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Leon Engler – Botanik des Wahnsinns

Was tun, wenn es in der ganzen Familie psychologische Erkrankungen und wahnhaftes Verhalten gibt? Der Erzähler in Leon Englers Debüt Botanik des Wahnsinns tut das Konsequente: er geht in die Psychiatrie. Das allerdings als Arzt und nicht als Patient.


Viel ist es nicht, das vom Leben übrigbleibt. War es bei Ricarda Messners Debüt Wo der Name wohnt nur das Klingelschild, das nach der Wohnungsauflösung den sichtbaren Hinweis auf die Existenz der eigenen Großmutter lieferte, so ist der Erzähler in Leon Englers Debüt nun mit einigen Kisten an Hinterlassenschaften beschäftigt, die sich ihm sieben Jahre nach ihrer Einlagerung wie eine Zeitkapsel präsentieren. Beim Öffnen wird er mit der eigenen Familiengeschichte und deren Besonderheiten konfrontiert.

Am Ende bleiben sieben Kartons. In diesen Kartons, gestapelt in einem dunklen Lagerabteil in Wien, befinden sich ausgerechnet die Dinge, die meine Mutter aussortiert hatte: alte Rechnungen, Steuererklärungen, Müll.

Ich gehe die Kartons durch. Einer davon ist randvoll mit ungeöffneten Briefen. Schreiben von Inkassobüros und Anwälten, Vollstreckungsbescheiden und fristlose Kündigungen. Ihre Bedrohlichkeit haben die Briefe längst verloren. Die Poststempel darauf sind sieben Jahre alt. Ich setze mich auf den Boden, öffne den ersten Brief. Das Licht geht aus. Ich hebe meinen Arm. Das Licht geht wieder an.

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 7

Alle Plagen aus den Bibeln der Psychiatrie

Die eingelagerten Kisten sind Spuren eins zunehmend aus den Fugen geratenen Lebens, das nicht das einzige in der Familie des Erzählers ist. Denn in Botanik des Wahnsinns spürt der Erzähler den einzelnen Figuren seiner Familie bis in die Großelterngeneration hinein nach – und allem, was sie dabei verband. Denn psychologischen Krankheiten und auffälligen Symptome ziehen sich durch die Generationen. Die Aufzählung der psychologischen Auffälligkeiten, die der Erzähler seinem Wiener Nachbarn offenbart, gerät so mehr als eindrücklich:

Eines Tages erzähle ich ihm von meiner Furcht, verrückt zu werden. Der Nachbar lacht nur. Wir zeichnen einen Stammbaum und überschlagen, mit welcher Wahrscheinlichkeit mich welches Schicksal ereilen könnte: Schizophrenie? Sucht? Depression? Bipolare Störung? Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist. In wessen Fußstapfen soll ich treten? Welche verirrte Linie weiterführen? Die Depression meines Vaters? Die Schizophrenie meines Großvaters? Die Todessehnsucht meiner Großmutter? Die Abhängigkeit meiner Mutter?

Leon Engler – Botanik des Wahnsinns, S. 22

Doch nicht nur die Familie ist schon längst zerfallen, auch sein kurzer Text springt von Vergangenem zur Gegenwart, vom eigenem Erleben des Erzählers hin zu den Erinnerungen an seine Familie. Dadurch zerfällt der Text zwar strukturell, bildet aber dennoch ein Ganzes.

Depressionen, Schizophrenie und suizidale Tendenzen

Leon Engler - Botanik des Wahnsinns (Cover)

In seinen kurzen Kapiteln widmet sich der Erzähler all den familiären Figuren und nimmt ihre Eigenheiten und ihre jeweiligen Wesen und Kämpfe mit ihren Krankheiten in den Blick.

Die Mutter, die als Journalistin reüssierte, ein mondänes Leben führte und dann doch in einer zwangsgeräumten Wohnung in Wien endet, der Vater, der sich von der Mutter trennt und Zeit seines Lebens mit den eigenen Dämonen der Depression kämpft, all diese Figuren aus dem familiären Kosmos stellt der Erzähler in seinem Buch vor, blickt dabei aber auch auf seine eigene Position in diesem Kosmos und seine Befürchtungen, den psychologischen Dispositionen ebenfalls zu erliegen.

