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Vincenzo Latronico – Die Perfektionen

Macht ein instagramables Leben in einer Berliner Altbauwohnung mit Möbeln von Modulor, stahlgebürstetem Espressokocher auf der Kochinsel und dem richtigen Lichteinfall wirklich glücklich? Vincenzo Latronico dekonstruiert in seinem neuen Roman Die Perfektionen kunstvoll die Lebensentwürfe zweier junger Menschen und zeigt die Sinnsuche eines typischen Paars der Generation New Work.


„Vincenzo Latronico hat den Berlinroman wiederauferstehen lassen – lakonisch, satirisch, glänzend.“

Rückumschlag von Die Perfektionen

Mit diesem Zitat lässt sich Theresia Enzensberger auf dem Umschlag des neuen Romans von Vincenzo Latronico zitieren und man muss sich schon fragen, wie Theresia Enzensberger zu ihrem Befund des nach ihren Worten des bislang toten Berlinromans gelangt. Egal ob Anke Stelling, Lutz Seiler, Johannes Groschupf, Eva Lapido oder gefühlt die Hälfte der Nominierungen des Deutschen oder Leipziger Buchpreises in den vergangenen Jahren. Von einer Flaute des Berlinromans konnte und kann man nicht sprechen. Vielmehr ist dieses Genre doch eines der vitalsten in der deutschen Gegenwartsliteratur. Aber sei’s drum.

Mit Vincenzo Latronico legt nun ein Autor einen Berlinroman vor, der zwar in Italien geboren wurde, aber seit einiger Zeit in Berlin lebt. Dass die Stadt für ihn mehr als ein schierer Wohnort ist, das zeigt Die Perfektionen beeindruckend. Denn darin durchdringt er die Stadt in ihrer ganzen Tiefe, hinterfragt das hippe Potential der Hauptstadt und legt fast so etwas wie eine soziologische Tiefenbohrung in Sachen Lebensweise, Kapital und gesellschaftlicher Bindung junger Expats vor, zu denen Latronico selbst zählt.

Expats in Berlin

Es ist noch nicht allzu lange her, da beschwerte sich das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn, dass in vielen Berliner Cafés und Kneipen die Kellner*innen eher Englisch denn Deutsch sprechen würden. Wolfgang Thierse ärgerte sich über Wecken, die ihm statt Schrippen in Bäckereien angeboten würden – und immer rufen solche medial vielfach verbreiteten anekdotischen Unmutsbekundungen ein großes Echo hervor.

Vincenzo Latronico - Die Perfektionen (Cover)

Berlin hat sich schon längst zu einer Großstadt entwickelt, die ebenso diverse Klischees kennt, wie sie unterschiedliche Bewohner*innen beherbergt. Von der nicht funktionierenden Verwaltung bis hin zu tätowierten Hipstern auf Gravelbikes, Café-Rösterei voller Latte Macchiato-Mütter, Co-Working-Spaces, Galerien und dazu noch das sagenumwobene nächtliche Clubleben vom Berghain bis zum Tresor. Manchmal hat man gar den Eindruck, dass sich diese Berlin-Erzählungen schon längst zu einem eigenen Genre verselbstständigt haben, das mit jedem Bashing und Aufreger neue Aufmerksamkeit findet.

Mit Anna und Tom stellt Vincenzo Latronico nun ein Paar in den Mittelpunkt seines Romans, das wie die Quintessenz vieler dieser Berlinklischees wirkt. Wie Latronico selbst stammen sie nicht gebürtig aus Deutschland, haben sich aufgrund des zukunftsträchtigen Images und der damals noch erschwinglichen Mieten in Berlin niedergelassen. Als Kreative sind sie zeitgleich mit dem Internet erwachsen geworden, wie es an einer Stelle des Romans heißt.

Sie machen irgendwas mit Medien und basteln für ihre Auftraggeber*innen Homepages und Stylesheets von zuhause aus. New Work in einer instagramablen Umgebung voller durchkomponierter Details und Insignien des guten Geschmacks, das kennzeichnet ihre Wohnung in Neukölln, die Latronico zu Beginn des Romans hingebungsvoll beschreibt. Angesichts dieses zugleich lässigen wie mustergültigen Interiordesigns ihrer Wohnung dauert es nie lange, bis die beiden für Urlaubszeiten über eine Vermittlungsplattform Zwischenmieter für ihre Bleibe finden.

Jung, mobil – aber ohne Sinn

Anna und Tom sind jung, mobil, unabhängig und verdienen durch ihr Tun nicht schlecht. Ihr persönliches Umfeld ist aber alles andere als stabil, da sie ein Teil der höchst fluiden Expatgemeinde sind. Sie sind in den Kiezen unterwegs, kennen sich in Berlin aus und lassen sich durch die Nächte treiben. Sie besuchen Clubs und fallen wie Heuschrecken bei den neuesten Galerieeröffnungen ein (die dann in der Expatgemeinde ob ihrer Beliebtheit informell schon mal als „Italienische Botschaft“ getauft werden, so sehr ziehen sie ihr globales Expat-Publikum an).

