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Ursula Kirchenmayer – Der Boden unter unseren Füßen

Ein massiver Angriff einer psychisch kranken Wohnungsmieterin auf eine Nachbarin rechtfertigt eine fristlose Kündigung des Mietervertrags (LG Hamburg v. 23.06.2021 – 316 T 24/21).

So fasste es das Landgericht Hamburg in einem Urteil zusammen. Was diese Worte aber wirklich bedeuten können und wie lang und nervenraubend der Weg kann sein, der vor einer solchen Rechtsprechung liegt, das zeigt Ursula Kirchenmayer in ihrem Debüt Der Boden unter unseren Füßen. Kirchenmayer, die Literarisches Schreiben in Leipzig studierte, beschreibt den Kampf einer Familie um Frieden und Ruhe in den eigenen vier Wänden. Während die Familie den Kampf führt, erodiert der Zusammenhalt und die Beziehung untereinander, was Kirchenmayer geradezu quälend langsam, aber auch konsequent zeigt.


Dass der Mietmarkt in Städten wie München oder Berlin angespannt ist, das ist keine neue Erkenntnis. Sie hat auf dem deutschsprachigen Literaturmarkt schon Widerhallt gefunden und Autorinnen und Autoren haben sich dem Thema auf verschiedenen Wegen genähert, so etwa in den Romanen von Eva Ladipo oder Natalie Buchholz. Letztere ließ in ihrem Roman Unser Glück eine junge Familie von ebenjenem Glück träumen, als auf dem angespannten Münchner Wohnungsmarkt die Traumimmobilie in Schwabing plötzlich in greifbare Nähe rückt. Doch das Agreement mit der Mieterin hatte einen entscheidenden Pferdefuß, der die Beziehung der jungen Familie zunehmend in Bedrängnis brachte.

Auch Ursula Kirchenmayer wählt für ihren Roman Der Boden unter unseren Füßen ein ganz ähnliches Erzählkonzept. Bei ihr ist Berlin der Schauplatz, in dem auch schon lange nicht mehr Wohnraum für alle zur Verfügung steht. Ein Verdrängungswettbewerb ist im Gange, der weniger Begüterte und Familien an den Rand der Stadt drängt oder ganz ausschließt. Auch Nils und Laura merken die neue Realität schnell am eigenen Leib, denn Laura erwartet bald ein Kind. Bislang wohnen beide in jeder für sich in separaten Wohnung, doch nun nach der überraschenden Schwangerschaft möchten die beiden zusammenziehen. Nachdem die Suche auf dem regulären Mietmarkt keinen Erfolg zeitigt, ist es die Möglichkeit eines Wohnungstauschs, die ihnen unerwartet die Perspektive eines Familienlebens in gemeinsamen Räumlichkeiten ermöglicht.

Die Traumwohnung in Berlin

Ursula Kirchenmayer - Der Boden unter unseren Füßen (Cover)

In der Nähe des Mariendorfer Damms gelegen klingt die Immobilie, die ihnen angetragen wird, wie ein Traum. 3 Zimmer, Altbau, Parkett, 92 Quadratmeter mit einem kleinen Park in der Nähe und ruhig gelegen, das sind die Kennzahlen der Wohnung, die vor allem Nils‘ Herz höherschlagen lässt. Er drängt auf einen schnellen Einzug, noch bevor das Kind auf der Welt ist. Laura hingegen hat nicht nur aufgrund des starken Haschich-Geruchs im Treppenhaus ein schlechtes Bauchgefühl. Sie hat den Eindruck „als ob da unten etwas faulte (…) und kurz glaubte sie, der Boden unter ihren Füßen sinke tiefer, mit jedem Schritt ein bisschen mehr.“ (S. 19)

Mit diesem Bauchgefühl dringt sie allerdings nicht wirklich zu Nils vor. Etwas überstürzt einigt man sich auf den Wohnungstausch, kurz vor der Niederkunft sollen noch die eigenen Wohnungen jeweils übergeben werden, die ertauschte Wohnung soll bezugsfertig mitsamt Küche und wohnlicher Atmosphäre gestaltet werden. Doch da ist ein Problem, das sich schon nach kurzer Zeit immer stärker zeigt.

„Apropos Nachbarn“, fragte Laura, „wie sind die denn so drauf?“ Nils würde sein Studio hier aufbauen und auch sie brauchte Ruhe, wenn sie wieder malen wollte.

Manuel zögerte. „Der Hausmeister kann euch die Tür abdichten. Haben die von gegenüber auch schon gemacht. Wegen Treppenhaus und so. Ist bisschen hellhörig. Sonst ist es aber wie gesagt echt total ruhig hier.

Ursula Kirchenmayer – Der Boden unter unseren Füßen, S. 17

Denn mit der Ruhe ist es hier nicht weit her. Das liegt zuvorderst an „Peggy“, wie die Nachbarin aus dem ersten Stock geheißen wird. Der Grasgeruch im Treppenhaus ist dabei nur eine Facette in ihrem Zusammenleben. So entpuppt sich die Frau als psychisch auffällig, starrt zur Wohnung von Laura und Nils hinauf, bezichtigt die beiden immer wieder lautstark der Entführung ihrer Tochter und attackiert in einer nächtlichen Attacke sogar die Wohnungstür der jungen Familie. So kann sich natürlich keine Ruhe für die junge Mutter und das vorgesehene ruhige Familienleben zum Start in ihr neues Leben einstellen.