Sein Lebenswandel hin zu einem Studium der Psychologie (was den Erzähler mit dem Autor Leon Engler selbst verbindet), der dann folgende Alltag als Therapeut in einer psychiatrischen Einrichtung (was wiederum an Joachim Meyerhoffs Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war erinnert), verbunden mit allgemeinen Reflektionen über das „Normale“ und das „Verrückte“, all das fügt sich zu den Porträts seiner Familie und gibt einen Eindruck vom breiten Spektrum psychischer Verfasstheit, auf dem sich Englers Figuren an ganz unterschiedlichen Stellen einsortieren.

Die Überwindung der Sprachlosigkeit

In seinem manchmal fast ein wenig zu sehr auf Pointe oder eine markante Punchline geschriebenen Text gelingt dem Erzähler das, was er am Ende des Buchs als sein erzählerisches Anliegen formuliert. Die Sprachlosigkeit, in der sich die Mitglieder seiner Familie immer wiederfanden, er überwindet sie mit seinem Erzählen und verschafft ihr so eine Geschichte, weit über bloße sieben Kisten in einem Abstellraum in Wien hinaus.

Botanik des Wahnsinns ist der Blick auf eine besondere Familie und ihre Kämpfe und Probleme – und der Beweis, wie Literatur Stigmata überwinden, Verständnis schaffen und ein literarisches Familienalbum schaffen kann, das für die dunklem Töne ebenso Raum vorsieht wie für das Helle.


  • Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
  • ISBN 978-3-7558-0053-8
  • 206 Seiten. Preis: 23,00 €

Helen Rebanks – Die Frau des Farmers

Memoir, Beschreibung der bäuerlichen Lebenswelt und Kochbuch zugleich – Helen Rebanks gibt in ihrem Buch Die Frau des Farmers Einblick in ihr Leben als Bäuerin und Mutter. Und schafft damit gleich noch einen interessanten Gegenschuss zum vor knapp zehn Jahren erschienenen Bestseller ihres Mannes James Rebanks.


Bäuerliches Leben, das ist keine pastorale Idylle. Mutterschaft schon gar nicht – das zeigt Helen Rebanks in ihrem Buch eindrücklich. Zusammen mit ihrem Mann James leben sie mit ihren vier Kindern auf einem abgelegenen Hof im nordenglischen Cumbria, wo ihr Mann Herdwickschafe züchtet.
Von dieser Aufgabe und den wenig romantischen Seiten des Schafzüchterdaseins erzählte James Rebanks bereits in seinem Buch Mein Leben als Schäfer, das zum Bestseller avancierte. Eine Betrachtung über sein englisches Bauernleben und die Geschichte der von der Familie bewirtschafteten Farm folgte.

Nun aber wirft Helen Rebanks ihren Blick auf den Alltag und ihrer Familie und beleuchtet damit die Aspekte des Lebens, die ihr Mann in seinen Werken eher aussparte. Die erzwungene Pause des ganzen Lebens infolge der Corona-Pandemie nutzte sie, um erste Gedanken und Skizzen über ihr Leben und Werden niederzuschreiben.

Für mich war es das erste Mal, dass ich über die Welt um mich herum so richtig nachdenken konnte. Ich hörte auf, ständig irgendetwas hinterherzujagen und ausschließlich im „Tun“ zu sein. Stattdessen habe ich das Leben, das wir uns auf dem Hof aufgebaut haben, sehr bewusst wahrgenommen. Ich hatte Zeit, darüber nachzudenken, woher ich gekommen bin und warum ich getan habe, was ich getan habe. Zum ersten Mal seit langer Zeit habe ich mich auf mich selbst konzentriert und das Schreiben als Möglichkeit genutzt, meine Gedanken und Vorstellungen auszudrücken.