Statt Deutsch ist Englisch die Konversationssprache der beiden Berliner*innen und ihres Umfelds, womit sie Jens Spahn höchstwahrscheinlich entzürnen dürften. Und auch vom Unterschied zwischen Wecken und Schrippen haben sie noch nichts gehört. Ihre Lebensrealität ist eine ganz andere.

In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen. In gewissem Sinne hatten sie sich radikalisiert. Sie sprachen ein wackeliges Englisch mit anderen, deren Muttersprache ebenfalls eine andere war. Sie lebten in einer Welt, in der alle eine Line Koks annahmen, aber niemand Arzt oder Konditor oder Taxifahrer oder Mittelschullehrer war. Sie zogen ausschließlich durch Wohnungen voller Pflanzen und durch Cafés mit eiwandfreiem WLAN. Auf lange Sicht kam man zu dem unvermeidlichen Schluss, dass es nichts anderes gab.

Vincenzo Latronico – Die Perfektionen, S. 71

Es ist wirklich eine Blase, in der die beiden jungen Menschen wie außerhalb der Zeit leben und arbeiten. Tiefe Freundschaften gibt es nicht – und auch ein Gefühl der Heimat kennen Anna und Tom nicht, wird es sie doch im Laufe des Romans noch an andere Schauplätze verschlagen, denen allen ein entscheidender Faktor fehlt: der der Verbundenheit.

Unverbindlich und unkonkret

Alles was sie tun, es bleibt doch Fassade genauso wie die Wohnung, die auf den zweiten Blick weit weg von der erhofften Perfektion ist. Nichts verheißt hier einen tieferen Sinn. Bezeichnenderweise sind es auch die beiden Hauptfiguren, die ebenso unkonkret wie ihr Platz im Leben bleiben. Wo sie herkommen, was sie geprägt hat, was ihre Wünsche und Sehnsüchte sind, alles bleibt doch sehr ungreifbar und im Vagen.

So ist es vor allem auch das Gravitationszentrum, das dieses Paar zusammenhält, vielmehr ein Vakuum, so wie es Vincenzo Latronico mit einer nahezu klinisch-deskriptiven (und völlig dialogfreien) Sprache und Betrachtungsweise schildert. Man lebt zwar irgendwie eine offene Beziehung, aber für Tiefe oder mehr Verbundenheit sorgt auch das nicht. Ihre Lebensentwürfe sind genauso wie ihre gesellschaftlichen Bindungen belanglos und alles andere als sinnstiftend.

In ihren Kreisen ist man zwar irgendwie für Klimaschutz und gegen Tierleid und irgendwie links, aber so richtig konkret ist das alles nicht. Sinnbildlich ist die Hilfe, die Anna und Tom in Sachen Willkommenskultur im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015 leisten wollen. Sie designen einen wohlgesetzten Flyer und wollen bei der Vermittlung zwischen Geflüchteten und Einheimischen helfen. Doch die Flyer landen schnell auf dem Boden, ist doch das Handy das Mittel der Wahl. Und mit ihren mangelhaften Deutschkenntnissen sind sie auch weder den Geflüchteten noch den professionellen Helferinnen eine Hilfe, sodass sie allen eher etwas im Wege herumstehen und ihre Hilfe stillschweigend schnell wieder einstellen.

In Szenen wie dieser zeigt Vincenzo Latronico griffig, wie weit der eigene Anspruch und die Realität auseinanderklaffen. Die Perfektionen, Tom und Anna sind doch weiter von ihnen entfernt, als sie es wahrhaben möchten und wie es auch die abstrakte Gestaltung des Covers treffend zeigt. Ein stahlgebürsteter Espressokocher auf der Kochinsel macht dann eben doch auch nicht glücklich, wie Vincenzo Latronico hier eindrücklich vor Augen führt.

Fazit

Ihm gelingt es mit Die Perfektionen für meine Begriffe sehr gut, dem Zeitgeist der Unverbindlichkeit und der Rastlosigkeit der globalisierten Gegenwart nachzuspüren und diesen in literarischer überzeugender Form einzufangen. Ein Roman von analytischer Schärfe und überzeugenden Form, der vom fehlenden Sinn der Hochglanzexistenz instagramabler Digitalnomaden im hippen und multinationalen Berlin erzählt. Tief lässt uns Vincenzo Latronico hier in das Innere eines prototypischen Paares blicken. Dort findet er zwar nichts Nenneswertes – dafür zählt dieser Roman aber selbst zu den nennenswerten Entdeckungen dieses Frühjahrs!


  • Vincenzo Latronico – Die Perfektionen
  • Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
  • ISBN 978-3-546-10069-4 (Claassen)
  • 128 Seiten. Preis: 22,00 €
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Eberhard Seidel – Döner

Ist ein Deutschland ohne den Döner denkbar? Wer Eberhard Seidels türkisch-deutsche Kulturgeschichte des Döners liest, könnte da so seine Zweifel bekommen. Denn Migration, ökonomische Teilhabe, Rassismus, die Gewalt der Wendejahre, all diese Themen lassen sich fast mustergültig an der Geschichte des Döners in Deutschland ablesen, wie Seidel beweist. Und endlich wird auch die Frage geklärt, ob es jetzt Döner Kebap, Dönerkebab, Döner-Kebap oder Döner kebab heißt.