Die Schattenseiten von Nachbarschaft

Psychoattacken der Mieterin, dazu berufliche Unsicherheiten bei Nils durch das Ende seines Kreativduos, Eltern, die mal sichtbarer und mal subtiler ihre Vorstellungen an Laura und Nils herantragen – und dazu eine Tatenlosigkeit der Hausverwaltung, die die Ausfälle der Mieterin eher schulterzuckend hinnimmt.

All diese Faktoren haben natürlich auch einen Einfluss auf das Familienleben, was Ursula Kirchenmayer wechselseitig aus dem Blickwinkel von Laura und Nils schildert und zwar nie so, dass man einer Seite klar den Vorzug geben würde. Sie zeigt das Ringen um häusliche Idylle, um Selbstbehauptung gegen die Mieterin und den ressourcenfressenden Kampf der beiden, sehen doch weder Polizei, Psychosozialer Dienst oder Hausverwaltung einen gesteigerten Grund für eine Intervention, ist die Bedrohung in ihren Augen ja eher einer psychischen Natur denn eine wirklich konkrete Bedrohung, auch wenn sie das für Laura und Nils in vielen Formen ist.

So ist es der Lauras Eindruck der Erstbegehung der Wohnung, der sich immer stärker manifestiert. Der Boden unter den Füßen der beiden wird zunehmend brüchig und die Beziehung, die vor der überraschenden Schwangerschaft Lauras gerade einmal seit zehn Monaten lief, unterliegt immer stärker werdenden Erosionen, wie Kirchenmayer konsequent und mitreißend erzählt demonstriert. Plötzlich wird der Rückzug aufs Land zu den eigenen Eltern zur Option. Prekäre Finanzen, Schlaflosigkeit ob möglicher Attacken der Nachbarin und unterschiedliche, nicht wirklich miteinander verhandelte Vorstellungen bringen die Beziehung der beiden beziehungsweise dann der der drei immer mehr ins Schwimmen.

Der Zusammenhalt erodiert

Sie zeigt die zunehmende Desillusionierung nach dem Fund der vermeintlichen Traumimmobilie und führt diese Desillusionierung mit der subtilen, aber dennoch stattfindende Entfremdung des jungen Paares eng. Das ist überzeugend gemacht und besitzt einen wirklichen Sog, da Kirchenmayer den Schrecken, den alleine schon das Wissen um die Nachbarin und die unterschiedlichen Spielarten der Bedrohung nachvollziehbar gestaltet. Ebenso tragen die Perspektivwechsel, die ohne Schuldzuweisungen auskommen und auch nicht den Fehler eines „Leser*innen Nudings“ im Sinne von einer klaren Sympathieverteilung und Parteinahme begehen, zur Qualität des Buchs von Der Boden unter unseren Füßen bei.

Vielmehr blickt sie nachvollziehbar auf unterschiedlichen Perspektiven auf das Geschehen, geht tief hinein in die psychologische Gesamtkonstitution des Paares und zeigt auch Elternschaft angenehm vielschichtig und realitätsnah, obschon trotz der Perspektivwechsel in Sachen biographischer Grundierung ihrer Figuren durchaus noch etwas mehr Potenzial innegewohnt hätte, als tatsächlich genutzt wurde.

Dennoch ist Der Boden unter unseren Füßen eine gut gemachte, obschon des schweren Themas unterhaltsame und mitreißend erzählte Geschichte, die die Schattenseiten von Wohnungsnot und den schwerfälligen Kampf gegen die Bedrohung ein paar Türen weiter gekonnt ausleuchtet und beschreibt. Liest man Ursula Kirchenmayers Debüt, ist man doch froh um das gedeihliche Miteinander oder zumindest das Ausbleiben solcher Attacken rund um die eigenen vier Wände.


  • Ursula Kirchenmayer – Der Boden unter unseren Füßen
  • ISBN 978-3-423-28313-7 (dtv)
  • 400 Seiten. Preis: 23,00 €
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Kim Koplin – Die Guten und die Toten

Waffenhändler, Staatssekretäre auf Abwegen, eine toughe angehende Polizistin und mittendrin ein Parkwächter, der allen Grund hat, sich zu verstecken. Wie in einem Flipperautomaten lässt Kim Koplin in Die Guten und die Toten diese Figuren aufeinander los und erschafft einen hochtourigen Berlinthriller á la Johannes Groschupf.


Kim Koplin - Die Lebenden und die Toten (Cover).

Ein Parkhaus, irgendwo auf der Knesebeckstraße kurz hinter dem Savignyplatz in Berlin Charlottenburg. Hier schiebt der Parkwächter Saad Dienst. Das einzige, das in diesem heruntergekommenen Parkhaus funktioniert ist die Hanfplantage, die Saads Kumpel Mohammed auf dem uneinsehbaren Dach des Parkhauses pflegt. Ansonsten gibt es hier nicht viel Gründe, sein Auto abzustellen. Zwei Feuerlöscher, einer davon komplett kaputt, der andere „abgelaufen, als Deutschland zum letzten Mal Weltmeister wurde“, flackernde Röhren, schon seit Ewigkeiten herumstehende Limousinen und kaum Kundschaft. Saad kommt das Ganze zupass, schließlich meidet er das Licht der Öffentlichkeit.