Helen Rebanks – Die Frau des Farmers, S. 407

Vom Leben als Bäuerin, Köchin und Mutter

Helen Rebanks - Die Frau des Farmers (Cover)

Schon der Titel von Rebanks Buch zeigt sich die Definition ihrer Rolle über ihren Mann – was sich im Inneren fortführt, in dem Rebanks einen ehrlichen und ungeschönten Blick auf die Beziehung wirft, die die beiden eingegangen sind und die im Lauf der Zeit mal besser, mal schlechter funktioniert.

Zurückblickend auf ihre eigene Kindheit erzählt Helen Rebanks von ihrer kindlichen Entdeckung der weiten Welt der Kulinarik – und vom Kennenlernen ihres Mannes, der so ein anderer Farmer ist als all die übrigen Bauern in ihrem Lebensumfeld. Gemeinsam beziehen die beiden eine Wohnung in Oxford und erproben das Leben als Partner. Es wird die erste Immobilie in einer ganzen Reihe an Wohnungen und Häusern sein, die sie immer näher an die Heimat der beiden in Cumbria heranführen wird.

Mehrmals beziehen sie neue Zuhause, renovieren und ziehen doch wieder um, während die ersten beiden Kinder zur Welt kommen. Von den Schwierigkeiten der Beziehung in jener Zeit erzählt Rebanks ausführlich. Unterbrochen von immer wieder eingestreuten Rezepten (ein Kennzeichen des ganzen Buchs) erzählt sie von Überlastung, vom Kampf an mehreren Fronten mit Immobilienproblemen, finanziellen Engpässen und mehr als ungleich verteilter Sorgearbeit. Ihr täglicher Alltag, den der Buchuntertitel Mein Leben in einem Tag suggeriert, kommt wenig vor, stattdessen besteht das Buch überwiegend aus Rückblenden, die neben knappen biografischen Wegmarken vor allem die Schwierigkeiten des familiären Lebens ausführlich beleuchten.

Dominierende innerfamiliäre Themen

Während ihr Mann ausführlich von seinem Alltag als Schäfer und den Herausforderungen der Schafzucht erzählt, sind es bei Helen Rebanks die innerfamiliären Themen, die in Die Frau des Farmers dominieren.

Als progressive Schrift hin zu einem neuen, gleichberechtigten familiären Miteinander von Mann und Frau dient Die Frau des Farmers nur bedingt. Der Mann als Ernährer der Familie und die Frau als Betreuerin der Kinder und als ständige Köchin am Herd – hin bis fast zur Selbstaufgabe, Rebanks Buch hat diesem alten Rollenbild wenig entgegenzusetzen. Die beiden leben ein althergebrachtes und zumeist funktionierendes Beziehungssystem, das in seiner traditionellen Lebensweise durchaus Klischees erfüllt.

So wartet im Gegensatz zum auf den beruflichen Alltag zentrierten Buch ihres Mannes ihr Werk mit über fünfzig Rezepten auf. Diese reichen, die von Frühstücksideen für die Familie bis hin zur Rezepte der Schweinshaxenbrühe für 70 Bauern und zeigen Helen Rebanks als kreative wie auch traditionelle Versorgerin und Köchin in der Tradition ihrer Vorfahren. Überhaupt, die Tradition. Am Ende des Buchs finden sich dann ausführliche hauswirtschaftlichen Ratschläge in Form von Listen für die Vorratskammer oder das Gefrierfach, die auch jede Tradwife glücklich machen dürften.

Als ungeschönten Blick auf die Herausforderungen, die Familie bedeutet, ist ihr Buch aber durchaus bemerkenswert. Bäuerliches Leben kommt wie der familiäre Alltag eher am Rande vor, dafür ist das Buch stark, was die Beschreibung der Selbstaufgabe und die partnerschaftlichen Kämpfe, anbelangt. Familie ist eben nie ein perfektes Bild von Gemeinschaft, sondern bedeutet auch Erschöpfung und Niederlagen. Auch romantisiert Helen Rebanks den Alltag dort in der Einsamkeit Cumbrias nicht. So spielt die Keulung von Tieren infolge einer Pandemie oder das Festsitzen auf dem autarken Hof inmitten von Schneemassen, die so gar nichts von Winteridylle als vielmehr von Überlebenskampf hat, in ihrem Buch auch eine große Rolle.