Mit Soße oder ohne, das Fleisch mit der Maschine geschnitten oder per Hand, die Zusammensetzung des Fleischspießes mit Lamm, Kalb oder Schwein – oder doch eine pflanzliche Alternative im Brötchen? Überhaupt das Brötchen – soll es ein Fladenbrot sein oder eine andere Art von Gebäck?

Die Frage nach dem „richtigen“ Döner ist eine Philosophie, über die es sich genauso vortrefflich streiten lässt wie die Frage, woher der Döner überhaupt stammt und wer ihn erfunden hat. War es ein türkischer Meister aus Bursa? Oder ist nicht eigentlich der griechische Bruder des Döners, das Gyros, das lange vor dem eigentlichen Döner populär wurde? Und warum hat sich der Döner ausgerechnet in Deutschland zum Massenphänomen entwickelt?

All diesen Fragen geht Eberhard Seidel in seinem Sachbuch nach und entwirft dabei eine wirkliche Kulturgeschichte des Döners, wie es der Untertitel des Buchs verspricht. Dabei zeichnet er ein Bild von den Ursprüngen des Gerichts über die Entwicklung des Döners als populäre Speise durch türkischstämmige Einwander*innen bis hin zu dem Produkt, das heute in den schier unfasslichen Stückzahlen von einer Milliarde Dönerprodukte pro Jahr in Deutschland verzehrt wird (wenngleich man hier Schawarma, Köfte und Co. neben den reinen Dönern hinzuzählen muss)

Die Entwicklung des Döners

Eberhard Seidel - Döner (Cover)

Seidel präsentiert Rezepte aus den Anfangstagen des Döners und blickt auf die Entwicklung dieses Gerichts, das in der Fremde dank seines unvergleichlichen Preis-Leistungsverhältnisses zum Erfolgsprodukt wurde. Er beschreibt die Kunst der Schichtung der Dönerkegel, geht aber auch auf die Probleme ein, die durch einen unregulierten Markt von Berlin ausgehend entstanden, ehe die Berliner Verkehrsauffassung dem kulinarischen Wildwuchs und geschmacklichen Schindluder einen Riegel vorschob. Denn die Geschichte des Döners ist auch eine Entwicklungsgeschichte, die die zunächst kaum Regeln kannte und deren kulinarische Revolution durch Innovationen und erst spät durch einheitliche Standards zu dem Massenphänomen wurde, das heute aus weder Fußgängerzonen, noch aus Industriegebieten oder Bahnhofsvierteln wegzudenken ist.

Dabei zeigt Seidel, wie erstaunlich es war, dass innerhalb kurzer Zeit die Gemeinschaft der Dönerproduzent*innen zu einheitlichen Spielregeln wie der Berliner Verkehrsauffassung kam, gleichzeitig aber bislang jeder Versuch einer Dönerfranchise á la MacDonalds oder Nordsee gescheitert ist. Und Seidel zeigt, welchen Muts und welcher Kreativität es bedurfte, um den Döner in Deutschland zu etablieren.

Denn zuvorderst ist Döner in meinen Augen auch eines, nämlich eine Geschichte der Migration und des Rassismus, wie Eberhard Seidel deutlich zeigt.

Eine Geschichte der Migration

Er beschreibt, wie die Entwicklung mit der schwierigen Akzeptanz der türkischen Mitbürger*innen einherging, die man eigentlich nur als „Gastarbeiter“ akzeptieren wollte, ehe diese durch harte Arbeit und Selbstausbeutung in der deutschen Gesellschaft Fuß fassten und somit die Kulinarik der Deutschen langsam aber entscheidend prägten.

Vor allem auf die gewaltsame Ausgrenzung, Bedrohung und Ermordung von türkischen Bürger*innen in Ostdeutschland während der Wendezeit geht Seidel dabei ein. Er erzählt von antitürkischer Stimmung, die in den 70er und 80er Jahren durch Medien, NPD und anderen Parteien als sogenanntes „Türkenproblem“ geschürt wurde, und das sich vor allem in der Wendezeit im Osten fortsetzte.

Erschreckend die Geschichte des türkischen Unternehmers, Izzet Aydogdu, der zusammen mit seiner deutschen Partnerin Ursula Bielack für den Döner den Osten kulinarisch erschließen wollte und dafür die „Dönerix“-Kette ins Leben rief. Die Gewalt der Neonazis gegen Aydogdus Lebenswerk, die in Gewaltexzessen während dieser Baseballschläger-Jahre mündete, schockiert.

