Brian Selfon – Nachtarbeiter

Goya? Diesen Namen kannte man bislang wohl nur von Hörbüchern, die unter dem Dach der JUMBO Neue Medien & Verlag GmbH erschienen. Doch nun hat man sich zur Expansion entschlossen und betritt nun im Frühling 2022 erstmals den Markt des gedruckten Wortes. Einer der ersten Titel aus dem Verlag ist der Titel Nachtarbeiter von Brian Selfon. Darin widmet er sich den dunklen Seiten Brooklyns und erzählt vom florierenden Geldwäscheunternehmen von Shecky Keenan, das plötzlich unter erheblichen Druck gerät.


Henry, Kerasha, Shecky. Sie sind die Nachtarbeiter. Shecky Keenan hat ein ausgeklügeltes System aus Boten, Konten und falschen Spuren geschaffen, mithilfe dessen er Schwarzgeld wäscht. Im Brooklyn zwischen Kunstgalerien, Bars, Armut und Szenekneipen hat er sich damit seine eigene berufliche Lücke geschaffen. Seine Ziehkinder Henry und Kerasha unterstützen Shecky bei seinem Tun und Treiben.

Henry hat ein Problem, seine Gewalttätigkeit zu kontrollieren. Kerasha ist heroinabhängig beziehungsweise gerade auf Entzug. Höchst widerwillig befindet sie sich in Therapie, um die Traumata ihrer Vergangenheit und Herkunft aufzuarbeiten. Und dann ist da noch Emil, ein aufstrebender Künstler, den Henry auf einer Vernissage kennenlernt und der etwas in Henry anrührt. Er will ihn als Boten in das Geldwäschesystem seines Ziehonkels einführen – doch schon nach kurzer Zeit ist Emil tot.

Nachtarbeiter unter Druck

Brian Selfon - Nachtarbeiter (Cover)

Von dieser Tat ausgehend beginnt Brian Selfon seinen Roman, der immer wieder in Zeitsprüngen vor oder zurück von den Hintergründen zum Tod Emils erzählt. Die Nachtarbeit von Shecky steht eh schon unter keinem guten Stern, da immer wieder Konten gesperrt sind und stets das gleiche Auto vor seinem Haus parkt. Es scheint, als hätte jemand das florierende System ins Visier genommen – und jetzt ist auch noch ein Bote tot. Da stellt sich die Frage, wer Shecky ans Leder möchte.

Brian Selfon hat einen Roman geschrieben, der sich auch aus dessen eigener beruflicher Vergangenheit speist. So ist er selbst in der Strafjustiz tätig und war als Ermittlungsanalytiker für das Büro des Bezirksstaatsanwalts in Brooklyn tätig. Dass er sich mit den dunklen Seiten des New Yorker Stadtteils auskennt, das zeigt Nachtarbeiter eindrücklich. Denn ihm gelingt ein Krimi Noir, der sowohl durch sein vielschichtiges Bild der Halbwelt als auch durch den Blick auf seine Figuren überzeugen kann.

Sprünge in der Zeit und der Perspektive

Immer wieder wechselt Selfon die Perspektive, erzählt aus Sicht von Shecky, Kerasha oder Henry, zeichnet ihre Abhängigkeiten und Abgründe nach. Er springt zeitlich hin- und her, zeigt die Verstrickungen der Figuren in ihre eigene Vergangenheit und schildert das alles in einer derben, direkten und schnörkellosen Sprache (Übersetzung durch Sabine Längsfeld).

Man muss genau am Ball bleiben, um die Hintergründe zum Mord an Emil und die mannigfaltigen Probleme der Nachtarbeiter*innen geordnet zu bekommen. Denn neben den drei flirrenden und ambivalenten Figuren gibt es auch noch eine Ermittlerin namens Zera Montenegro, die noch einmal ganz eigene Verbindungen zu dem Fall hat und die langsam in die Handlung eingebunden wird.

