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Kerstin Brune – Die Jahres des Maulwurfs

Allzu große Kreativität muss sich die deutsche Gegenwartsliteratur nicht vorwerfen lassen. Berlin-Romane gibt es en masse, die Wendezeit wurde literarisch schon dutzenfach abgearbeitet, in jüngster Zeit geht der Trend zum Dorfroman – und auch Coming-of-Age-Geschichten boomen und finden sich dutzendfach in den Regalen von Buchhandlungen und Bibliotheken. Nun veröffentlich auch Kerstin Brune mit ihrem Debüt Die Jahres des Maulwurfs einen weiteren solchen Roman, der zugleich Kindheits-Erinnerung als auch Dorfroman ist. Thematisch alles andere als originell ist das Ganze aber sprachlich mit einer interessanten Note versehen.


Die Felder und der Schreckliche Wald dahinter – das hatte ich gelernt – bildeten einen Bannkreis, der jeden Fluchtversuch unterband. Menschen und Dinge konnten nur über die einzige Hauptstraße, die durch den Torbogen im Anwesen des Großbauern Deiwel führte, hineingeschwemmt werden, während im Gegenzug nichts hinausdringen konnte. Was hineingelangte, was da war, blieb, wurde vom Ochsen getränkt, von Bauer Deiwel gefüttert und von seinem Sohn Dirk verprügelt.

Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs, S. 60

Der Ochse so heißt die Kneipe, die als Mittelpunkt des anonymen Dorfs und heimlicher Hauptdarsteller in Kerstin Brunes Debüt fungiert. Hierhin kehren die meisten Dorfbewohner*innen abends ein, wo am Tresen die Aufstellungen für das nächste Match des Fußballsenioren vorgenommen werden oder am Tisch der Träumenden die ermattete Melkerin im Schlummer niedersinkt. Versorgt vom Wirt Wanzé hat sich hier kurz vor der Wende eine feinjustierte Gemeindeordnung etabliert, in die die Erzählerin auf Initiative ihrer Freundin Tanja eindringt.

Bauern, Dorffeste und Reporterlegenden

Wunderliches spielt sich dort vor den Augen der beiden Mädchen ab. So gibt es neben dem amtlichen Bürgermeister und dem eigentlichen Dorfherren, dem Bauernpatron Deiwel, noch die Reporterlegende Dietrich P. Albrecht, die die Bewunderung der Dorfbewohner*innen genießt. Seine Reportagen aus der glamourösen Welt der Stars bringen ein wenig Welthaltigkeit in das Dorf. Albrecht weiß von den Stars der Schwarzwaldklinik genauso zu erzählen wie von der Bonner Republik, in der Albrecht mit Genscher und Konsorten per Du ist.

Auf dem platten, dünn besiedelten Land hatte der massige Reporter dem Dorf mit dem Gewicht seiner Geschichten und der Geschichten Bewohner einen Mittelpunkt geschaffen, um den alle kreisten, mehr als um den Marktplatz vor der Kirche.

Sein Gewicht hatte ein Tal in das Raumzeit-Gitter gedrückt, ein Gravitationsfeld geschaffen, der große Planet aus heißem Gas, von dem Tanja erzählt hatte. Bunt, laut, bierschwer. Er hatte den Dorfbewohnern Weltschmerz gegeben, um Alltagsschmerz zu lindern.

Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs, S. 412

Das bringt Abwechslung in den Alltag, der sich sonst in Dorffesten, Kirchenchor und seiner feststehenden sozialen Hackordnung erschöpft und bei der Meldungen wie das Gladbecker-Geiseldrama nicht nur metaphorisch unberührt durch den Fluss des Dorfes treiben und höchstens den Enten als Nistmaterial dienen.

Doch durch das plötzliche Auftauchen von Tanja im Leben der Erzählerin gerät diese bundesrepublikanische Vorwendezeit in den Hintergrund. Stattdessen dominieren für die beiden Mädchen aufregende Abenteuer, die meist durch Tanjas eigenwillige und unangepasste Art entstehen und bei denen ein toter Maulwurf namens Herr Klotho steter Begleiter der beiden Mädchen ist.

So schleppt Tanja das tote Tier stets mit sich herum, bricht in Häuserrohbauten ein und damit wichtige Verhaltensregeln oder geht mit der Erzählerin auf Entdeckungstouren oder tritt mit der Schulklasse gegen eine bulgarische Turnerinnenmannschaft an, die das Dorf besucht.