Diese Geschichte verstört dadurch so sehr, da diese Gewalterfahrung und Ausgrenzung des Hoyerswerdaer Unternehmerpaares eben kein Einzelschicksal ist, wie Seidel zeigt. In seiner Kulturgeschichte des Döners macht er auf das Kontinuum der Gewalt und des Rassismus aufmerksam, dem sich die türkische Community seit ihren Anfangstagen in Deutschland ausgesetzt sieht. Er schlägt einen einen weiten Bogen der mit dem Döner assoziierten Gewalt – und landet damit schlussendlich wieder in unserer Gegenwart.

Das Kontinuum der Gewalt

Unvollständig nur die seitenlange Liste, die Übergriffe und Anschläge gegen nicht-deutsche Restaurantbetriebe dokumentiert, bei der Seidel für die Aufzählung alleine der Jahre von 2000 bis 2004 ganze elf Seiten benötigt.

Trauriger Höhepunkt – und sicherlich nicht Schlusspunkt in dieser Darstellung der kontinuierlichen Gewalt gegen Migranten ist dabei die Mordserie an türkischstämmigen Kleinunternehmern, die von den Ermittlungsbehörden und der Öffentlichkeit schnell und respektlos als „Döner-Morde“ tituliert wurden und bei der jahrelang der Mörder innerhalb der türkischen Community gesucht wurde, ehe sich der wahre Charakter der rechtsextremen Mordserie offenbarte.

Auch der Gammelfleisch-Skandal, der einige Jahre vor dem Terror des NSU die Republik in Atem hielt, waren dabei ganz ähnliche Mechaniken in der öffentlichen Debatte zu beobachten, wie Seidel in Döner zeigt.

Denn jener Skandal, der eigentlich einer der deutschen Fleischproduzenten war, wurde durch die einschlägigen Bekannten wie etwa die Bild-Zeitung schnell zum „Döner-Skandal“ umetikettiert und damit der türkischen Community beziehungsweise einer ominösen „Döner-Mafia“ in die Schuhe geschoben, obwohl er dieser Skandal doch eigentlich auf den kriminellen Machenschaften skrupelloser deutscher Geschäftsmänner beruhte, bei denen die Türk*innen auch Opfer der kriminellen Machenschaften waren.

Aber lieber schob man den Skandal den vermeintlich immer noch Fremden zu, statt sich mit den wahren Ursachen des Skandals zu befassen, wie dies schon unzählige Male der Fall war – und immer wieder sein wird. Denn die deutsche Bevölkerung tut sich noch immer schwer mit der Akzeptanz jener, die zwar für preiswerte Nahrung sorgen, denen man aber trotzdem noch immer bisweilen mit Klischees, Verachtung und Rassismus gegenübertritt.

Fazit

Dieses schizophrene Verhältnis arbeitet Eberhard Seidel in Döner eindrucksvoll heraus und schafft damit eben weitaus mehr, als nur eine Geschichte des Döners zu erzählen, wie er es bereits im Vorgängerbuch Aufgespießt – Wie der Döner über die Deutschen kam, tat. Vielmehr vereint das Buch Kulinarik-Historie und Gesellschaftsanalyse, Migrationsgeschichte und Genuss.

Es ist dabei gerade auch die gesellschaftliche Komponente, die das Buch so lesenswert und eindringlich macht. Sie ist es, die mich auch für Vegetarier*innen und Veganer*innen eine unbedingte Leseempfehlung für Döner – Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte aussprechen lässt.

Und um hier abschließend die Eingangsfrage aufzulösen, sei auf die dudengerechte Lösung der Benennungsfrage in Sachen Drehspieß hingewiesen. Diese lautet korrekt geschrieben Döner Kebap, wie Eberhard Seidel im ersten Kapitel des Buchs erklärt. Damit wäre das nun auch geklärt.


  • Eberhard Seidel – Döner: eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte
  • Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg
  • Bestellnummer: 174030 Preis: 22,00 €

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Ulrich Woelk – Für ein Leben

Ulrich Woelk verfolgt in Für ein Leben das Leben seiner beiden Protagonistinnen um die halbe Welt. Ein Berlin-Roman, der den verschlungenen Wegen des Schicksals nachspürt und mit einer erstaunlich hohen Genitalien-Dichte aufwartet.


Schon auf den ersten Seiten des Romans kommt es zu einer schmerzhaften und beinahe folgenschweren Hodentorsion, die Clemens Rubener fast seiner Zeugungsfähigkeit beraubt hätte.

Als Nikisha Lamont ihrem späteren Ehemann, Clemens Rubener, erstmals begegnete, hätte sie ihm um ein Haar die Fruchtbarkeit geraubt.

Ulrich Woelk – Für ein Leben, S. 9

Mit diesem Paukenschlag beginnt Ulrich Woelk seinen Roman. Auf den folgenden Seiten wird noch viel die Rede sein von jener Hodentorsion, die die Ärztin Nikisha Lamont aufgrund mangelnder Erfahrung und Überarbeitung bei Rubener fehldiagnostizierte. In den Nachwehen der gerade erfolgten Maueröffnung ist Nikisha Lamont in ihrem Weddinger Krankenhaus überlastet und erkennt verwirrt von ihrem Patienten die eigentliche Verletzung Clemens Rubeners nicht. Doch die Diagnose kann korrigiert werden, ein anderer Arzt erkennt den kritischen Zustand der Hoden und alles nimmt ein glimpfliches Ende.