Fazit

Gesellschaftlichen Fortschritt findet man in Helen Rebanks Buch nur in Form des ungeschönten Blicks auf die Herausforderung, die Mutterschaft und ein traditionelles Familienbild bedeuten kann. Dennoch ist diese Form des Zusammenlebens eine, die die Autorin aber doch auch erfüllt, wie zumindest die kurzen Einsprengsel im Text hoffen lassen. Der Mann als Ernährer, die Frau als Köchin, die althergebrachte Ordnung bestätigt Die Frau des Farmers an vielen Stellen des Textes – wartet aber auch mit Rezeptideen und Illustrationen von Eleanor Crow auf.

So ist dieses Buch eine Wundertüte, die mit unterschiedlichsten Themen von selbstkritischem Memoir, Helen Rebanks Blick auf den bäuerlichen Alltag und die ihr wichtigen Themen, Kulinarik bis hin zur Beschreibung bäuerlicher wie partnerschaftlicher Tradition aufwartet.


  • Helen Rebanks – Die Frau des Farmers – Mein Leben in einem Tag
  • Aus dem Englischen von Nastasja S. Dresler
  • ISBN 978-3-608-96673-2 (Klett Cotta)
  • 416 Seiten. Preis: 24,00 €

Yuko Kuhn – Onigiri

Familie, Migration und die Frage nach Identität sind Themen, die die deutschsprachige Gegenwartsliteratur scheinbar schon bis zur Erschöpfung verhandelt hat. Yuko Kuhn bearbeitet den Themenkomplex in ihrem Debüt Onigiri nun ein weiteres Mal – und findet einen unverbrauchten Zugang zum Thema. Denn in ihrem kurzweiligen Buch steht eine Familie zwischen Gestern und Heute, Erinnerungen und Vergessen, Aufbruch und Tradition, vor allem aber zwischen Japan und Deutschland im Mittelpunkt.


Neun Tage, so lange will die Erzählerin Aki noch einmal mit ihrer Mutter Keiko von Deutschland aus zurück nach Japan fliegen, das Land ihrer Vorfahren. Einst kam Keikos Mutter nach Deutschland, um sich vor Ort zur verlieben, Japan den Rücken zu kehren und fortan nur noch sporadisch mit ihren Verwandten in Kontakt zu stehen. Doch dann kommt die Nachricht, die alles durcheinanderwirbelt und Aki die Flüge buchen lässt.

Yasuko lebt nicht mehr. Sie ist einfach gestorben und wir haben es gar nicht gemerkt. Meine Mutter hat irgendwann aufgehört, ihre Familie in Japan anzurufen, erst war sie zu müde, dann wurde sie über die Jahre zu vergesslich dafür. Es kommen auch schon lange keine Pakete mit getrockneten Algen mehr. Yasuko lebt sicher noch, sagte meine Mutter immer, sonst hätte ihr Bruder sich auf jeden Fall bei ihr gemeldet.

Yuko Kuhn – Onigiri, S. 9

Sie lebt aber eben doch nicht mehr, nur hat es die Nachricht von Japan lange Zeit nicht nach Deutschland geschafft, sodass die Nachricht jetzt umso überraschend und emotional unmittelbarer bei Keiko eintrifft. Zusammen mit ihrer mittlerweile in einem Wohnstift lebenden, stark dementen Mutter bricht sie per Flugzeug in Richtung Osaka auf, um Abschied von ihrer Mutter und Großmutter zu nehmen – und sich zu erinnern.

Wieder einmal zeigt sich dabei, dass eine Reise zwar weit weg führen kann, sie doch auch immer eine Reise zu sich selbst ist. In Akis Fall lernt sie durch den Trip nach Japan ihre Wurzeln und die Verbindung ihrer Mutter zu diesem Land kennen, aus dem sie vor vielen Jahren aufgebrochen ist, um in Deutschland eine Familie zu gründen.