Zusammen mit seiner Tochter Leila lebt er in einem winzigen Appartement im dritten Hinterhof irgendwo auf der Drontheimer Straße und verbringt die meiste Zeit in seiner Pförtnerkabine, wo ihm Leila tagsüber Gesellschaft leistet, wenn sie nicht im Kindergarten ist.

Saad, Leila, Nihal

Schon auf den ersten Seiten dieses unter Pseudonym verfassten Thriller machen Saad und Leila die Bekanntschaft mit Nihal. Sie ist eine angehende Polizistin, deren mangelnde Affektkontrolle sie des Öfteren in Schwierigkeiten bringt. So auch bei der ersten Begegnung mit Saad, der gerade von zwei Männern bedroht wird. Sie steht Saad bei – oder vielleicht auch eher er ihr. Am Ende gibt es auf alle Fälle gebrochene Rippen, auf eine Anzeige will Saad aber verzichten.

Zu dem Vater sagt sie: – Sie wollen keine Anzeige machen?

Statt zu antworten, macht er ein Lieber-nicht-Gesicht. Da ist etwas in seinem Blick. Bedauern.

-Seid ihr illegal?

Entfernt hört Nihal, wie über ihr die S-Bahn einfährt. Der Typ hebt die Hand, und dann gehe er und seine Tochter an Nihal vorbei.

-Tschüss, du, sagt das Mädchen.

Und Nihal fällt nichts Besseres ein, als zu sagen: -Tschüss.

Kim Koplin – Die Guten und die Toten, S. 18

So verläuft die erste Begegnung zwischen den Dreien, die nicht die letzte bleiben wird. Neben diesen Figuren führt Kim Koplin noch eine angehende Nachwuchsjournalistin, einen profitorientierten Waffenhändler und den Staatssekretär Phillipp Brasch (zwei I, zwei L, zwei P – wir nehmen, was wir kriegen können, so die Maxime des Vaters, obwohl es doch eigentlich drei P sind, aber sei’s drum) als Figuren ein. Sie alle verstricken sich gegenseitig in Abhängigkeiten und beeinflussen das Handeln der Anderen, und das kommt so.

Zwischen Waffenhandel und Hanfplantage

Waffenhändler Müller will einen Waffenhandel mit Saudis abschließen, Brasch soll für die Ausfuhrgenehmigung des fraglichen Containers sorgen. Die Journalistin Maja recherchiert in diesem Fall – und plötzlich wird Brasch aufgegriffen, als er Saads Parkhaus verlassen hat – mit einer Leiche im Kofferraum, von der er nicht wusste. Wie die Zusammenhänge sind, das macht Koplin recht schnell deutlich.

Was ihn oder sie interessiert, das ist vor allem die Interaktion, die in Die Guten und die Toten einem Flipper gleicht. Beständig wirken sich die Taten und das Agieren der Beteiligten auf die anderen Figuren aus. Saad versucht unbedingt, in Deckung zu bleiben (warum, das erklärt Koplin erst später), Nihal wittert, dass es eine Verbindung zwischen Brasch und dem Parkhaus und Parkwächter Saad geben könnte, im Hintergrund machen die Saudis Druck – was dann zu einem Showdown auf dem Dach des Parkhauses inmitten der Hanfplantage führen wird, bei der sogar eine Kettensäge eine Rolle spielt.

Koplin entwickelt seine Stränge souverän, führt seine Figuren unerbittlich zu dem Showdown und schafft es gelungen, den Figuren trotz des hohen Tempos und der permanent wechselnden Erzählperspektiven mit routiniert aus dem Ärmel geschüttelten Erzähltricks Tiefe und Plausibilität zu verleihen. Daneben überzeugt auch die Fähigkeit des Autors oder der Autorin, Dialoge zu gestalten und diese zur Charakterisierung seiner Figuren heranzuziehen. Eine große Kunst, auf die man im deutschsprachigen Krimi nicht allzu häufig stößt.

Fazit

Die Guten und die Toten ist ein wirklich schneller und hochtouriger Roman, der Gewalt, Sehnsucht, die große Politik, schmutzige Geschäfte und Hanfplantage mit Parkhaus verbindet, ebenso wie Koplin ganz unterschiedliche Figuren aus unterschiedlichen Milieus miteinander zusammenbringt. Die reduzierte und wohlgesetzte Schreibe Kim Koplins erinnert an andere Autor*innen aus der ersten Reihe dieses Genres, allen voran Jakob Arjouni, Simone Buchholz oder Johannes Groschupf, mit dem Koplin das Fach des Berlin Noir-Thrillers teilt (obschon das Ende des Romans eine Fortführung als Hamburg-Noir nahelegt). Eine echte Entdeckung, die Herausgeber Thomas Wörtche hier gemacht hat. Gerne mehr davon!

Auch Marcus Münterfering auf Spiegel Online ist begeistert, ebenso wie Dietmar Jacobsen auf Literaturkritik.de.