Viele Episoden um Erektionsprobleme, Pornoproduktionen, entblößte Genitalien, Priapismus und mehr werden in Woelks Roman folgen. Sie verbinden die Schicksale der Figuren miteinander. Immer wieder kommt es in Für ein Leben zu Kontraindikationen von Geist und (Unter)Leib. Verschiedene Figuren lieben und begehren sich, verbinden und trennen sich und bilden somit eine vielschichtige Erzählung, die den unerklärlichen Wegen der Liebe und des Schicksals nachspürt.

Von Mexiko in den Wedding

Ulrich Woelk - Für ein Leben (Cover)

Nachdem jüngst Regina Scheer im Wedding schon den Wohnsitz Gottes verortete und Nicola Karlsson von Schicksalen im Viertel erzählte (Lichter über dem Wedding) wählt nun auch Ulrich Woelk jenen Arbeiterkiez als Kulminationspunkt verschiedener Schicksale. Da ist Nikisha Lamont, die als Kind zweier deutschen Hippies schon als Kleinkind um die halbe Welt reist. Die Eltern lassen sich in Mexiko nieder, die Tochter beschließt, Medizin zu studieren und gelangt schließlich zurück nach Deutschland, wo sie in einem Weddinger Krankenhaus ihren Dienst versieht.

Dann ist da Clemens Rubener, der mit einem Roman einen großen Erfolg gelandet hat. Eine Verfilmung des Stoffs ist in Planung, in die sich Clemens mit Hingabe stürzt – muss er sich so doch nicht um das drängende Problem der fehlenden Inspiration für einen neuen Roman kümmern. Er hält den Verlag in Gestalt seiner Lektorin hin und erwirbt in Sachen Prokrastination fast virtuose Fähigkeiten.

Auch die in einem Miethaus im Wedding wohnhafte Lu muss kreativ werden, um ihren Alltag zu meistern. Ihr Vater neigt nach dem Tod seiner Frau wechselweise dem Alkoholmissbrauch und der Suche nach einem Ersatz seiner verstorbenen Gattin zu. In diesem unsteten Umfeld findet Lu bei ihren Nachbarn, dem vergeistigten Musiker Hans Krol und dem jungen Victor Belkow Zuflucht. Sind die Eskapaden ihres Vaters zu krass, flüchtet sie zu den ganz unterschiedlichen Männern, um in ihren Wohnungen Distanz zu ihrem Vater herzustellen.

Viele Episoden ergeben ein Ganzes

Die Erzählung um die Hauptfiguren Nikisha, ihren späteren Ehemann Clemens und Lu umspinnt Woelk mit Erzählungen weiterer Nebenfiguren wie etwa jene eben schon erwähnten Hans Krol oder Victor Belkow, dessen Flucht aus der DDR einst scheiterte. Neben der Fülle von Figurenschicksalen sind es noch zahlreiche andere Elemente, die Woelk in diesen motivreichen Roman integriert. So erzählt er vom Schmuggel von Pornos aus Westberlin in den Osten, Filmarbeiten rund um den apokryphen Film Mexican von Gore Verbinski mit Brad Pitt und Julia Roberts oder lesbische Filmtage eines Kollektivs in einem Weddinger Kiez Kino.

Die Kunst, die Woelk hier deutlich besser als in seinem letzten Roman Der Sommer meiner Mutter gelingt, ist es, die Vielschichtigkeit von Liebe und Begehren darzustellen. So führt das Schicksal Niki und Lu zusammen, lässt sie sich lieben und trennen, sich begehren und abstoßen. Immer wieder ergeben einzelne Episoden Querbezüge und runden sich zum Ende hin – was für eine derart umfangreiche Laufzeit eine wirklich beachtliche Leistung ist. Woelks Buch kann man als Studie über die Macht des Schicksals lesen. Genauso funktioniert der Roman auch als breit gefächertes Panoptikum der verschiedenen Erscheinungsformen von Liebe. Für ein Leben ist aber ein Porträt des Weddings und seiner diversen Bewohner*innen. Medizinische Diagnosen spielen eine Rolle (siehe die hohe Genitalien-Dichte), Kunst und Kultur im Wandel der Zeit sind ebenso Themen, die hier beleuchtet werden. Kurzum: dieser Roman ist eine Wundertüte, die unterhält und erfreulich vielgestaltig daherkommt.

Fazit

Für ein Leben ist ein Roman, der Komplexität wagt und sich nahezu keinen Durchhänger leistet. Was zieht uns an, was stößt uns ab? Wie sehen die Wege des Schicksals aus, sind sie durch etwas zu beeinflussen? All das thematisiert dieses Buch und bietet höchst unterschiedliche Leseweisen an. Ein starkes, vielschichtiges Buch und für mich ein Kandidat für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2021!