Fazit

Wer klassisch erzählte Krimis mit übersichtlichem Personaltableau, klarem Fall und Motiv sowie eine wohlstrukturierte Tätersuche schätzt, der sollte die Finger von Nachtarbeiter lassen. Vielmehr ist das Buch die komplexe Schilderung einer schwierigen Familie, in der das Misstrauen mindestens ebenso groß ist wie der Zusammenhalt. Das Buch ist in manchen Passagen geradezu ein Wimmelbild des nächtlichen Brooklyns, erzählt von halbseidenen Gestalten, Psychotherapiesitzungen und problembeladenen Hauptfiguren. Das ist manchmal unübersichtlich, dann wieder mitreißend und erinnert in seinen besten Momenten an die Erzählungen von Peter Temple oder James Ellroy.

Es ist ein spannender Debütant, den uns Goya hier im ersten Belletristikprogramm präsentiert. Neben dem Noir von Brian Selfon gibt es ansonsten hier noch Erzählungen aus Kanada, Irland oder der deutschen Provinz zu entdecken. Man darf gespannt sein, was hier noch so alles zu erwarten ist!


  • Brian Selfon – Nachtarbeiter
  • Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Längsfeld
  • ISBN 978-3-8337-4425-9 (Goya)
  • 368 Seiten. Preis: 22,00 €

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Jackie Polzin – Brüten

Manchmal treibt der Buchmarkt schon kuriose Blüten. Da erscheinen innerhalb weniger Wochen zwei Bücher von Debütantinnen auf dem deutschen Buchmarkt, beide aus Nordamerika und beide mit dem gleichen, recht spezifischen Thema. Beide erzählen von der Hühnerzucht und dem Schicksal von weiblichen Figuren, die sich mit der Aufzucht und Hege von Hühnern beschäftigen müssen. Doch wo Deb Olin Unferth von den Abgründen der industriellen Hühnerzucht erzählt, konzentriert sich Jackie Polzin ganz auf das Private.

Sie erzählt von einer Frau in einem Vorort Minnesotas und ihrem Kampf um die vier Hühner im eigenen Garten. Dabei kombiniert sie die tierische mit menschlicher Nachwuchsplanung und betrachtet das Brüten, das Vögeln und Menschen verbindet. Kühn, aber in meinen Augen durchaus gelungen.


Sie heißen Hennepin County, Darkness oder Gam Gam und sind der ganze Stolz der namenlosen Ich-Erzählerin. Zusammen mit ihrem Mann Percy, einem Akademiker auf Jobsuche, lebt sie in einem Vorort von Minnesota und teilt sich ihr Zuhause mit vier Hennen. Die Hege und Pflege der vier Hühner widmet sich die Erzählerin mit viel Hingabe. Beginnend im Winter bei großen Minustemperaturen, denen nur mit einer Wärmelampe beizukommen ist bis hinein in den Sommer, in denen Habichte und Waschbären den Hühnern zusetzen, erleben wir chronologisch ein Menschen- und Hühnerjahr.

Zu den Schilderungen der Pflege der Hühner gesellen sich zunächst nur spärlich hingetupfte Informationen über die Erzählerin und ihren Mann. Die Nachbarn, ihre Mutter, Percys langwierige Berufungsverfahren als Lehrender – all das wird nur in kurzen, wohldosierten Informationen eingestreut. Erst langsam schält sich aus den Impressionen der Grund heraus, warum sich die Erzählerin so auf die Aufzucht der Hühner und ihr Brutverhalten fokussiert. Dabei ist der Titel Brüten angenehm vieldeutig und lässt sich auf das menschliche Verhalten übertragen, wenngleich das Huhn auf dem Cover eine Verengung des Themas signalisiert, die dem Buch selbst völlig fernliegt.

Menschliche Hühner und tierische Menschen

Jackie Polzin - Brüten (Cover)

Was verbindet uns in der Aufzucht von Nachwuchs? Wie bauen wir uns ein Nest und wie gehen wir mit Verlusten um? Indem die Erzählerin ganz genau auf die Hühner blickt, erzählt sie uns auch ganz viel von sich selbst. Zudem vermag es Jackie Polzin genau und eindringlich zu erzählen, sodass der Besuch eines Waschbären am Hühnerstall hier zu einer existenzerschütternden Erfahrung wird, die neben dem Huhn auch die Erzählerin und ihren Mann völlig aus der Bahn wirft.