  • Kim Koplin – Die Guten und die Toten
  • ISBN 978-3-518-47312-2 (Suhrkamp)
  • 254 Seiten. Preis: 16,00 €
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Gina Schad – Nach einem Traum

Wird das was oder wird es nichts? Die junge Marie verliebt sich in Simon, doch der hat eine Familie und macht ihr nicht wirklich Hoffnung auf mehr. In der Folge entspinnt sich in Gina Schads Debütroman Nach einem Traum ein ambivalentes Verhältnis der beiden, das sich auch im Digitalen fortsetzt.


Zu den auffälligen Trends auf dem Literaturmarkt in diesem Frühjahr zählt die Häufung junger Debütautorinnen, die mit ihren Romanen die Lebenswelt der Millenials ausleuchten und vom Ver- und Entlieben aus weiblicher Perspektive bisweilen auch radikal erzählen.

Esther Schüttpelz wäre zu nennen, die in ihrem Debüt Ohne mich die Geschichte einer jungen Frau beschreibt, die jung heiratete und nun nach der Trennung ihr erstes Jahr als Single erlebt. Caroline Schmitt erzählt in ihrem Debüt Liebewesen von der jungen Mariam, deren Liebe von einem Tinder-Date ausgehend über ein Date in der Badewanne bis hin zu einer Abtreibung alle Facetten einer Liebesgeschichte und Trennung reicht.

Caroline Wahl nimmt in 22 Bahnen die junge Tilda in den Blick, die für ihre Mutter und ihre Schwester verantwortlich ist und für die eine mögliche Promotion in Berlin und die Begegnung mit einem jungen Mann im Schwimmbad Aufbruch aus dem bisherigen Leben verheißt. Und auch Gina Schad fügt sich mit ihrem Debüt Nach einem Traum in diese Riege junger Debütantinnen ein.

Schad ist studierte Medienwissenschaftlerin und beschäftigt sich mit Netzkultur. Das zeigt sich nicht nur auch auf dem Umschlag des Buchs, auf dem Marcus Beckedahl, der Gründer von netzpolitik.org, mit einem Blurb abgedruckt ist. Auch im Inneren des Buchs spielen Chats und eine App eine zentrale Rolle.

Ein Date im Café nahe der Charité

Doch zunächst beginnt auch in ihrem Roman alles eigentlich recht klassisch. Marie trifft sich mit Simon in einem Café unweit der Berliner Charité. Dort ist er als Belegarzt tätig und hat eine eigene Hausarztpraxis. Nach einem kurzen Abtasten und Smalltalk stellen sie fest, dass sie gut miteinander harmonieren und da durchaus mehr entstehen könnte. Zwar schreckt sie die Mitteilung, dass Simon Zwillinge hat und in einer festen Verbindung steckt etwas ab, aber dennoch beschließen sie, in Kontakt zu bleiben.

Das verstehst du doch hoffentlich, fährt er fort. Wir können uns nicht mehr treffen. Das ist zu gefährlich. Eine kleine Unachtsamkeit in deiner Nähe reicht schon aus, um meine Familie zu zerstören. Aber ich will auf jeden Fall weiter mit dir schreiben! Und darf ich dir noch eine App auf dein Handy laden? Lass uns doch bitte darüber kommunizieren. Das ist sicherer.

Gina Schad – Nach einem Traum, S. 27

Nach dem Date dort in der Charité beginnen die beiden mit ihrer Konversation. Marie teilt ihre Gedanken aus dem Alltag – Schwierigkeiten mit ihrer Mutter, ausstehende Abschlusskonzerte für die Beendigung des Cello-Studiums -, er erzählt von seinem Alltag mit Frau und Kindern. Beide schleichen umeinander herum, man möchte sich wieder sehen, doch das geht nur unter Schwierigkeiten. Marie möchte mehr als nur Küsse – doch Simon kann und will ihr das nicht geben.

Annäherungen und Abstoßungen, digital und manchmal real

In den Chats nähern sie sich an, suchen nach Pausen, stoßen sich wechselseitig an und ab, treffen sich wieder mal kurz real in Berlin oder am Flughafen – eine wirkliche Entwicklung hin zu einem klaren Verhältnis der beiden ist aber nicht absehbar. Marie möchte unbedingt mehr, kreist in ihren Gedanken und ihrem Verlangen um Simon bis hin zu Fantasien, in das Haus von Simons Familie einzusteigen.

Gina Schad - Nach einem Traum (Cover)

Er lockt, macht dann aber auch wieder schmerzhaft klar, dass sie weiter nichts von ihm erwarten kann und die Turteleien enden müssen. Das ambivalente Verhalten der beiden arbeitet Gina Schad im Laufe des Romans sehr gut heraus. Sehnsucht, Begehren an der Grenze zum Stalking, dann aber auch wieder der Versuch der Ablenkung und der Besinnung. Das Überinterpretieren von Bildern, ausbleibenden Nachrichten oder unachtsamen Sätzen, die jeweils passend zur Gemütslage ausgelegt werden oder schlimmste Befürchtungen wecken können. Davon erzählt Nach einem Traum und zeigt dazu in Ansätzen, wie uns die digitalen Medien selbst zu Stalkern light gemacht haben.