Gaby Dohm im Ochsen

Kerstin Brune - Die Jahres des Maulwurfs (Covers)

Das weiß Kerstin Brune in elegischen Buchpassagen zu schildern, die die Mittelpunkte der sieben Buchkapitel bilden. So schildert sie gerade minutiös die Schlacht bei Schnakenbrock, in dem die politisierten Grundschulkinder den Kampf gegen die Joghurtbecher-Schwemme des lokalen Milch-Großproduzenten führen wollen – und doch vorgeführt werden. Auch der Besuch von Schwester Christa – des Schwarzwaldklinik-Stars Gaby Dohm – wird von Brune mit einer Akribie inszeniert, die ebenso beeindruckend wie in meinem Fall leider auch ermüdend ist. Egal ob schiefgelaufene Eröffnung eines Dorfcafés oder Turn-Wettkampf zu Abba-Musik – Kerstin Brune setzt hier weniger auf einen durchgängigen Erzählbogen als auf groß geschilderte Einzelereignisse, an die sich die Ich-Erzählerin erinnert und um die herum der über 460 Seiten starke Roman gebaut ist.

Dabei ähnelt ihre Prosa und Erzählweise etwas der des ebenfalls bei Random House verlegten Sebastian Stuertz und dessen Debüt Das eiserne Herz des Charlie Berg. Doch neben der bekannten Dorf- und Kindheitsmotivik des Romans, der Brune wenig hinzuzufügen weiß, hat sie als Pluspunkt die Sprache auf ihrer Seite.

Frische Sprachbilder und Sprachkraft

Aus Brunes Buch spricht eine ganz eigene Sprachkraft, in der nicht nur Tanja durch originelle Sprachbilder und Sentenzen zu überzeugen weiß – gehirnlogisch! Brunes Dorfbewohner sprechen in ihren Dialogen Dialekt und immer wieder findet man Formulierungen, die den gängigen und vielfach abgenutzten Sprachbildern zuwiderlaufen und gerade dadurch irritieren und Aufmerksamkeit schaffen.

Das macht dieses Buch dann schlussendlich in meinen Augen auch am interessantesten, denn inhaltlich finde ich Die Jahre des Maulwurfs gerade in Anbetracht der Fülle an thematisch ähnlich gelagerten Büchern tatsächlich eher wenig originell und austauschbar, was man über Brunes Prosa selbst überhaupt nicht sagen kann.

Darüberhinaus lässt sich der Aspekt des unscharfen Blicks auf der Haben-Seite des Buchs verbuchen. Denn neben dem Maulwurf Herr Klotho ist auch die Erzählerin selbst mit einigen Dioptrien geschlagen, die sie stets eine Brille zu tragen zwingen. Der schlierige Blick aus den ungeputzten Gläsern ist auf die Erzählhaltung des Buchs übertragbar, bei der vieles nicht scharfgestellt wird oder konturlos bleibt. So ist auch Tanja, obgleich zweite Hauptdarstellerin, eine Figur, die sich in ihrer Geschichte und Quecksilbrigkeit nicht wirklich greifen lässt und die der Erzählerin auch im Rückblick viele Rätsel aufgibt.

Schön zudem die Klammer des Buchs, die für mich eine Hymne auf das Wirken als Lehrkraft ist (ein Beruf, dem Brune selbst als Pädagogin an einem Gymnasium nachgeht). Hier hat das Buch wirklich eine Kraft und Pointierheit, die ich mir auch in manchen der ausufernden Beschreibungspassagen gewünscht hätte.

Fazit

Ist man mit Kindheits- und Dorfromanen aus deutscher Feder nicht schon hoffnungslos übersättigt (wie ich es aktuell leider bin), dann bekommt man hier einen sprachlich frischen und originellen Roman, der den Kosmos eines Dorfes genau untersucht, in elegisch geschilderten Kindheitserinnerungen versinkt und der auch Gaby Dohm endlich einmal ausgiebig würdigt.


  • Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs
  • ISBN 978-3-328-60181-4 (Penguin)
  • 464 Seiten. Preis: 22,00 €
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Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage

Romane, die vom Überleben in der Natur erzählen, liegen im Trend. Das zeigen viele der Neuerscheinungen in letzter Zeit. Da wäre etwa Gabriel Tallents Mein Ein und Alles, in dem der Autor von einem Mädchen und dessen Vater erzählt, der sich als Prepper auf das Überleben in der Natur vorbereitet und sein Kind als Waffe erzieht und prägt. Diesem mit zu viel literarischen Geschmacksverstärkern, krasser Explizität und Fehltönen aufgeladenen Roman folgten eine ganze Riege an thematisch ählich gelagerten Romanen.

Mick Kitson tat dies mit Sal, und machte seinen Job deutlich besser. Auch C. H. Beck brachte eine Überlebensgeschichte in der Wildnis auf den Markt. Diese lieferte Rye Curtis mit dem Titel Cloris und erzählte von der gleichnamigen Seniorin, die sich nach einem Flugzeugabsturz in der Wildnis der Bitterroot Mountains durchschlägt. Während eine alkoholkranke Rangerin die Seniorin sucht, kämpft sich diese mithilfe eines mysteriösen Helfers durch die unwirtliche Natur.

Auch könnte man Michael Crummeys Schilderung des Überlebenskampfes eines Geschwisterpaars vor der rauen Kulisse Neufundlands um 1800 in diese Reihe stellen. Oder in einer nicht so fernen Zukunft angesiedelt wäre Edan Lepuckis California zu nennen. Viele Bücher also, zu denen sich nun auch noch Claire Fullers Roman Unsere unendlichen Tage gesellt. Ein Roman, der viele Themen und Motive der eingangs erwähnten Bücher in sich vereint.

Trotzdem sollte man dieses Buchs nicht der billigen Kopie oder einer lieblosen Amalgamierung von bereits Bestehendem bezichtigen. Denn dieser Roman ist das Debüt Claire Fullers, der eigentlich schon 2015 erschien, nun aber erstmals auf Deutsch vorliegt. Ein Buch, das viele der späteren Themen der Autorin vorwegnimmt und das vom Überleben in der Bergwelt Bayerns erzählt.


Liest man Unsere unendlichen Tage, so ist man erstaunt, wie viele Motive und Themen sich hier finden, die später in den Romanen der Britin wichtig werden sollten.

Sie erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Peggy, die in den 70ern als Tochter eines britischen Vaters und einer deutschen Mutter aufwächst. Ihre Mutter Ute ist eine gefeierte Konzertpianistin, die sogar den renommierten Chopin-Wettbewerb gewonnen hat. Ihr Vater ist das, was wir heute als Prepper bezeichnen. Ein Apokalyptiker, der sich mittels hauseigenem Atombunker, Listen und Vorräten auf das Überleben nach einem Zusammenbruch der Zivilisation vorbereitet. Als ihre Mutter zu einer längeren Konzertreise aufbricht, beginnt Peggys Vater zusammen mit ihr eine Reise.

Eine Reise, die sie über den Ärmelkanal führen wird, quer durch verschiedene Länder, ehe die beiden einer Bergregion ankommen, in der die Bewohner Bajuwarisch sprechen, wie ihr Vater es Peggy erklärt. Er ist von der Idee einer hutta besessen, die sich dort irgendwo in den Bergen befinden soll. Nach einiger Suche stoßen die beiden tatsächlich auf die Überreste einer Hütte, die zum Unterschlupf der beiden für die nächsten acht Jahre werden soll. Die Menschheit, so erklärt es Peggy ihr Vater, ist vernichtet worden, hinter den Gipfeln und einem reißenden Fluss befindet sich das Nichts. Nur sie beiden hätten überlebt, so geht die Geschichte ihres Vaters, die Peggy zunächst nicht hinterfragt.

Vom Überleben in der Natur

Claire Fuller - Unsere unendlichen Tage (Cover)

Immer wieder springt Claire Fuller in ihrem Roman zwischen den Ereignissen in jenen acht Jahren und der Gegenwart des Jahres 1985 hin- und her. Peggy ist in der erzählten Gegenwart zurück im Elternhaus – inzwischen hat sie sogar einen Bruder bekommen. Doch der ganze Umfang der damaligen Ereignisse und die Hintergründe liegen noch im Nebel. Erst allmählich dröselt sie ihre Geschichte auf, verbindet Erkenntnisse aus der Gegenwart mit Zurückliegendem.