Angesichts der Tatsache, dass es schon einen großartigen Roman über Hühner in diesem Frühjahr gibt, stellt sich natürlich aber auch die Frage, ob es dann einen zweiten Roman mit einer ähnlichen Thematik braucht. Diese Frage würde ich auf alle Fälle bejahen, eröffnen sich doch auch ganz reizvolle Perspektiven und Betrachtungen, wenn man die beiden Bücher in ihrer Themensetzung und Ausgestaltung miteinander vergleicht.

Hühner als literarisches Trendthema

So wählt Deb Olin Unferth den Ansatz, von der Mikroebene eines einzelnen freilaufenden Huhns auf die ganze Fülle von Legebatterien zu zoomen. Jackie Polzin geht den genau umgekehrten Weg. Während sie ihr Jahr mit vier Hühnern beginnt, werden es im Lauf des Jahres durch äußere Einflüsse immer weniger Hennen, was eine immer stärkere Bindung der Erzählerin an die Tiere hervorruft.

Während bei Deb Olin Unferth die industrielle Hühner- und Eierzucht und deren Kritik im Mittelpunkt steht, ist es bei Jackie Polzin das Privateste überhaupt, auf das sie sich fokussiert und von dem sie mithilfe der Hühner als Projektionsfläche erzählt. Sie benötigt keine Tierrettungsaktionen, große Figurenensembles oder Breitwandaction, um von Tier- und Menschenliebe zu erzählen. Stattdessen dominieren hier kurze Kapitel, eine minimale Personenanzahl und vier Hühner, mit deren Hilfe sie ihre Geschichte erzählt.

Eine Sprache zwischen Poesie und sprachlicher Genauigkeit

Die Sprache, mit der sie das tut, ist dabei doch manchmal erstaunlich hochspezifisch und dann doch wieder sehr poetisch (Übersetzung durch Nikolaus Stingl). So finden sich Adjetive wie intrikat oder Passagen wie die folgende:

Wenn Hühner Angst haben, suchen sie Deckung zwischen dem Haus und der Treppe, in den Spieren. Jedes Frühjahr bildet das Gesträuch eine weiße Wolke von Blüten, ansonsten jedoch ein Gewirr von Zweigen, teils Nest, teils Käfig. Die vorbeifahrenden Züge erschrecken die Hühner nicht, doch wenn auf dem Betriebshof anderthalb Kilometer entfernt gerade ein zweiter Zug anfährt, dann lässt dieser Anfahrvorgang – seine schiere chthonische Wucht – die Hühner wie angewurzelt stehen bleiben. Die Füße reglos, das Gefieder still, jeder fleischige Muskel erstarrt, ausgenommen ihre wild schlagenden Herzen und umherhuschenden Augen. Auf die gleiche Weise dringt der Zug nachts in meinen Schlaf ein, seine Geschwindigkeit vom Traum in eine hohe Wasserwand oder einen bodenlosen Abgrund verwandelt.

Jackie Polzin – Brüten, S. 144

Fazit

Man kann das Engführen von tierischem und menschlichem Verhalten und Bedürfnissen, von Eiausbrütung und Urtrieben natürlich für geschmacklos halten, möchten wir uns doch gerne über vermeintlich einfachere Tiere wie Hühner erheben. Dass wir diesen aber doch näher sind, als wir uns gemeinhin einreden, das zeigt Brüten auf literarisch anspruchsvolle wie gelungene Weise.

Jackie Polzin gelingt hier ein beachtliches Debüt, das auf verknappte Art und Weise von Tierischem und Menschlichen und dessen Überschneidungspunkten erzählt. Ihre genauen Betrachtungen eines Jahres voller Hühner, Träume und Verlust zeigt, dass auch ein vermeintlich einfaches Thema wie die Hühnerzucht viele Aspekte bereithält, die sich literarisch wunderbar aufbereiten lassen und damit auch wieder etwas über uns Menschen selbst erzählen.