Da kann man schon einmal die Gattin des Angebeteten recherchieren, ihre Werke und das im Digitalen abgebildete Familienleben studieren, intime Wünsche via App austauschen oder mit Likes von Bildern dem Gegenüber seine Aufmerksamkeit und dessen Sichtbarkeit demonstrieren. Nach einem Traum zeigt, welche neuen Möglichkeiten uns die digitalen Welten eröffnen, wie das Ganze aber auch in Überwachung und Spionage kippen kann und man aus einem Stalker light schnell zu einem „richtigen“ Stalker werden kann.

Ein ambivalentes Verhältnis

Hier wie auch in der Darstellunge des ambivalenten Verhältnisses der beiden Protagonist*innen hätte Schads Debütroman in meinen Augen noch etwas Tiefe verdient. So fliegt man dank der schnellen Chat-Einsprengsel und kurzen Kapitel rasch durch den Roman – ein wenig mehr Widerhaken in Form von krasserem Verhalten der Beteiligten oder der Mut, die anfängliche Liebesgeschichte noch etwas mehr abgleiten zu lassen hätten dem Text vielleicht gut getan und ihm ein paar mehr erinnerungswürdigere Momente beschert.

Abgesehen davon ist Nach einem Traum ein Roman, der das Hoffen und Bangen, Recherchemöglichkeiten, die uns der digitale Raum ermöglicht, sowie das Abgleiten von unerfüllten Sehnsüchten in übergriffiges Verhalten beschreibt. Viele Leser*innen dürften sich und ihr Datingverhalten in Gina Schads Beschreibungen widergespiegelt sehen – und auch ich kann das nicht verneinen.

Fazit

Vom Daten im Digitalen, von enttäuschten Hoffnungen und Selbsttäuschung, vom Warten auf den nächsten Chat oder ein Like, davon erzählt Nach einem Traum, was ihn zu einem sehr aktuellen und zeitgeistigen Buch der Generation Y macht. Damit schreibt sich Gina Schad in die eingangs erwähnte Riege junger Debütantinnen ein und legt ein schwebendes Buch vor, das viele Sichtweisen und Interpretationen zulässt.


  • Gina Schad – Nach einem Traum
  • ISBN 978-3-8337-4612-3 (Goya Lit)
  • 226 Seiten. Preis: 22,00 €

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Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume

In letzter Zeit hat es sich Jean-Christophe Grangé etwas leicht gemacht. Was in den vergangenen beiden Jahren unter dem Titel Die letzte Jagd (2021) und Tag der Asche (2022) erschien, waren nur auf den ersten Blick neue Romane des französischen Thriller-Großmeisters. In Wahrheit handelte es sich „nur“ um in Romanform umgearbeitete Drehbücher, die bereits als Filme im Rahmen der Reihe Die purpurnen Flüsse zu sehen waren, zu denen Grangé die Drehbücher verfasste.

Nun liegt mit Die marmornen Träume wieder ein originärer Thriller vor, mit dem Grangé zum ersten Mal historisches Terrain betritt, und zwar nicht irgendeines. Vielmehr wählt er sich wie seine Kollegen Philipp Kerr oder Volker Kutscher das Dritte Reich als Kulisse seines Thrillers. Ein gewagter Entschluss, wie ihn in dieser schriftstellerischen Konsequenz hier vielleicht auch nur ein Nicht-Deutscher schreiben kann, handelt es sich doch um vermintes Gebiet, das viele Fallstricke bereithalten kann.

Die Morde an den Adlondamen

Tatsächlich macht es sich Grangé auch nicht leicht, indem er einen Widerstandskämpfer oder Opponenten des Systems zur handelnden Figur macht. Sein Protagonist Simon Kraus ist ein wirklicher Opportunist, der sich im Dritten Reich an den sogenannten „Adlondamen“ schadlos hält.

Diese Adlondamen treffen sich Nachmittag für Nachmittag im legendären Luxushotel und geben sich auch in Simons Praxis in der Nähe des Potsdamer Platzes die Klinke in die Hand. Er analysiert, erpresst und verführt die Damen reihenweise, die allesamt beste Verbindungen zur Elite der Nationalsozialisten haben.

Kraus genießt dieses riskante Spiel, ist die Psychoanalyse den Nationalsozialisten alleine schon aufgrund ihres jüdischen Begründers Sigmund Freud ein Dorn im Auge. Aber durch seine Beziehungen zu den Adlondamen und seinem umfangreichen Kompromats, das er in seiner Praxis gesammelt hat, fühlt sich Kraus sicher und spielt – auch verleitet durch sein im Gegensatz zu seinem Körperwuchs wahrlich nicht kleines Ego – ein riskantes Spiel.

Jene Verbindung zu den Adlondamen ist es, die ihn in den Fokus des SS-Hauptsturmbannführeres Franz Beewen geraten lässt. Dieser wird von seinen Vorgesetzten mit der Aufklärung eines brutalen Mordes an einer ebenjener Adlondamen betraut, mit der Simon Kraus eine Affäre pflegte. Die Frau selbst hat man brutal ausgeweidet und ohne ihre Schuhe auf der Museumsinsel in Berlin gefunden. Die erfolgversprechendste Spur scheint die eines rätselhaften Marmormannes zu sein, der der Dame kurz vor ihrem Tod im Schlaf erschien.