Ein Roman als Erinnerungs-Kintsugi

Yuko Kuhn - Onigiri (Cover)

Onigiri ist ein Buch, das das Erinnern als eine Art literarisches Kintsugi betreibt. Jene japanische Kunst veredelt zuvor zerbrochene Keramik- und Porzellangefäße mit einer speziellen meist goldhaltigen Mischung, sodass Scherben wieder zu einem ganzen Kunstwerk mit einem neuen, unverwechselbaren Aussehen werden.

Ein ganzes Stück weit betreibt auch Yuko Kuhn mit ihrem Text ebenfalls diese Kunst. Denn durch Akis Reise und die dadurch freigelegten Erinnerungen taucht sie tief in jene Welt ein, die für ihre demente Mutter nur noch in Teilen und Splittern besteht. Nicht nur, dass die gemeinsame Reise langsam ein zuvor nur in Bruchteilen bestehendes Bild ihres eigenen Mutter und deren Leben zwischen Japan und Deutschland zusammenfügt – und arbeitet Aki damit für die eigene Familie den schwindenden Erinnerungen entgegen, die die Erzählung ihrer Familie und damit auch das Wissen um die eigenen Wurzeln bedroht.

Darüber hinaus finden weitere familiäre Splitter in Onigiri zusammen. Da ist Keikos Mann und Vater von Aki und ihrem Bruder Kenta, von dem sich ihre Mutter schon vor Jahren getrennt hat. Da ist die Kluft zwischen ihrer eigenen Mutter und den nobel-distanzierten Schwiegereltern, die zur Oberschicht gehören, alle typischen Ingredienzien von Villa bis zu Montblanc-Füllern als Geschenk inklusive – oder auch die Frage, warum ihr Bruder so ganz anders als Aki selbst ist und einen anderen Lebensentwurf gewählt hat.

Brüche, Unterschiede und Differenzen

Das Unverständnis jener Schwiegereltern für die Beziehung, die selbstgewählte Distanz zu ihrer eigenen Heimat, die Schwierigkeiten einer Anpassung im fremden Land und eine Elternschaft in Trennung, all das ruft das Erzählen in diesem Text wach, während sich Aki und Keiko durch das Land ihrer Familie und Vorfahren bewegen und ihre japanische Familie noch einmal neu kennenlernen.

Voller Brüche, Unterschiede und Differenzen sind die Leben und Biografien, die die Erzählerin betrachtet und mit ihrem Erinnern und den Schriftzeichen ein Stück weit überwindet, heilt und veredelt, ganz wie die japanische Kunst der Porzellanreparatur.

So wird diese Suche nach Identität und Herkunft, Erinnerung und Bewahrung dieser Erinnerung zu einer gelungenen Reise und einem gelungenen Roman, mit dem Yuko Kuhn debütiert. Viele Themen klingen in dem mit japanischen Begriffen gegliederten Roman an, dem es gelingt, den eingangs erwähnten und vielfach bearbeiteten Themen von Familie, Herkunft und Identität doch auch neue Facetten abzuringen und so zu überzeugen.


  • Yuko Kuhn – Onigiri
  • ISBN 978-3-446-28311-4 (Hanser Berlin)
  • 207 Seiten. Preis: 23,00 €

Nina Bußmann – Drei Wochen im August

Sommer, Sonne, Waldbrand. In ihrem Roman lässt die Schriftstellerin Nina Bußmann Teile einer Familie in den Urlaub nach Frankreich fahren, wo sie so einiges finden – Erholung zählt aber nicht dazu. Vielmehr dominieren zwischenmenschliche Spannungen, undurchsichtige Menschen und nicht wirklich klare Beziehungen. Und dann bedrohen auch noch Waldfeuer die geplante Idylle der Drei Wochen im August.


Es klang zu verlockend, das Angebot, das Ali ihrer Freundin und Angestellten Elena unterbreitet. Ihre Partnerin verfüge über ein Haus in Atlantiknähe in Frankreich, habe aber nicht mehr lange zu leben und befinde sich in medizinischer Behandlung. Im Sommer stünde das Haus deshalb leer. Ob Elena mit ihrer Familie nicht das Domizil beziehen wolle, um dort ihren gemeinsamen Urlaub zu verbringen?