  • Jackie Polzin – Brüten
  • Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
  • ISBN 978-3-423-29011-1 (dtv)
  • 208 Seiten. Preis: 20,00 €
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Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein

Es gibt manche Lektüren, die gewinnen unter dem Eindruck der Außenwelt noch einmal ganz neue Bedeutung. So erging es mir, als ich vor wenigen Tagen zu Sasha Marianna Salzmanns Im Menschen muss alles herrlich sein griff. Ursprünglich hatte ich das Buch schon seit meinem Gewinn bei einem Tippspiel in Sachen Deutscher Buchpreis im vergangenen Herbst im Regal stehen. Doch erst jetzt kam ich zur Lektüre – die durch den gerade ausgebrochenen Krieg in der Ukraine eine ganz eigene Brisanz und Wucht entfaltete.


Sie sprachen von der Arbeit, von Reisen und dem Fernsehprogramm. Gerade unterhielten sie sich über eine Serie, in der ein einfacher Lehrer aus Kiew wegen seiner Ehrlichkeit, Beharrlichkeit und Selbstlosigkeit zum ukrainischen Präsidenten gewählt wird. Ab dem Moment, als der diese verantwortungsvolle Stelle bekleidet, wird es kompliziert für den jungen Mann, weil Politik Politik ist und Politik immer kompliziert zu sein scheint, aber der Held meistert auch diese Schwierigkeiten, alles meistert er, denn er ist reinen Herzens, und am Ende gewinnen die Guten, und die Bösen sind leicht an ihren schlechtsitzenden Anzügen und dem pöbelhaften Benehmen zu erkennen. Man konnte es kaum erwarten, wie die zweite Staffel ausgehen würde.

Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein, S. 364

Der Mann, der diesen Präsidenten in der Serie spielt, ist längst selbst zum wirklichen Präsidenten geworden. Sein Name ist Wolodymir Selenskyi – der nun als Präsident der Ukraine in einem Krieg kämpft, bei dem alles andere als sicher scheint, dass die Guten am Ende gewinnen.

Dieser Krieg und seine Fülle an Eindrücken, er hat meine Lektüre von Sasha Marianna Salzmann sehr stark überlagert, vergleicht man doch unweigerlich die im Buch geschilderte Welt mit der, die uns jeden Tag in den Nachrichten begegnet. Längst sind Begriffe wie die Donbass-Region oder Namen wie Mariupol zu Schlagzeilen geworden, die dieser Tage nur noch Erschütterung und Fassungslosigkeit auslösen.

Wechselvolle Geschichten aus der Ukraine

Zwar scheinen die gewalttätigen Konflikte auf der Krim und die Donbass-Region in Salzmanns im Jahr 2017 angesiedelten Buch auch immer wieder auf, aber man muss doch konstatieren, dass sich die Welt seit dem Erscheinen von Im Menschen muss alles herrlich sein doch auf ebenso schnelle wie radikale Weise weitergedreht hat, wenngleich nicht einmal ein halbes Jahr seit dem Erscheinen des Buchs im September des letzten Jahres vergangen ist.

Sasha Marianna Salzmann - Im Menschen muss alles herrlich sein (Cover)

Dass Frieden und Akzeptanz aller Volksgruppen und Ethnien im russisch-ukrainischen Grenzgebiet nie allumfassend waren, das beschreibt Salzmann in ihrem Buch anhand zweier Frauenschicksale, die sie in den Mittelpunkt rückt.

In der ersten Hälfte ist es die Lebensgeschichte von Lena, die Sasha Marianna Salzmann in Dekadensprüngen erzählt. Lena wächst in der Ostukraine im Städtchen Gorlowka auf. Die Sommer verbringt sie bei der Großmutter in Sotschi, den Rest des Jahres lebt sie in der Donbass-Region.

Nach einer Kindheit bei den Pionieren hat sie Medizin studiert und durch ihre Tätigkeit im Krankenhaus nun ein sicheres Einkommen. Doch auch wenn Gorbatschow an die Macht gekommen ist und das Ende der alten Ordnung nahe scheint, so ist nicht alles gut. Der aufkeimende Antisemitismus bedeutet vor allem für Lenas jüdischen Mann Daniel große Probleme, sodass sie sich entschließen, nach Deutschland auszuwandern, um sich dort in Jena-Lobeda der ukrainisch-jüdischen Expatgemeinde anzuschließen.