Auf der Jagd nach dem Marmormann

Jean-Christophe Grangé - Die marmornen Träume (Cover)

Bei diesem Mord wird es nicht bleiben. Im Bereich des Tiergartens und im Bereich des Bärenzwingers im Köllnischen Park in Berlin findet die Polizei weitere Leichen. Auch sie waren Teil der Adlondamen und pflegten mit Simon eine Affäre. Und auch sie berichteten beide von jenem Mamormann, der ihnen in den Träumen erschien.

Nachdem es so etwas wie Serienmörder in einem durchgeregelten Reich wie dem der Nationalsozialisten nicht geben darf, insbesondere, wenn sich dieser an der Haute volée des Dritten Reichs vergeht, muss der an Ptosis leidende Beewen nun also liefern und den Mörder zur Strecke bringen. Dafür tut er sich mit Simon zusammen, der überzeugt ist, den Mörder durch das Unterbewusstsein seiner Patientinnen zu finden.

Verstärkung finden sie durch die Dritte im Bunde, die adlige Analytikerin Minna von Hassel, die vor den Toren Berlins die Nervenheilanstalt Brangbo leitet, wo zahlreiche Opfer des Ersten Weltkriegs behandelt werden. Sie findet in den Unterlagen zu ihrer Forschung eines erste erfolgsversprechende Spur, die sie zur Identität des Marmormannes führen könnte.

Ein typischer Grangé

Die marmornen Träume ist ein typischer Roman von Jean-Christophe Grangé, der alle Elemente aufweist, die die Thriller des Franzosen so besonders machen. Da ist zunächst die überbordende Fantasie, die sich nicht nur in der Länge des Buchs von fast siebenhundert Seiten niederschlägt. Höchst detailliert lässt er das Berlin des Jahres 1939 wieder auferstehen. Von den letzten queeren Clubs am Nollendorfplatz über die Filmstudios Potsdam-Babelsberg bis hin zu den Kellern der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße 8 oder dem Kriegsinvalidenaufmarsch vor dem Rathaus Reinickendorf spannt Grangé seinen Bogen, der das architektonische Berlin seiner Zeit genauso wie die damaligen (Sub-)Kulturen noch einmal auferstehen lässt.

Nun bin ich weder Fachmann für die Historie des Dritten Reichs, noch für die Berliner Stadtgeschichte – die große Detailtiefe und Beschreibungskraft von Jean-Christophe Grangés Noir-Fantasie von Film über Kunst bis hin zu Abläufen innerhalb des SS-Apparats fällt hier aber wirklich ins Auge (wozu ich persönlich gerne auch weitere Informationen über Recherche oder Quellen für seine Arbeit erhalten hätte. Hier aber schweigt sich der Autor aus und gönnt dem Roman noch nicht einmal eine Danksagung.)

Kreativität und Brutalität

Typisch ist dieser Grangé neben aller Detailtiefe und Fantasie aber auch wieder in Sachen Brutalität. Der Mörder, der die Bäuche seiner Opfer ausweidet. Die Pogrome, die Gewalt gegen Sinti und Roma, Menschen mit geistiger Behinderung und die Brutalität der Ermittlungen schildert Grangé detailliert und manchmal geradezu voyeuristisch. Immer wieder blitzt diese Gewalt in die Ermittlungen hinein, verstört und lässt zurückzucken. Übertrieben ist dies alles allerdings leider nicht, blickt man etwa auf die Forschungen Josef Mengeles, der hier im Buch einen ziemlich deutlichen Doppelgänger erhält, dem allerdings ein anderes Ende als dem historischen Vorbild beschieden ist.

Wer die Grangé-typische Gewalt und das Setting abkann, das hier deutlich mehr als nur Kulisse, sondern vitaler Teil dieses Buchs ist, der bekommt einen hochspannenden Roman zu lesen, bei dem nicht nur erfahrenen Krimileser*innen schwanen dürfte, dass mit der Unschädlichmachung des Täters etwa in der Mitte dieses Thrillers die Tätersuche natürlich noch lange nicht abgeschlossen ist, wenngleich man darüber streiten kann, ob es den Epilog mit seiner letzten Wendung oder manch comcihaften und überzeichneten Zug seiner Figuren dann unbedingt noch gebraucht hätte.

Fazit

So oder so gelingt es Jean-Christophe Grangé mit diesem düsteren Ausflug in die Historie, in Sachen Kreativität, Ambition und erzählerischem Sog an Glanztaten vergangener Tage wie etwa die Kongo-Dilogie (Purpurne Rache und Schwarzes Requiem) oder Das Herz der Finsternis anzuknüpfen. Sein gewaltgesättigter Thriller, in dem die Brutalität immer wieder durchblitzt, ist wirklich schmutzig und Noir pur.

In Die marmornen Träume inszeniert ein düsteres Berlin, das hier zu keinem Zeitpunkt wie ein Kulissenfilm wirkt, vielmehr gelingt es ihm, die Stadt in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit und mitsamt unzähliger Schauplätze zum Leben zu erwecken. Dabei schreckt er auch nicht vor der Wahl von SS-Hauptsturmführer oder Anstaltsleiterin als erzählerischen Figuren zurück. Eine Gratwanderung, die man Grangé als als Franzose sicherlich eher nachsieht als deutschen Autor*innen.