  • Ulrich Woelk – Für ein Leben
  • ISBN 978-3-406-77451-5 (C. H. Beck)
  • 632 Seiten. Preis: 26,00 €
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Eva Ladipo – Räuber

„Karlsruhe kippt den Mietendeckel“. Diese Nachricht sorgte vor einigen Tagen für bundesweite Aufmerksamkeit. So kassierte Deutschlands höchstes Gericht den Versuch des Berliner Senats, die Mieten zu deckeln. Einstweilen fand damit der politische Versuch ein Ende, die Mieten im Ballungsraum auf einem wenigstens etwas erschwinglichen Niveau einzufrieren. Der Jubel der Vermieter und die Klagen einiger politischer Parteien und Mieterverbände ließ nicht lange auf sich warten.

Vom Kampf gegen Mietwucher und zivilen Widerstand in Berlin erzählt auch Eva Ladipo in ihrem Roman Räuber. Sie beschreibt, wie es sich anfühlt, wenn man aus seinem angestammten Zuhause vertrieben wird und zu welchen Exzessen die Mietpolitik in Deutschland bereits geführt hat. Ein Roman, der eine der drängendsten Fragen unserer Tage thematisiert: wie geht bezahlbares Wohnen?


Drei Figuren aus ganz unterschiedlichen Schichten sind es, die Ladipo in den Mittelpunkt ihres Roman stellt. Da ist Olli Leber, ein Arbeiterkind, der binnen Kurzem zwei Schicksalsschläge verkraften muss. Zunächst stirbt sein Vater und dann wird auch noch das Haus, in dem er und seine Mutter wohnen, von eine Konsortium namens Europäische Wohnen aufgekauft. Der Auszug der beiden ist damit unausweichlich. Doch wohin in einer Stadt mit Hartz IV und unregelmäßigem Einkommen?

Bei ihrem Umzug vor elf Jahren war die Gegend ein zurückgebliebenes Armenviertel gewesen. Niemand mit Geld hatte jenseits des S-Bahn-Rings wohnen wollen. Die Ringbahntrasse war die neue Mauer, sie hatte Arm und Reich zuverlässig voneinander getrennt. Dass diese neue Mauer noch schneller fallen sollte als die alte, hätte niemand für möglich gehalten. Auch er nicht. Diese verdammten Gleise hatten ihn in falscher Sicherheit gewiegt. Obwohl er den Goldrausch tagtäglich von Nahem erlebte, obwohl er wusste, welche Reichtümer sich aus dem Geld schöpfen ließen, das in unerklärlichen Strömen in Berliner Immobilien floss, hatte er geglaubt, in der abgerockten Sozialwohnung hinter den Gleisen seien sie in Sicherheit.

Eva Ladipo – Räuber, S. 41

Vom Mietrecht und Unrecht

Eva Ladipo - Räuber (Cover)

Die zweite Hauptfigur ist Amelie Warlimont. Sie ist mit dem Chefredakteur der kriselnden Berliner Post verheiratet. Das jüngste von zwei Kindern ist gerade einmal 13 Wochen alt, da gesteht ihr der meist absente Kindsvater, dass er eine Affäre hat. Aus der Bahn geworfen begegnet Amelie Olli Leber und hat plötzlich wieder ein Ziel vor Augen. Dieser will gegen die Enteignung als Mieter kämpfen und die Mietwohnung seiner Mutter behalten, schließlich war das das Versprechen des verstorbenen Vaters: ein Dach über dem Kopf, für den Rest des Lebens. Amelie hilft dem jungen Bauarbeiter bei seinem Kampf gegen die Europäische Wohnen und stößt darüber auf einen alten Bekannten: den ehemaligen sozialdemokratischen Finanzsenator Falk Hagen, der der Politik mittlerweile den Rücken gekehrt hat.

Dieser hat erkannt, dass der Wohnungsmarkt deutlich erträglicher als das Feld der Politik ist. Zusammen mit zwei Partner hat er ein Unternehmen für Luxusimmobilien und Bauprojekte gegründet. Das Geld muss fließen. Schließlich hat Hagen Ex-Frauen, diverse Kinder und eine bevorstehende Traumhochzeit seines Lieblingskindes zu finanzieren.

Auf diese drei Hauptfiguren legt Eva Ladipo ihren Fokus. Zwar gibt es einige weitere Figuren im Ensemble, den Löwenanteil in der Erzählung bestreiten aber Amelie, OIli und Falk Hagen. Wie in einer guten Serie springt die Autorin dabei immer wieder von Figur zu Figur und treibt die Handlung unterhaltsam voran. Der Kampf gegen den Mietwucher, Liebe, das Werben um die Gunst eines Finanziers, der vielleicht die Berliner Post übernehmen könnte, eine Räuberpistole – Ladipo hat viele Themen in das Buch gepackt. Sie versteht es aber auch, diese lesenswert zu erzählen, manchmal vielleicht sogar etwas zu seicht und oberflächlich. Obschon das Buch mit 540 Seiten kein dünner Schmöker ist, liest sich Räuber schnell weg und ist höchst unterhaltsam. Und die manchmal etwas plakative Art verzeihe ich persönlich gerne, schließlich bricht Ladipo so die Sperrigkeit des zugrundeliegenden Themas.