Aus Mariupol nach Jena-Lobeda

Den zweiten Teil bildet neben der Geschichte von Lenas Tochter Edi dann die Erzählung von Tatjana, die ebenfalls aus der Ukraine nach Deutschland emmigriert ist. Ihr Schicksal, ihre Erfahrungen in der Mariupol und Deutschland bindet Salzmann mit der Fluchtgeschichte von Lena und Edis Geschichte zusammen, sodass ein vielstimmiges Bild von ukrainischem Leben in Deutschland entsteht. Sie erzählt von Hoffnungen und Enttäuschungen, die allen Frauen widerfahren sind. Die Frage der eigenen Existenz und Identität ist es, die im Mittelpunkt des Buchs steht.

Es ist kein Zufall, dass schon auf den ersten Seiten des Buchs neben Leningrader Porzellan auch eine Faunfigurine zersplittert, die sich auch auf dem Cover wiederfindet. Von Biographien bis hin zum Miteinander: hier ist alles zersprungen, gebrochen und nicht mehr wirklich zu kitten, mag auch der Chefarzt in Lenas Krankenhaus seine Untergebenen mit dem titelgebenden Tschechow-Zitat aus Onkel Wanja anherrschen, dass im Menschen alles herrlich sein müsse.

Muss es eben nicht, wie das Buch und vor allem die Gegenwart der Ukraine zeigt. Salzmanns Buch liest sich besonders vor dem Hintergrund des Leids und der gegenwärtigen Zerstörung in der Ukraine bitter. Anhand der Migrationserfahrung und der Brüche in der Biographie wird erahnbar, wie es den hunderttausenden Frauen und Kindern gerade gehen muss, die die Flucht ins Ungewisse antreten, um dem Krieg in der Heimat zu entkommen.

Fazit

Losgelöst von diesen Überlegungen und Bilder der vergangenen Wochen ließ sich Im Menschen muss alles herrlich sein für mich unmöglich lesen. Wie schon bei ihrem Erstling Außer sich zeigt Salzmann auch hier ihr Faible für Zersplittertes, sowohl im Erzählen als auch in den Figuren selbst. Gewiss, es ist kein leichtes Buch, man muss auch überlegen, ob man sich die Lektüre in diesen Tagen wirklich zumuten möchte. Es bleibt aber festzuhalten, dass die Autorin hier ein geradezu prophetisches Gespür für die Themen dieser Tage und darüber hinaus die Problematiken seit dem Umbruch in der Sowjetunion bewiesen hat.

Weitere Meinungen zu Sasha Marianna Salzmanns Buch gibt es unter anderem bei Literaturreich, Rezensöhnchen und Wild Lines.


  • Sasha Marianna Salzmann – Im Menschen muss alles herrlich sein
  • ISBN 978-3-518-43010-1 (Suhrkamp)
  • 384 Seiten. Preis: 24,00 €
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Berit Glanz – Automaton

Schon mit ihrem ersten Buch Pixeltänzer hat sich Berit Glanz als Expertin für Spurensuchen im analog-digitalen Raum und die Überführung des Digitalen in die Welt der analogen Literatur erwiesen. Das führt die 1982 geborene Autorin nun in ihrem zweiten Roman Automaton fort und erzählt von trister Klickarbeit und einer Spurensuche in der technisch globalisierten Welt.


Wohl schon jeder hat sie einmal gesehen, wenn man sich häufiger im Netz bewegt und bestimmte Suchaufträge oder Webseiten konsultiert: die Rede ist von Captchas. Es handelt sich um mehrere kleinformatige Bildkacheln, die hinsichtlich bestimmter Kriterien angeklickt werden sollen, damit ausgeschlossen werden kann, dass ein Computer anstelle einer Maschine eine Anfrage gestellt hat. Meist muss man alle Bildkacheln, auf denen Autos oder Palmen oder Ähnliches zu sehen sind, markieren, um dem Abfragetool zu versichern, dass hier kein Roboter am Werk ist.