Tatsächlich nimmt Elena das verlockende Angebot an, um mit ihren Kindern Rinus und Linn dort am Meer entspannte Wochen im August zu verbringen. Doch schon das Wort Familienurlaub führt etwas in die Irre. Denn Elenas Mann Kolja reist nicht mit in das wohlkuratierte Haus am Meer. Er will noch Handwerkerarbeiten zuhause abwarten und dann per Bahn nachkommen. An seiner statt entscheidet sich Elena, die Nanny Eve mit ins zeitweise Haus am Meer mitzunehmen.

Die Beziehung der Kinder zu Eve ist besser als die zu ihrer eigenen Mutter, und so hofft Elena auch auf eine für sie erholsame Zeit, die sie zum Arbeiten nutzen kann, während Eve die Betreuung der Kinder übernimmt. Als freie Kuratorin veredelt Elena die Kunst ihrer Chefin Ali mit allerlei Worthülsen und Theorien, um diesen theoretisch zu unterfüttern. Ein recht unkonturierter Job, der aber auch zur Unsicherheit passt, die den Aufenthalt der Frauen am Meer kennzeichnen wird.

Denn nicht nur, dass mit Eve ein extrafamiliärer Teil mit in den Urlaub kommt, mit Noémie gibt es einen weiteren Charakter, der außerhalb der Kernfamilie steht und die ebenfalls mit in das Haus am Meer kommt. Bei ihr handelt es sich um eine Freundin ihrer Tochter Linn, die Elena abweisend gegenübersteht und zu der sie noch schlechter als zu ihren eigenen Kindern einen Zugang findet, was ihr eigenes Fremdeln mit der jungen Generation verstärkt.

Kriselnde Beziehungen und drohende Buschfeuer

Nina Bussmann - Drei Wochen im August (Cover)

Abwechselnd blickt Nina Bußmann aus Sicht von Elena und Eve auf das Geschehen, das sich nun innerhalb der folgenden drei Wochen im August entfaltet. Dabei schaut sie ins Innere einer Familie, die wieder einmal von Auflösungserscheinungen gekennzeichnet ist.

Abwesende Väter, unverständige Töchter und im Umkehrschluss ebenso unverständige Mütter, dazu mit Ilyas ein Haushüter, dessen Beziehung zur Hausherrin wie auch seine Rolle im Haus nicht wirklich klar wird. Ebenso unklar ist der Status der Beziehung Elenas zu ihrem Mann Kolja, dessen Ankunft am Meer immer weiter auf sich warten lässt – und vielleicht gar nicht mehr eintritt, schließlich schwebt die Möglichkeit einer Trennung der beiden Eltern im Raum.

Und dann sind da auch noch die drohenden Buschfeuer in der Umgebung um das Haus, von denen man zwar nichts mitbekommt, deren Ausbruch und eine mögliche Evakuierung der Urlauber aber auch immer wieder im Raum steht. Selbst das Bad im Meer scheidet aus, denn auch das erweist sich als wenig familienfreundlich und wartet stattdessen mit Untiefen und gefährlichen Strömungen auf.

Statt Entspannung und Abschalten gibt es so also Nervosität und Frust, Geldprobleme und Unsicherheit, die sich mit den neu auftauchende Figuren dort im Feriendomizil weiter verstärkt. Immer größer werden die Probleme, die durch die gegenläufige Erzählperspektive der beiden Frauen besonders evident werden. Hat das Ganze aufgrund der überschaubaren Anzahl an Personen den Charakter zunächst eines Kammerspiels, ändert sich dieser Ton, als immer mehr Gäste in der Villa einfallen und den Urlaubern sogar ein Hund zuläuft.