Für mich funktioniert die Mischung, die mich in ihrer ganzen Opulenz, Spannung, Komplexität, Brutalität und Zeitkolorit sehr eingenommen hat. Zudem bin ich wirklich interessiert, ob und mit welchen Ansätzen dieser Thriller hier am Schauplatz und Täterland diskutiert werden wird. Man darf gespannt sein.


  • Jean-Christophe Grangé – Die marmornen Träume
  • Aus dem Französischen von Ina Böhme
  • ISBN 978-3-608-50171-1 (Tropen)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €
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Vincenzo Latronico – Die Perfektionen

Macht ein instagramables Leben in einer Berliner Altbauwohnung mit Möbeln von Modulor, stahlgebürstetem Espressokocher auf der Kochinsel und dem richtigen Lichteinfall wirklich glücklich? Vincenzo Latronico dekonstruiert in seinem neuen Roman Die Perfektionen kunstvoll die Lebensentwürfe zweier junger Menschen und zeigt die Sinnsuche eines typischen Paars der Generation New Work.


„Vincenzo Latronico hat den Berlinroman wiederauferstehen lassen – lakonisch, satirisch, glänzend.“

Rückumschlag von Die Perfektionen

Mit diesem Zitat lässt sich Theresia Enzensberger auf dem Umschlag des neuen Romans von Vincenzo Latronico zitieren und man muss sich schon fragen, wie Theresia Enzensberger zu ihrem Befund des nach ihren Worten des bislang toten Berlinromans gelangt. Egal ob Anke Stelling, Lutz Seiler, Johannes Groschupf, Eva Lapido oder gefühlt die Hälfte der Nominierungen des Deutschen oder Leipziger Buchpreises in den vergangenen Jahren. Von einer Flaute des Berlinromans konnte und kann man nicht sprechen. Vielmehr ist dieses Genre doch eines der vitalsten in der deutschen Gegenwartsliteratur. Aber sei’s drum.

Mit Vincenzo Latronico legt nun ein Autor einen Berlinroman vor, der zwar in Italien geboren wurde, aber seit einiger Zeit in Berlin lebt. Dass die Stadt für ihn mehr als ein schierer Wohnort ist, das zeigt Die Perfektionen beeindruckend. Denn darin durchdringt er die Stadt in ihrer ganzen Tiefe, hinterfragt das hippe Potential der Hauptstadt und legt fast so etwas wie eine soziologische Tiefenbohrung in Sachen Lebensweise, Kapital und gesellschaftlicher Bindung junger Expats vor, zu denen Latronico selbst zählt.

Expats in Berlin

Es ist noch nicht allzu lange her, da beschwerte sich das CDU-Präsidiumsmitglied Jens Spahn, dass in vielen Berliner Cafés und Kneipen die Kellner*innen eher Englisch denn Deutsch sprechen würden. Wolfgang Thierse ärgerte sich über Wecken, die ihm statt Schrippen in Bäckereien angeboten würden – und immer rufen solche medial vielfach verbreiteten anekdotischen Unmutsbekundungen ein großes Echo hervor.

Vincenzo Latronico - Die Perfektionen (Cover)

Berlin hat sich schon längst zu einer Großstadt entwickelt, die ebenso diverse Klischees kennt, wie sie unterschiedliche Bewohner*innen beherbergt. Von der nicht funktionierenden Verwaltung bis hin zu tätowierten Hipstern auf Gravelbikes, Café-Rösterei voller Latte Macchiato-Mütter, Co-Working-Spaces, Galerien und dazu noch das sagenumwobene nächtliche Clubleben vom Berghain bis zum Tresor. Manchmal hat man gar den Eindruck, dass sich diese Berlin-Erzählungen schon längst zu einem eigenen Genre verselbstständigt haben, das mit jedem Bashing und Aufreger neu gefüttert wird und das stets Aufmerksamkeit erhält.

Mit Anna und Tom stellt Vincenzo Latronico nun ein Paar in den Mittelpunkt seines Romans, das wie die Quintessenz vieler dieser Berlinklischees wirkt. Wie Latronico selbst stammen sie nicht gebürtig aus Deutschland, haben sich aufgrund des zukunftsträchtigen Images und der damals noch erschwinglichen Mieten in Berlin niedergelassen. Als Kreative sind sie zeitgleich mit dem Internet erwachsen geworden, wie es an einer Stelle des Romans heißt.

Sie machen irgendwas mit Medien und basteln für ihre Auftraggeber*innen Homepages und Stylesheets von zuhause aus. New Work in einer instagramablen Umgebung voller durchkomponierter Details und Insignien des guten Geschmacks, das kennzeichnet ihre Wohnung in Neukölln, die Latronico zu Beginn des Romans hingebungsvoll beschreibt. Angesichts dieses zugleich lässigen wie mustergültigen Interiordesigns ihrer Wohnung dauert es nie lange, bis die beiden für Urlaubszeiten über eine Vermittlungsplattform Zwischenmieter für ihre Bleibe finden.

Jung, mobil – aber ohne Sinn

Anna und Tom sind jung, mobil, unabhängig und verdienen durch ihr Tun nicht schlecht. Ihr persönliches Umfeld ist aber alles andere als stabil, da sie ein Teil der höchst fluiden Expatgemeinde sind. Sie sind in den Kiezen unterwegs, kennen sich in Berlin aus und lassen sich durch die Nächte treiben. Sie besuchen Clubs und fallen wie Heuschrecken bei den neuesten Galerieeröffnungen ein (die dann in der Expatgemeinde ob ihrer Beliebtheit informell schon mal als „Italienische Botschaft“ getauft werden, so sehr ziehen sie ihr globales Expat-Publikum an).