Früher nutzte Google solche Captchas, um die User*innen neben der Überprüfung ihrer Abfrage noch unauffällig weitere Arbeit erledigen zu lassen. So trainierten die Nutzer*innen nebenbei auch den Suchalgorithmus, indem sie lesbare Buchstaben oder andere Miniaufgaben erledigten und so die Suchmaschinen optimierten, deren Bild- und Texterkennung durch die Mitarbeit immer besser und leistungsfähiger wurden. Eine ziemlich schlaue Art, um neben der primären Authentifizierung Arbeit auf Nutzerinnen und Nutzer zu übertragen.

Neue Arbeit im Internet

Generell zeigt sich, dass durch das Internet ganz neue Tätigkeitsfelder und Arbeitsprozesse entstanden sind. Berit Glanz untermauert das in Automaton, indem sie Tiffany, genannt Tiff, in den Mittelpunkt des Buchs stellt. Früher sichtete sie von Unser*innen gemeldete Videoausschnitte und Bilder, allerdings traumatisierte die Arbeit die junge Frau zunehmend, sodass sie auf ein neues Tätigkeitsumfeld ausgewichen ist.

Berit Glanz - Automaton (Cover)

Für die gesichtslose Firma Automa erledigt sie sogenannte „Autobs“, als Miniaufträge, wie das Sichten von Bildstrecken hinsichtlich bestimmter Kriterien. Diese Mini- oder besser Microjobs ermöglichen ihr einerseits die Versorgung ihres Sohnes, andererseits verheißt die Arbeit für die Internetfirma aber auch ein Einkommen, wenngleich man es kaum so nennen kann. Denn „schlecht bezahlt“ ist eigentlich ein Euphemismus für das, was Tiff für ihre Arbeit erhält. Oftmals sind es nur wenige Dollar und Cents, mit denen die genauen Sichtungen und Verschlagwortungen von Bildstrecken oder Videos dotiert sind.

Tiff kann so als Alleinerziehende zwar ihre Arbeitszeit um die Betreuung ihres Sohnes herum gruppieren. Zum Lebensunterhalt reicht das allerdings kaum aus und ist in aller Monotonie und Einsamkeit wenig sinnstiftend.

Ein Auftrag für den Subunternehmer ExtraEye verheißt in der ganzen Tristesse der Klickarbeit da etwas Sicherheit. Tiffany soll Überwachungsvideos hinsichtlich des Auftauchens von Menschen oder Tieren sichten. Mal sind es Videos aus Häfen, mal aus Warenlagern oder Firmenfluren. 6 Dollar gibt es für die Sichtung von 30 Filmminuten. Geld, auf das Tiff dringend angewiesen ist und das im Vergleich zu den anderen Microjobs wie ein echter Jackpot wirkt.

Und so beginnt sie mit der Sichtung der Videos und tauscht sich trotz unterzeichneter Geheimhaltungserklärung nebenbei mit Gleichgesinnten aus, die ebenfalls an Aufträgen für ExtraEye arbeiten. Als dann aber ein Obdachloser verschwindet, der sonst regelmäßig in den Videos auftauchte, schließen sich die Klickarbeiter*innen zusammen, um den Verbleib des Mannes zu klären.

Arbeit im Maschinenraum des Internets

Automaton erzählt von der Trostlosigkeit und Grausamkeit der Arbeit, die Menschen im Maschinenraum des Internets verrichten müssen. Wohl jeder von uns hat schon einmal anstößige oder diskriminierende Inhalte auf Webseiten oder sozialen Netzwerken gemeldet. Doch welchen Weg diese markierten Inhalte gehen, das beleuchtet Berit Glanz in ihrem Roman auf eindrucksvolle Art und Weise.

Es sind Menschen, die für viel zu geringes Geld diese abstoßenden, diskriminierenden und kriminellen Videos und Bilder sichten und sortieren müssen. Menschen, die angesichts des beständigen Stroms an verstörenden Inhalten schnell Schaden an ihrer Seele nehmen. Glanz muss nicht alles ausbuchstabieren, um durch das Schicksal von Tiffany zu zeigen, was die dunkle Seite des Internets und der Kontakt mit ebenjener Seite zur Folge haben kann.