Unsere unendlichen Tage ist eine Geschichte, die vom Überleben erzählt und die die Natur mitsamt all ihrer Reize und Gefahren ausleuchtet. Stark, wie Claire Fuller die archaische Bergwelt inszeniert. Der reißende Fluss, die reichhaltige Flora und Fauna, aber auch die tödlichen Gefahren durch lange Winter und Waldbrände. Fuller zeichnet das Überleben in der Natur in sämtlichen Schattierungen.

Dass die Plausibilität des Debüts manchmal etwas auf der Strecke bleibt, möchte ich hier nicht verschweigen. Dass Peggy und ihr Vater unbemerkt in dieser Hütte acht Jahre leben sollten, das scheint mir auch im Bayerischen Wald der 70er Jahre etwas übertrieben, vor allem eingedenk der Tatsache, dass der Bayerische Wald seit dem Jahr 1970 Nationalpark ist. Zwei Menschen in einer Hütte, unbemerkt von Landvermessern, Waldarbeitern oder Jägern, da scheint doch die Realität mit der Fiktion zu kollidieren.

Nicht immer ist dieses Erählen ganz präzise, manchmal bleiben Leerstellen, auch die Auflösung deutet sich schon etwas zu klar an. Die psychologische Ausdeutung des Vaters bleibt durch den kindlichen Blick Peggys über lange Zeit auf der Strecke und wird genauso wie die räumliche Verortung des Schauplatzes erst sehr spät angegangen. Dennoch hat das alles Wucht – für ein Debüt läuft der Erzählmotor erstaunlich rund und kraftvoll.

Viele spätere Themen sind schon angelegt

Blickt man nun auf diesen Erstling zurück, ist es auch faszinierend, wie viele Themen aus den folgenden Werken Claire Fullers hier schon angelegt sind.

Da ist zunächst die Kultur als Überlebenstechnik, wie sie später für Ingrid in Eine englische Ehe essenziell wird. Wo Ingrid die Literatur zum Leitstern der eigenen Existenz wird, ist es in Unsere unendlichen Tage die Musik in Form eines selbstgebauten Klaviers, das sich Peggy und ihr Vater ausgedacht haben. Darauf lernt Peggy das Klavierspiel und kehrt immer und immer wieder zu Lizsts La Campanella zurück, das ihr Kraft und Trost spendet.

Doch nicht nur die Kultur ist schon hier als Motiv zu entdecken, auch die Natur spielt immer wieder im Schreiben Claire Fullers eine Rolle, etwa wenn das Herrenhaus in Bittere Orangen langsam von der Natur zurückerobert wird, während die Beziehungen der Protagonist*innen ebenfalls großen Veränderungen unterworfen sind.

Auch die Frage weiblicher Selbstbestimmung ist ein Motiv, das sowohl Unsere unendlichen Tage als auch die späteren Romane der Autorin prägt. Das Erkennen eigener Bedürfnisse, die Ausprägung eines eigenen Charakters gegen männliche Widerstände, das ist etwas, das die Autorin merklich umtreibt.

Schön, wie man diese ganzen Motive und ihre Entwicklung nun dank des abermals von Susanne Höbel ins Deutsche übertragenen Debütromans verfolgen kann. Hier ist eine Autorin zu entdecken, die sich mit jedem Buch neu erfindet, in ihren übergreifenden Motiven aber treu bleibt – und das auf einem erfreulich hohem Niveau.

Fazit

Trotz aller Mängel und kleinen Unwuchten im Erzählen ist Unsere unendlichen Tage ein beeindruckendes und nachhallendes Buch. Für ein Debüt schnurrt der Erzählmotor hier bereits sehr rund. Claire Fuller gelingt ein Buch, das vom Überleben in der Natur und der Rettungskraft der Musik erzählt. Im Konzert der eingangs erwähnten Überlebenstitel kann Fullers Roman absolut bestehen.

Schön, dass dieses nachgereichte Debüt nun endlich auf Deutsch vorliegt. Claire Fuller wäre größerer Ruhm zu gönnen – ihr vielfältiges Schreiben verdient es!