Statt Deutsch ist Englisch die Konversationssprache der beiden Berliner*innen und ihres Umfelds, womit sie Jens Spahn höchstwahrscheinlich entzürnen dürften. Und auch vom Unterschied zwischen Wecken und Schrippen haben sie noch nichts gehört. Ihre Lebensrealität ist eine ganz andere.

In Berlin lebten Anna und Tom in jeder Hinsicht in einer Blase, die kleiner und abgesonderter war als die, die sie sich in den sozialen Netzwerken schufen. In gewissem Sinne hatten sie sich radikalisiert. Sie sprachen ein wackeliges Englisch mit anderen, deren Muttersprache ebenfalls eine andere war. Sie lebten in einer Welt, in der alle eine Line Koks annahmen, aber niemand Arzt oder Konditor oder Taxifahrer oder Mittelschullehrer war. Sie zogen ausschließlich durch Wohnungen voller Pflanzen und durch Cafés mit eiwandfreiem WLAN. Auf lange Sicht kam man zu dem unvermeidlichen Schluss, dass es nichts anderes gab.

Vincenzo Latronico – Die Perfektionen, S. 71

Es ist wirklich eine Blase, in der die beiden jungen Menschen wie außerhalb der Zeit leben und arbeiten. Tiefe Freundschaften gibt es nicht – und auch ein Gefühl der Heimat kennen Anna und Tom nicht, wird es sie doch im Laufe des Romans noch an andere Schauplätze verschlagen, denen allen ein entscheidender Faktor fehlt: der der Verbundenheit.

Unverbindlich und unkonkret

Alles was sie tun, es bleibt doch Fassade genauso wie die Wohnung, die auf den zweiten Blick weit weg von der erhofften Perfektion ist. Nichts verheißt hier einen tieferen Sinn. Bezeichnenderweise sind es auch die beiden Hauptfiguren, die ebenso unkonkret wie ihr Platz im Leben bleiben. Wo sie herkommen, was sie geprägt hat, was ihre Wünsche und Sehnsüchte sind, alles bleibt doch sehr ungreifbar und im Vagen.

So ist es vor allem auch das Gravitationszentrum, das dieses Paar zusammenhält, vielmehr ein Vakuum, so wie es Vincenzo Latronico mit einer nahezu klinisch-deskriptiven (und völlig dialogfreien) Sprache und Betrachtungsweise schildert. Man lebt zwar irgendwie eine offene Beziehung, aber für Tiefe oder mehr Verbundenheit sorgt auch das nicht. Ihre Lebensentwürfe sind genauso wie ihre gesellschaftlichen Bindungen belanglos und alles andere als sinnstiftend.

In ihren Kreisen ist man zwar irgendwie für Klimaschutz und gegen Tierleid und irgendwie links, aber so richtig konkret ist das alles nicht. Sinnbildlich ist die Hilfe, die Anna und Tom in Sachen Willkommenskultur im Rahmen der Flüchtlingskrise 2015 leisten wollen. Sie designen einen wohlgesetzten Flyer und wollen bei der Vermittlung zwischen Geflüchteten und Einheimischen helfen. Doch die Flyer landen schnell auf dem Boden, ist doch das Handy das Mittel der Wahl. Und mit ihren mangelhaften Deutschkenntnissen sind sie auch weder den Geflüchteten noch den professionellen Helferinnen eine Hilfe, sodass sie allen eher etwas im Wege herumstehen und ihre Hilfe stillschweigend schnell wieder einstellen.

In Szenen wie dieser zeigt Vincenzo Latronico griffig, wie weit der eigene Anspruch und die Realität auseinanderklaffen. Die Perfektionen, Tom und Anna sind doch weiter von ihnen entfernt, als sie es wahrhaben möchten und wie es auch die abstrakte Gestaltung des Covers treffend zeigt. Ein stahlgebürsteter Espressokocher auf der Kochinsel macht dann eben doch auch nicht glücklich, wie Vincenzo Latronico hier eindrücklich vor Augen führt.

Fazit

Ihm gelingt es mit Die Perfektionen für meine Begriffe sehr gut, dem Zeitgeist der Unverbindlichkeit und der Rastlosigkeit der globalisierten Gegenwart nachzuspüren und diesen in literarischer überzeugender Form einzufangen. Ein Roman von analytischer Schärfe und überzeugenden Form, der vom fehlenden Sinn der Hochglanzexistenz instagramabler Digitalnomaden im hippen und multinationalen Berlin erzählt. Tief lässt uns Vincenzo Latronico hier in das Innere eines prototypischen Paares blicken. Dort findet er zwar nichts Nenneswertes – dafür zählt dieser Roman aber selbst zu den nennenswerten Entdeckungen dieses Frühjahrs!


  • Vincenzo Latronico – Die Perfektionen
  • Aus dem Italienischen von Verena von Koskull
  • ISBN 978-3-546-10069-4 (Claassen)
  • 128 Seiten. Preis: 22,00 €
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