Auch zeigt sie, wie durch die technische Globalisierung alles eins geworden ist. Distanzen zwischen Ländern und Menschen bedeuten nichts mehr, seitdem es das Internet mit seinen Möglichkeiten gibt.

Eine Suche in der technisch globalisierten Welt

Die Suche nach dem Obdachlosen verknüpft Glanz mit der Geschichte einer Frau in Kalifornien und zeigt, wie die Suche nach Menschen durch das Internet eine ganz neue Dynamik gewonnen hätte. Früher wäre es unmöglich gewesen, von Deutschland aus den Verbleib eines Obdachlosen in Amerika und den dessen Hundes zu klären. Was früher wohl eine personal- und ressourcenintensive Arbeit von bisweilen Jahren gewesen wäre, funktioniert in Zeiten des Internets mithilfe einiger Verbündeter und passender Suchstrategien in wenigen Stunden bis Tagen. Welche Chancen, aber auch Risiken in diesem Datennetz namens Internet stecken, das beweist Automaton auf eindrucksvolle Art und Weise.

Es gelingt Berit Glanz dabei aber auch wieder hervorragend, die Welt des Digitalen und des Internets mit ihrer ganz eigenen Syntax aus Twitterfeeds, Chats und Begrifflichkeiten in einen überzeugenden Roman zu überführen. Die technische Welt der Klickarbeit wird bei ihr spürbar, Chats ergänzen und beschleunigen die Handlung sinnig – und auch die Verschmelzung der über weite Strecken recht disparat wirkenden beiden Erzählstränge um Tiff und eine Frau in Kalifornien verbinden sich in Automaton zum Ende hin sinnstiftend.

Fazit

So ist Automaton ein eindrucksvoller Roman, der von der Arbeit im Maschinenraum des Internets erzählt, von prekären Beschäftigungsverhältnissen, Einsamkeit, Ausgrenzung, aber eben auch von dem potentiell Guten, das im Internet und ins uns allen steckt. Ein Buch, das angenehm vielschichtig und ambivalent an sein Thema herantritt und das Berit Glanz‘ Rang als Spezialistin für analog-digitale Literaturräume und Spurensuchen untermauert.

Weitere kluge Analysen zum Buch gibt es unter anderem bei Kulturgeschwätz und Bookster HRO.


  • Berit Glanz – Automaton
  • ISBN: 978-3-8270-1438-2 (Berlin Verlag)
  • 28 Seiten. Preis: 22,00 €

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Archil Kikodze – Der Südelefant

Ich finde mich auf der Cinamzgvrischwili-Straße wieder. Für meine heutige Route gab es von Anfang an keinen Plan, aber nachdem ich dem Haus einen Besuch abgestattet habe, wird sie noch chaotischer. Jetzt will ich heim, aber bei mir ist ja Tazo, und zum ersten Mal an diesem Tag, zum ersten Mal im Leben bin ich von ihm genervt, so sehr verlangt es mich danach, mich auf mein Sofa fallen zu lassen, das Telefon, den Rechner, das Internet abzuschalten, mich abzuwenden von allem und andertalb Tage lang bloß an die Decke zu starren.

Bis heute Abend wird all dies jedoch nicht möglich sein, und ich bezweifele, ob ich es heute Abend hinkriege, lange vom Rechner fernzubleiben. Und so werde ich herumlaufen, bis es so weit ist, werde frische Luft schnappen.

Archi Kikodze – Der Südelefant, S. 184

Ein Mann wandert durch Tbilisi. Seine Wohnung hat er einem alten Freund für ein Tête-a-tête zur Verfügung gestellt und nun durchmisst er die Straßen und Gassen der georgischen Hauptstadt – und seine eigenen Erinnerungen.


Schon früh morgens verlässt der Erzähler sein Heim, das er seinem alten Freund Tazo zur Verfügung gestellt hat. Von seiner Nachbarschaft aus wandert er in den nahegelegenen Park, trifft alte Bekannte, kehrt in Cafés und McDonalds-Filialen ein, immer in Begleitung seines Handys, seines Androiden, wie er es nennt. Ihn treiben die Erinnerungen an seine Ex-Frau und seine Tochter um, seine eigene Familiengeschichte, sein Werdegang als Regisseur, seine Freundschaften und die Vergangenheit, die sich in Tbilisi an allen Ecken und Enden offenbart.