Fazit

Räuber ist auf der Höhe der Zeit und greift viele aktuelle Debatten auf Klassimus, das Auseinanderdriften von Ober- und Unterschicht. Die Frage, was eine Stadt lebenswert macht. All das steckt in diesem Gesellschaftsroman, der alle Ebenen unserer Gesellschaft von Hartz IV bis zur Wohlstandsverwahrlosung abbildet. Genauso erzählt das Buch von skrupellosen Enteignungsversuchen und der neuen sozialen Frage, die Wohnen bedeutet. Auch als Berlin-Roman funktioniert Räuber sehr gut. Viele Themen also, die das Buch zu einer empfehlenswerte Lektüre machen!


  • Eva Ladipo – Räuber
  • ISBN 978-3-89667-678-8 (Blessing)
  • 545 Seiten. Preis: 24,00 €
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Tinder und Terror

Wie lernt man als mittelalter Mann in Scheidung lebend neue Frauen kennen? Und wie soll man das bewerkstelligen, wenn nebenbei im Job noch eine weitere Herausforderung wartet, etwa ein potentieller Terroranschlag in Deutschland? Darüber hat Ute-Christine Krupp einen Roman geschrieben. Punktlandung heißt er und ist bei Wallstein erschienen.


Behörden haben in Deutschland meist keinen guten Ruf. Zu unüberschaubar, zu bürokratisch, zu anonym. Meist in grauen, brutalistischen Bauten untergebracht fristen sie ein Dasein am Rande der öffentlichen Aufmerksamkeit. Das ändert sich meist nur, wenn etwas passiert ist, man denke nur aktuell an das Paul Ehrlich-Institut oder das Robert Koch-Institut, die nun im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit stehen. Meist aber bleiben die Behörden in Deutschland in Sachen Wahrnehmung äußert unkonkret und pflegen dieses Image teilweise auch bewusst. Wer weiß schon genau, was etwa der Bundesnachrichtendienst in seinem neuen Bau in Berlin so treibt? Wenn nicht gerade ein Untersuchungsausschuss nach einer Panne etwas Licht ins Dunkel bringt, bleibt für uns Otto Normalverbraucher das Tun und Treiben in den Bauten der Behörden sehr uneinsichtig. Wer wertet eigentlich die Telefondaten aus? Wer ordnet Überwachungen an und wer trifft Entscheidungen, ob die Organe der Exekutive in Aktion treten sollen?

Es sind immer Menschen. Menschen mit Stärken und Schwächen, mit Privatleben und Sehnsüchten. Keine wirklich bahnbrechende Erkenntnis, zu der Ute-Christine Krupp in ihrem Roman gelangt. Aber doch interessant erzählt.

Im Dienst der öffentlichen Sicherheit

Ihr Protagonist heißt Paul Jost. Er arbeitet in Berlin und ist in den bürokratischen Apparat für die öffentliche Sicherheit eingebunden.

Er schiebt Protokolle und Auswertungen mit einer fahrigen Bewegung zur Seite. Dafür wird in den nächsten Tagen nicht viel Zeit sein. Er setzt sich aufrecht hin, atmet einmal tief durch und schaltet den Computer an. Zuständig ist er bisher für die Erarbeitung von Aussteigerprogrammen im Bereich Islamismus und für die Vorbereitung von Entscheidungen der G10-Kommission, die einmal im Monat hinter schusssicherne Scheiben tagt und festlegt, wer in welchem Umfang abgehört und wessen Mails mitgelesen werden. Er prüft vorab die Anträge nach juristischen Kriterien. Wenn sich die Hinweise von heute Morgen verdichten, die Gefahr sich weiter konkretisiert, wird er zum ersten Mal an einem Krisenstab teilnehmen.

Ute-Christine Krupp – Punktlandung, S. 7

Und ja, Paul Jost wird tatäschlich am Krisenstab teilnehmen. Denn die Hinweise verdichten sich, dass ein Anschlag in Deutschland droht. Der Reichstag und damit auch die ganze öffentliche Sicherheit ist in Gefahr. Und so rückt er in die erste Reihe des Krisenstabs und ist für die Überwachung der potentiellen Attentäter zuständig. Immer mit dem Handy in Griffweite muss er entscheiden, ob eine weitreichende Abhöraktion der möglichen Terrorzelle gerechtfertigt ist. Ist es zu vertreten, die Überwachung massiv auszuweiten, auch ohne juristische Befugnis? Schlägt die öffentliche Sicherheit den Datenschutz?

Wie sich ein neues Leben aufbauen?