  • Claire Fuller – Unsere unendlichen Tage
  • Aus dem Englischen von Susanne Höbel
  • ISBN 978-3-492-05828-5 (Piper)
  • 320 Seiten. Preis: 22,00 €
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Alem Grabovac – Das achte Kind

Die Erforschung der eigenen Herkunft liegt im Trend. Literatur, die sich mit Identität, Familie, Klasse und Herkunft beschäftigt, feiert große Erfolge, und das nicht erst seit Saša Stanišićs Roman Herkunft, für den er den Deutschen Buchpreis erhielt, Auch die Bücher etwa von Christian Baron (Ein Mann seiner Klasse) oder Deniz Ohde (Streulicht) belegen den Boom dieser Art von Literatur.

Alem Grabovacs Roman Das achte Kind reiht sich in diese Reihe von Romanen nahtlos ein. Er schildert seine eigene wechselvolle Geschichte von der Geburt an bis in die Jugendzeit. Ein Buch, das den Augenmerk ganz auf das Erzählen richtet.


Mehrere Versuche habe er benötigt, um den Sound für seinen Debütroman zu finden, so erzählte Grabovac im Gespräch zu seinem Buch. Mehrere Ansätze habe es gegeben, die immer wieder verworfen worden seien. So habe er unter anderem einen Sound versucht, der an Thomas Bernhard erinnert habe. Aber alles nicht das Richtige für Das achte Kind, wie Grabovac zu Protokoll gab. Stattdessen wurde es nun ein klarer, reduzierter Ton, der in wenig prosaischer Sprache das Leben des Ich-Erzählers zum klingen bringt.

Alem Grabovac‘ außergewöhnliche Lebensgeschichte

Und tatsächlich war es eine kluge Entscheidung, den Fokus eher auf das Erzählte, denn auf das Erzählen zu legen. Denn Grabovacs Lebensgeschichte ist wirklich außergewöhnlich. So wächst er als Sohn einer kroatischen Gastarbeiterin in Würzburg auf. Der Vater ein Hallodri, der sogar die Mutter unmittelbar nach der Geburt bestiehlt, um sich mit Freunden dem Rausch hinzugeben. Auch in der Folge will sich kein rechtes Familienleben einstellen. Die Mutter schuftet in einer Schokoladenfabrik, der Vater ist absent.

Der Spagat zwischen der Versorgung des Kindes und der Rolle als Familienernährerin gelingt der Mutter – wer will es ihr verdenken – nur mäßig. Und so gibt sie Alem zu einer Tagesmutter, die diesen unter der Woche betreut. Marianne hat selbst bereits sieben Kinder, die größtenteils flügge sind. Alem wird so ihr achtes Kind. Schon bald sind Marianne und Robert für den Jungen die eigentlichen Eltern.

Seine Mutter zieht der Arbeit wegen nach Frankfurt weiter und findet einen neuen Mann an ihrer Seite. Alem bleibt bei seiner Ziehfamilie zurück und wächst in der schwäbischen Provinz auf.

Drei prägende Vaterfiguren

Alem Grabovac - Das achte Kind (Cover)

Drei prägende Vaterfiguren sind es, die Alem Grabovac in seinem Buch versammelt. Da ist zunächst der Hallodri und untaugliche Kindsvater Emir. Auch der Dusan, der zweite Mann an der Seite seiner Mutter, ist keine wirkliche Verbesserung. Gewalt, Überforderung, Alkoholmissbrauch sind auch hier Themen. Ein anderer Fall hingegen ist Robert, der im Privaten aus seiner Sympathie für Hitler und der Verbitterung über den Kriegsausgang keinen Hehl macht. Alle drei Figuren wecken in Alem Widerspruch, mit zunehmendem Alter emanzipiert er sich von den drei Männern.

Ganz anders hingegen seine Mutter, die er in Das achte Kind porträtiert. Ihre Herkunft aus einem kroatischen Dorf, ihr Bemühen um ein gutes Leben für ihr Kind und sich schildert Grabovac klar und empathieerweckend. Ihr Faible für die falschen Männer, die Heimatverbundenheit, all das zeigt der Autor auf nachvollziehbare Art und Weise.

Grabovacs Aufwachsen zwischen den Kulturen und Familien ist eine starke Geschichte, die auf das Wesentliche reduziert ist. Gerade durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt sie.