Ein wacher Verstand ist vonnöten

Archil Kikodze - Der Südelefant (Cover)

Der Südelefant ist ein Buch, das man mit wachem Verstand lesen muss, und das keine Unaufmerksamkeit verzeiht. Archil Kikodze hat ein ungemein dichtes Textgewebe angefertigt, bei dem innere und äußere Handlung beständig ineinanderfließen, sich Erinnerungsschichten überlagern und die Gedanken immer wieder abschweifen. Das macht die Lektüre spannend, aber eben auch wirklich fordernd. Genauso wie bei einem Stadtspaziergang lohnt es sich, mit offenen Augen und offenem Geist durch Kikodzes Tbilisi zu wandern. Und wie bei einer interessanten Stadt würde ich behaupten, dass man auch beim ersten Besuch in diesem literaturgewordenen Straßen- und Erinnerungslabyrinth keinesfalls alles erfasst.

Dieses Buch lädt dazu ein, es ein oder vielleicht sogar noch zweimal hintereinander zu lesen, um die Abschweifungen und Bezüge wirklich zu erkennen. Denn Archil Kikodze mutet den Leser*innen einiges zu. Er geht bis in die Zeit des georgischen Bürgerkriegs zurück, erzählt von den verschiedenen Einflüssen auf die Stadt und ihre Bewohner*innen

Ein Blick auf Tbilisi und Georgien

Denn wenn Der Südelefant etwas zeigt, dann das: Tbilisi und Georgien im Ganzen ein heterogenes Land, das vielen Verwerfungen und Veränderungen unterworfen war und ist. Mingrelien, Abchasien, Swanetiens – alle diese Regionen haben Einfluss und prägen den Charakter von Tbilisi, den des Landes und den des Erzählers, dessen wechselvolle Vergangenheit sich erst langsam aus dem Text herausschält. Die Beziehung zu seinem Kind, sein Schaffen als Regisseur, sein Scheitern, all das enthüllt sich allmählich und braucht jenen schon angesprochenen wachen Geist, um alles zu erfassen. Wer vor solcher Leseearbeit zurückschreckt, der wird mit Archil Kikodzes Buch freilich nicht glücklich werden.

Alle anderen, die Herausforderungen bei der Lektüre zu schätzen wissen und ein Buch auch zur Wiederlektüre zur Hand nehmen, sei dieses Buch ans Herz gelegt, gerade eingedenk der Tatsache, dass georgische Literatur hierzulande ja normalerweise selten erhältlich ist und uns hier ein kluger und gebildeter Erzähler an die Hand nimmt und durch die Stadt strawanzt.

Schön, dass dieses Buch im Rahmen von Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse 2018 von Nino Haratischwili und ihrem Mann Martin Büttner aus dem Georgischen ins Deutsche übertragen wurde. Da verzeiht man auch kleine Inkonsistenzen in der Übersetzung, etwa wenn einmal vom Fangesang der Anhänger des FC Liverpool die Rede ist, die Liverpool, du bist nicht alleine singen, und in einer anderen Erinnerungspassage dann aber das bekannte „You’ll never walk alone“ anstimmen.

Fazit

In der Tradition großer Flaneurs- und Tagesromane, allen voran natürlich James Joyce‘ Ulysses ist Der Südelefant von Archil Kikodze ein anspruchsvoller Roman, der wie ein literaturgewordenes Schlüsselloch funktioniert, das uns in Form dieses Tbilisi-Spaziergangs einen Blick auf Georgien und dessen wechselvolle Geschichte erlaubt. Außergewöhnliche Literatur, die es ohne Georgien als Gastland der Frankfurter Buchmesse wahrscheinlich nicht ins Deutsche geschafft hätte – gut so, dass das geschehen ist!


  • Archil Kikodze – Der Südelefant
  • Aus dem Georgischen von Nino Haratischwili und Martin Büttner
  • ISBN 978-3-550-08197-2 (Ullstein)
  • 272 Seiten. Presi: 22,00 €
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