Handlungsstark wie ein Wasserball im Swimmingpool

Was nun nach viel Handlung klingen mag, stellt sich allerdings in der Praxis als wenig handlungsstark heraus. Trotz dem Auftritt von immer neuen Figuren passiert in Drei Wochen im August eigentlich kaum etwas. Oftmals gleicht die Handlung einem Wasserball, der im Pool treibt und schaukelnd auf der Stelle verharrt, wenn er sich nicht langsam dreht oder sanft von einer Ecke des Pools in die andere getrieben wird.

Es ist weniger die Handlung als vielmehr die psychologische Ebene, die Nina Bußmann in ihrem Roman interessiert. Immer wieder wird Elena in ihrer Sehnsucht nach Vertrauen und Verbindung enttäuscht. Weder zu den Kindern noch zu Eve findet sie eine wirkliche Verbindung, obschon sie dieser tausend Euro bezahlt hat, um mit ihr als „Freundin“ den Sommerurlaub zu verbringen. Dieses Geldmittel hat ihr aber keine Freundschaft erkauft, vielmehr ist es Eve, die trotz der Abhängigkeiten über Elena steht, wie man durch die gegenläufigen Perspektiven erfährt.

Diese Umkehrung von Machthierachien, die Betrachtung von Klasse und seelischer Standfestigkeit, sie ist der reizvolle Subtext, der sich unter dem eher handlungsarmen Geschehen entfaltet und der vor allem mit Elena in ihrer Schwäche und ihrem Unvermögen eine stark gezeichnete Protagonistin hat, deren Wunsch nach Bindung im Urlaub enttäuscht werden wird, das ist ebenso nachvollziehbar wie unterhaltsam geschildert.

Fazit

Flirrend und beunruhigend, so ist dieser Sommer, den man gerne mit Bußmanns in Sachen zwischenmenschlicher Verbindungen nicht ganz trittfesten Figuren verbringt. Drei Wochen im August lässt über die möglichen Unzulänglichkeiten des eigenen Sommerurlaubs gut hinwegsehen. Hat man dieses Buch in seinen Reisekoffer gepackt, dann wird man den eigenen Urlaub noch einmal mehr zu schätzen wissen.

Wieder einmal zeigt sich: mag der Urlaub der anderen auch noch so instagramabel und luxuriös erscheinen, der Pool glitzern und die kunstvollen Statuen im Garten einen Eindruck von Wohlkuratiertheit und Wohlstand vermitteln, so tun sich in solch glänzenden Urlaubsfassaden doch auch immer wieder Risse auf, in die sich Nina Bußmann hier lesenswert hineinbegibt.


  • Nina Bußmann – Drei Wochen im August
  • ISBN 978-3-518-43221-1 (Suhrkamp)
  • 317 Seiten. Preis: 25,00 €

Tammy Armstrong – Pearly Everlasting

Es ist ein ungewöhnliches Paar, das im Mittelpunkt des Romans der kanadischen Autorin Tammy Armstrong steht. In Pearly Everlasting erzählt sie von der Bindung der jungen Pearly zu ihrem „Bruder“ Bruno. Ein menschlicher Bruder ist es aber nicht, vielmehr handelt es sich um einen Bär, für dessen Wohl das junge Mädchen einen hohen Preis zu zahlen bereit ist.


Wir schreiben das Jahr 1934. In den Wäldern Kanadas lebt die nach der Silberimmortelle benannte Pearly zusammen mit ihrer Familie in einem Holzfällerlager, das so archaisch wirkt, dass es auch hundert oder zweihundert Jahre früher sein könnte. Als Koch versorgt Pearlys Vater Ansell die Truppe des Camp 33 unter ihrem zwielichtigen Anführer Swickers mit Essen, während Pearly zusammen mit ihrer Schwester und Mutter geborgen in den wilden Wäldern aufwächst.

Flößer und Holzfäller versehen ihre kraftraubende Arbeit, bei der auch immer wieder Menschen sterben. Während die Holzfäller vom Geist Old Jack fabulieren, der in den Wäldern hausen soll und sich seine Opfer sucht, lebt Pearlys Familie ihr einfaches, aber erfüllendes Leben in einer der Holzhütten. Insbesondere ein weiteres, ganz besonderes Familienmitglied sorgt dabei im Camp für Aufsehen und Chaos. Denn Bruno, den Pearly ihren Bruder nennt, ist ein Bärenjunges.

