Mit den Titeln aus dem Hause Diogenes hatte ich in letzter Zeit kleine Probleme. Über Titel wie Bernhard Schlinks neuen Roman Olga oder Leinsee von Anne Reinecke schrieb ich, sie seien Flutschbücher. Bücher also, die gut konsumierbar sind und sich weglesen, die aber keine Langzeitwirkung entfalten. Bücher, denen Reibungsflächen und Widerhaken fehlen, um sich im literarischen Gedächtnis zu verankern. Eher Fälle von gut gemachtem literarischen Fast-Food denn wirklichen Drei-Gang-Menüs.
Und nun kommt im Taschenbuch Stefan Hertmans Krieg und Terpentin daher – und dieses Buch entschädigt für so vieles. Schon die englische Übersetzung dieses Titels hatte ich auf meinen Wunschzettel gepackt. Doch statt auf Englisch lässt sich das Buch nun dank Übersetzerin Ira Wilhelm auch auf Deutsch lesen. Sie hat das Buch des Belgiers Hertmans aus dem Niederländischen übertragen und macht damit ein ganz und gar großartiges Buch zugänglich.
Hertmans versucht in Krieg und Terpentin eine Annäherung an seinen Großvater, dessen Leben er nacherzählt. Dies tut er mithilfe von Tagebüchern, die sein Großvater Urbain erstellte und über das Hertmans Zugang zu ihm fand. Denn es sind tatsächlich die beiden titelgebenden Spannungsfelder des Kriegs und des Terpentins, zwischen denen sich das Leben von Urbain abspielte.
Erinnerungen an den eigenen Großvater
Stefan Hertmans Erinnungen an seinen Großvater sind geprägt von dessen Malerarbeiten, die er in seinem heimischen Atelier ausführte. Stets zog sich sein Großvater in seinen Arbeitsraum zurück und malte Szenen, die ihm mal besser, mal schlechter gelangen. Doch welche Tragik und Wucht die Geschichte seines Ahnen barg, davon erfährt Hertmans erst spät durch die Tagebücher und Notizen, die ihm einen völlig neuen Zugang bieten. Abwechselnd von sich und aus der Sicht seines Großvaters berichtend, erzählt der Belgier von Urbain, seiner Familie und seinem Werdegang.
Aufgewachsen in bitter armen Verhältnissen musste er schon bald für den Unterhalt seiner Familie sorgen. Dies tat er unter körperlich anstrengendsten Verhältnissen in einer Genter Eisengießerei. Doch diese Tätigkeit muss Urbain schon bald ruhen lassen, denn 1914 beginnt der Erste Weltkrieg. Durch das Eintreten der Belgier in den Krieg muss auch Urbain sein Land gegen die Deutschen verteidigen und erlebt Unfassbares. Die täglichen Schrecken des Krieges, Verwundungen, die Schlacht an der Yser – seinem Tagebuch vertraut er schier Unmenschliches an.
Doch die Erlebnisse nach dem Krieg, sein künstlerisches Schaffen und nicht zuletzt die tragische Liebe sind Elemente in seinen Erinnerungen und werden in Krieg und Terpentin verhandelt. Wie Stefan Hertmans dabei die Annäherung an seinen Großvater gestaltet, das berührt tief.
Das Buch besitzt eine große emotionale Tiefe, sowohl was die Erlebnisse Urbains als auch die zwischenmenschlichen Beziehungen angeht. Über das Buchende hinaus entfaltet das Buch eine Tiefenwirkung und ist Mahnmal und Familienerinnerung zugleich. Für mich ist dieses Buch klar zwischen Oskar Maria Grafs Das Leben meiner Mutter und Erich Maria Remarquez Im Westen nichts Neues verortet. Genau einhundert Jahre nach dem Ende des unfassbaren (aber immer im Schatten des folgenden) Weltkriegs ein echtes Mahnmal, das die Schrecken des Krieges neu und plastisch erscheinen lässt. Ein Buch von großer Strahlkraft und Tiefe und damit das Gegenteil eines Flutschbuchs – eines jener Bücher, denen ich in diesem Jahr von Herzen einen durchschlagenden Erfolg wünsche!
[Quelle Titelbild: les_troupes_belges_allant_de_St-Trond_à_Tirlemont, publication de l’hebdomadaire Le Miroir, CC BY-SA 3.0]