die Menschen um ihn herum Gedanken aus, die er kurz zuvor noch in seinem Kopf hatte. Mithilfe der Psychoanalyse erhofft er sich Aufschluss über diesen Zustand.

Raphaela Edelbauer - Die Inkommensurablen (Cover)

Dort in der Praxis der Psychoanalytikerin macht er die Bekanntschaft der gegensätzlichen Freunde Adam und Klara, die ihn kurzerhand unter ihre Fittiche nehmen.

Adam entstammt hohem österreichischen Adel und wohnt privilegiert im familieneigenen Palais Jesenky, Gasbadeofen und George-Gedichtbände in der Hausbibliothek inklusive. Mit anderen Gleichgesinnten hat er den Jungen Wiener Kunstverein begründet, geigt in einem Streichquartett experimentelle Werke von Schönberg, op. 10, und ist bei Helene Cheresch in Behandlung, weil er immer wieder Dinge aus der Vergangenheit oder anderen Ländern vor sich sieht, von denen er eigentlich keine Ahnung haben dürfte.

Klara hingegen entstammt dem Proletariat und hat sich mit ihrer Begeisterung für die Psychoanalyse von Helene Cheresch und den anderen bedeutenden Wiener Kapazitäten auf diesem Gebiet bis zum Rigorosum emporgearbeitet, das am nächsten Tag ansteht.

Verbunden durch den gemeinsamen Ankerpunkt der Psychoanalytikerin lassen sich die drei jungen Menschen im Folgenden durch ein Wien treiben, das einem Tollhaus gleicht.

Ein Tollhaus namens Wien

Egal ob bei der Probe in der Musikakademie, Beratungen des militärischen Stabs im Palais Jesenky, im Bordell, bei einer heroininduzierten Seance inklusive Medium in der Kanalisation unter Simmering oder auf den Straßen der Hauptstadt. Überall manifestiert sich ein luzides Gefühl von Anspannung, das mal in Euphorie, mal in Taumel, mal in Gewalt umschlägt und angesichts dessen an so etwas wie Schlaf eigentlich überhaupt nicht zu denken ist.

So prügelt sich Adam durch gezielte Reizungen seiner Mitspieler während der Proben des Streiquartetts. Die Mobilmachung steht kurz bevor, das Militär ruft nach jungen Männern. Burschenschafter trommeln und die Presse überschlägt sich mit Eilmeldungen und Kriegseintrittserklärungen am Vorabend des Kriegsbeginns. Alles gleicht hier einem Tollhaus.

Und als ob dieses Brummen, Blitzen und Vibrieren noch nicht genügen würde, ist da auch noch zusätzlich die Geschichte des sogenannten Säkulumclusters, der Helene, Klara und Adam beschäftigt und mit dem ein deutlicher Anklang an die Serie Sense 8 der Wachowskis in die Handlung einzieht.

Denn zugleich scheinen tausende Menschen in ganz Europa die selbe Szene eines verlassenen Dorfs zu träumen. Jeder dieser Träumenden sieht allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der Traumrealität, während Klara als Einzige durch die ganze somnambule Szene wandern kann. Das macht sie zu einem Ziel der sogenannten „Traumjäger“, die dem Geheimnis des träumenden Clusters auf die Spur kommen möchten.

Eine herausforderne Mischung in expressiver Tradition

Was hier in seiner Verquickung aus Studie des Wiens am Vorabend des Weltkriegs, einer Studie Wiens als Hort der Psychoanalyse und als literarischer Stadtkarte sowie der Geschichte des Traumclusters schon wild klingt, wird in der Praxis dann tatsächlich noch wilder. Denn Raphaela Edelbauer schickt ihre Figuren nicht nur quer durch die Bezirke Wiens, vom proletarischen Florisdorf bis in die Salons der Oberschicht bis hinab in die Kanäle der Unterwelt. Vielmehr bringt sie in das Geschehen in Die Inkommensurablen auch verschiedene Spielformen des Erzählens ein.

Neben der ganzen Stadt- und Milieuerkundung in Echtzeit (die Handlung erstreckt sich über etwas mehr als einen Tag) ist dieses Buch auch eines, in dem wahnsinnig viel gesprochen wird. Alle diskutieren, debattieren, streiten, verteidigen, dozieren, fordern, locken oder schreien. Das führt neben vielen ausführlichen Gesprächsszenen und sachbuchartigen Exkursen über Momente der Wiener Bau- und Stadtgeschichte sogar dazu, dass Edelbauer nicht davor zurückschreckt, seitenweise die Rigorosum-Vorlesung Klaras in ihrer ganzen höchst anspruchsvollen Verschränkung von Philosphie und Mathematik über die Natur der inkommensurablen Zahlen aufzubieten, was mich als einfachen Romanleser zugegeben etwas überfordert hat.

Hervorragend gelingt es Edelbauer aber, die ganze Vielgestaltigkeit von Kriegsrhetorik, gesellschaftlicher Erregung, expressionistischem Überschwang, Kunst, Psychoanalyse und schlussendlich Wien selbst in einen überbordenden und herausfordernden Roman zu packen, bei dem man sich manchmal fühlt, als würde man durch eine Traumlandschaft wandeln.

Ein Roman, den sie sie am Ende sogar noch zu einer Betrachtung über den Charakter der Massensuggestion ausbaut und damit die Frage in den Raum stellt, inwieweit das von Christopher Clark als Schlafwandeln getaufte Verhalten im Vorfeld des Kriegs vielleicht sogar ein bewusste herbeigeführtes Ereignis per Massensuggestion war, das Österreich-Ungarn, ganz Europa und schlussendlich die halbe Welt in einen blutigen und verlustreichen Krieg stürzte.

Schlafwandler waren sie.

Die Lichter im Raum waren alle zur selben Zeit angegangen, und der Spuk hatte sich schlagartig verflüchtigt wie eine auseinanderfallende Dunstwolke. Für einen Augenblick konnten sie alle dieses Nebeneinander nicht fassen. Sie fanden keine Worte, und die Worte fanden nicht sie.

Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen, S. 263 f.

Fazit

Es gelingt Raphalea Edelbauer in ihrem neuen Roman Die Inkommensurablen von der Mobilmachung bis zur Psychoanalyse eine Vielzahl an Themen miteinander zu verquicken, die sie sprachlich herausragend ausgestaltet. Indem sie den (scheinbar) historischen Stoff mit modernen Erzählmitteln aufbereitet, wie man auch aus zeitgenössischen Produktionen wie dem schnittlosen Echtzeitfilm Victoria oder eben der schon genannten Serien Sense 8 kennt, gerät das Ganze zur atemlosen, überbordenden und so manches Mal auch verwirrenden Angelegenheit.

Was ist Traum, was ist Realität? Sind wir am Ende doch nur alle Schlafwandler, die als Teil des Säculumclusters von Raphaela Edelbauer durch ein elektrisiertendes und vibrierendes Wien gejagt werden, hinter dessen Ecken jede Menge Anspielungen von Hugo von Hoffmannsthal bis bis zu Graham Greenes Der dritte Mann lauern? So oder so bleibt festzuhalten, dass sich Raphaela Edelbauer auch mit ihrem dritten Buch als unberechenbare Erzählerin erweist, deren Talent auf keinen Fall auf Einbildung beruht. Ein wirklich inkommensurables Buch!


  • Raphaela Edelbauer – Die Inkommensurablen
  • ISBN 978-3-608-98647-1 (Klett-Cotta)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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