Eine bärige Lektüre

Schreiend, zahnlos und blind, so kam Bruno in die schwere Wolljacke meines Vaters gewickelt ins Camp. Und von dem Augenblick an, als mein Vater ihn neben mich in den Weidenkorb legte, suchte Bruno meine Nähe. Es wäre zu grausam gewesen, ein solches verwaistes Geschöpf einfach verhungern zu lassen, sagte mein Vater. Meine Schwester Ivy tanzte um ihn herum und bettelte, er möge Bruno in ihre Hände legen. Und die Waldarbeiter kamen scheu herein und hofften, mit ihren groben Knöcheln über seinen Kopf streicheln zu dürfen.

Also wiegte Mama uns beide auf ihrem Schaukelstuhl mit der Korblehen. Neben ihr flackerte die Flamme der Petroleumlampe im Windzug und warf lange Zerrschatten an die rauen Wände. Und in diesem Stuhl stillte sie uns beide und sagte: „Das hier ist dein Bruder, und das hier ist deine Schwester“.

Tammy Armstrong – Pearly Everlasting, S. 15

Doch dann kommt es zu einer vielfachen Tragödie dort im Waldarbeiterlager. Pearlys Mutter und Schwester Ivy sterben, der Vorarbeiter Swickers wird ermordet, tatverdächtig ist Bruno – und dieser ist dann auch noch aus dem Camp 33 verschwunden.

Pearly Everlasting auf den Spuren ihres Bärenbruders

Tammy Armstrong - Pearly Everlasting (Cover)

So macht sich Pearly nun daran, die Spur ihres Bärenbruders aufzunehmen, um ihn wieder nach Hause zu bringen. Sie bricht überstürzt in die Wildnis auf, um Witterung ihres Bärenbruders aufzunehmen. Ihr Vater, der in den entscheidenden Stunden nicht anwesend war, macht sich nach seiner Heimkehr ins Camp wiederum daran, Pearly und bestenfalls auch Bruno aufzuspüren.

Und so beginnt nun eine doppelte Suche: die von Pearly nach Bruno und die ihres Vaters nach seiner Kindern. Es ist eine Suche, die die Figuren weit voneinander entfernen wird, alle drei durch halb Kanada führen wird und die sie in Kontakt mit Elefanten, gefährlichen Bären und ebenso gefährlichen Menschen bringen wird.

Pearly Everlasting ist das, was man gemeinhin mit der Binse atmosphärisch dicht erschlägt. Die kanadische Natur in all ihrer Rauheit ist hier ein eindrucksvoll eingefangener Spielpartner von Pearly und Bruno. Die beißende Kälte im Holzfällercamp und das gefährliche Tun der Flößer und Fäller, die schon fast magisch wirkende Stimmung in den Wäldern, in den möglicherweise der Geist des Old Jack umgeht oder die Kontakte und Bekanntschaften, die Pearlys Vater auf seiner Suche nach seiner Tochter und Bruno schließt. Überall hier kommt Tammy Armstrongs Talent für Atmosphäre und eindrückliche Beschreibungen zum Tragen (formidabel aus dem kanadischen Englisch von Peter Torberg ins Deutsche übersetzt).

Fazit

Nach Clara Arnauds Im Tal der Bärin ist Pearly Everlasting schon der zweite Roman in diesem Literaturjahr, der sich literarisch dem Spannungsverhältnis von Bär und Mensch verschreibt. Und ebenso gerne wie das Buch der Französin möchte ich auch Tammy Armstrongs Roman empfehlen, der mit seiner Mischung aus Nature Writing, Entwicklungsroman und Abenteuerroman á la Jack London eine gelungene literarische Mischung darstellt.


  • Tammy Armstrong – Pearly Everlasting
  • Aus dem kanadischen Englischen von Peter Torberg
  • ISBN 978-3-257-07339-3 (Diogenes)
  • 368 Seiten: Preis: 25,00 €