Ute-Christine Krupp - Punktlandung (Cover)

Nicht nur mit diesen Fragen muss sich Jost befassen. Noch mehr beschäftigt ihn die Frage, wie man als mittelalter Mann noch einmal eine Frau kennenlernt. Er lebt in Trennung von seiner Frau, für die beiden Kinder teilen sie sich das Sorgerecht. Mit einer Durchschnittswohnung in Berlin, einem Job in einer anonymen Behörde und dem Wunsch nach einer einer Beziehung tut er sich im Privaten um. Es gilt, sich ein neues Leben aufzubauen. Aber geht das überhaupt parallel? Dating, während da draußen eine diffuse Lage herrscht und ein Anschlag droht? Tinder und Terror?

Ute-Christine Krupp wählt für ihren Roman eine interessante Erzählweise. In kurzem, stakkatohaftem Ton erzählt sie im Präsens von Paul Jost. Überwiegt zunächst die Schilderung seiner Tätigkeit im Berliner Behördenapparat, übernimmt bald das Privatleben eine immer zentralerer Rolle. Seine Ehe mit Gesine, deren Scheitern, seine Midlifecrisis. All das überlagert im Buch langsam das Berufliche. Seine Dates, das schwierige Kennenlernen von Frauen, das scheint Jost immer mehr zu beschäftigen als der mögliche Anschlag. Zunehmend verschränken sich die Ebenen. Privates vermengt sich mit Öffentlichem, Vergangenheit mit Gegenwart, das Sehnsucht nach einer Beziehung mit dem Bedürfnis von Überwachung. Auch der Text bildet dieses Assemblage nach. Die Erzählebenen überlagern einander und die hastige und verknappte Syntax drängt voran.

Behördendeutsch und Liebe

Diese ist im Falle von Punktlandung wirklich doppelt spannend. Denn Krupp versucht sich mit ihren Schilderungen auch an einer Nachahmung der überhasteten und sachlichen Behördensprache, die vom Horror eines möglichen Anschlags geprägt ist.

Alle Orte, an denen sich diese Person aufhält, dargestellt auf einer Karte. Paul Jost parkt sein Fahrrad an einer Laterne und läuft durch die Straße. Eine lange und ruhige Straße. Der Mann wohnt unweit der Moschee, in der er betet. Die Moschee ist ein rechteckiges Gebäude mit Wendeltreppe. Geschlossen, wenn nicht gebetet wird. Bei dem Mann handelt es sich um einen Deutschen, der zum Islam konvertierte. In einem Eckhaus wohnt er. Blickdichte Gardinen. An einem der Fenster des Hauses im oberen Stockwerk hängt ein gebastelter Stern.“

Ute-Christine Krupp – Punktlandung, S. 74

Zugleich erzählt sie in dieser technokratischen Sprache von Liebe und dem Wunsch, eine passende Partnerin zu finden. Kann das funktionieren? Und prägt die Sprache der Juristerei und Behörden das eigene Denken und Handeln? Das untersucht Ute-Christine Krupp auf spannende Art und und Weise. Wie verhält sich ein Überwacher, wenn er nun in die Welt des digitalen Kennenlernens vorstößt? Und kann man sich die Ruhe für ein Date nehmen, wenn jeden Moment das Handy mit einer Schreckensnachricht von den eigenen Kollegen klingeln kann?

Fazit

In der Überführung dieser behördlichen Hast und Anspannung auf einen Mann in der Midlifecrisis ist diese Erzählanordnung namens Punktlandung wirklich spannend. Persönlich fand ich Paul Jost als Erzählfigur nicht sonderlich aufregend (Anzugträger, deren größte Obsession die Ordnung der eigenen Krawatten nach Schattierung ist, wecken in mir kein gesteigertes Interesse). Und auch hätte ich mir noch etwas mehr Erkenntnisgewinn angesichts Gegenüberstellung der Themen der öffentlichen Sicherheit und der privaten Gebundenheit gewünscht. So bleiben in Punktlandung doch auch zahlreiche Leerstellen und Auslassungen, bei denen ein wenig mehr Füllung wünschenswert gewesen wäre. Ansonsten gibt es an Krupps Roman wenig zu kritteln.

Natürlich kann man einwenden, dass die Grundhypothese des Buchs (oder die, die ich aus dem Buch herausgelesen habe), nicht zwingend neu ist – man denke beispielsweise auch nur an die Homeland-Serie mit Claire Danes, die ähnliche Themen verhandelt. Dennoch gelingt die Umsetzung ihrer Themen auf interessante eigene Art und Weise, sodass ich Ute-Christine Krupp auch den mausgrauen Midlife-Krisenpatienten Paul Jost gerne nachsehe (der sich ja wiederum sehr gut in das Erzählkonzept einpasst, das muss man auch zugeben). Ein Buch, das Terrorüberwachung und den Wunsch nach einem Neuanfang in gelungener Form zusammenbringt, das einem Beamten ein Gesicht gibt, das sprachlich interessant gearbeitet ist und sich seine Vorstellung hier deshalb redlich verdient hat!


  • Ute-Christine Krupp – Punktlandung
  • ISBN 978-3-8353-3888-3 (Wallstein)
  • 159 Seiten. Preis: 20,00 €
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