Fazit

Eine sprachliche oder inszenatorische Überformung findet hier nicht statt. Damit ist Das achte Kind näher an Deniz Ohdes Streulicht denn an Saša Stanišićs Bestseller Herkunft. Durch den Verzicht auf eine eindeutige Wertung oder Beeinflussung des Lesenden gewinnt dieses Buch. Eine starke Geschichte, die durch die Wahl der erzählerischen Mittel überzeugt und die neben den oben genannten Titel gerne empfohlen werden kann.


  • Alem Grabovac – Das achte Kind
  • ISBN 978-3-446-26796-1 (Hanser blau)
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Charles Lewinsky – Der Halbbart

Von der Verführbarkeit der Massen, von Kriegstraumata und vom Leben in der Schweiz im 14. Jahrhundert erzählt Charles Lewinsky in seinem neuen Roman Der Halbbart. Ein gelungener historischer Roman mit einer ebenso gelungenen Erzählperspektive, nämlich der eines kleinen Kindes, das das Geschichtenerzählen liebt.


Man mag Martin Ebel nicht widersprechen, wenn er in seinem Zitat auf dem Buchrücken Charles Lewinsky den vielseitigsten Schweizer Schriftsteller nennt. Denn der 1946 geborene Autor macht sich tatsächlich die Mühe, für seine Bücher immer eine eigene Sprache zu entwickeln. So war es in seinem letzten Roman Der Stotterer beispielsweise eine stark von der Bibel beeinflusste Prosa, die in Form eines Brief- und Bekenntnisromans dargeboten wurde.

Und auch seine Plots kreisen meist um verschiedene Themen. So erzählte er in Melnitz eine jüdische Familiensaga (die im kommenden Jahr ebenfalls bei Diogenes noch einmal neu aufgelegt wird), beschrieb in Gerron die fiktive Biographie eines jüdischen Filmstars oder in Kastelau die Geschichte eines Filmdrehs zur Zeit des Dritten Reichs.

Zurück ins 13. Jahrhundert

Nun hat er sich in Der Halbbart einer völlig neuen Thematik zugewandt. Er erzählt einen historischen Roman, der weit zurückspringt in die Geschichte der Schweiz, genauer gesagt ins 14. Jahrhundert. Den Hintergrund des Romans bildet der sogenannte Marchenstreit. Beginnend um 1100 stritten hier die Mönche des Klosters Einsiedeln, bzw. deren Schutzherren und die Bevölkerung des Örtchens Schwyz um die Vorherrschaft . Der Konflikt zwischen den Parteien schwelte schon Jahrzehnte und hatte schon verschiedene Höhepunkte wie Exkommunikation, Drohbanne und Streitschlichtungen erreicht, ehe wir mit Sebi mitten hinein in den Konflikt geworfen werden.

Charles Lewinsky - Der Halbbart (Cover)

Dieser wächst zusammen mit seinen Brüdern Poli und Geni vaterlos in einem kleiner Schweizer Weiler heran. Von seiner Umgebung wird er aufgrund seiner schwächlichen Konstitution nur als Finöggel belächelt. Der Dorfbenjamin unterstützt den Totengräber und muss schon bald festellen, dass der Tod allgegenwärtig ist. Seine Mutter verstirbt und so wird er als Waise von seinen Brüdern ins Kloster geschickt. Sebi, eigentlich Eusebius, erlebt so die Klostergemeinschaft, der er nur wenig abgewinnen kann. Er verlässt die Brüder bald, um in sein Heimatdorf zurückzukehren.

Bei allen Turbulenzen, die sein Leben für ihn bereithält, findet Sebi im Halbbart eine Art väterlichen Freund. Dieser Halbbart ist ebenfalls ein Außenseiter im Dorf. Dem Scheiterhaufen entkam er einst nur knapp, seitdem zieren entstellende Brandnarben und eben nur ein halber Bart sein Gesicht. Der Halbbart stellt sich als sehr intelligenter Mann heraus, ein Forscher, ein an der Heilkraft der Natur interessierter Mensch. Auch wenn die Epoche der Aufklärung noch weit entfernt ist – im Halbbart lässt sie sich schon vorausahnen. Für Sebi bedeutet der Halbbart Orientierung im Leben und die Gewissheit, dass er seinen eigenen Weg gehen darf, fernab der Erwartungen anderer an ihn.

Von Kriegstraumata und der Verführbarkeit der Massen

Mit dem Ich-Erzähler Sebi hat Charles Lewinsky eine kluge Erzählentscheidung getroffen. Denn die Themen, von denen Lewinsky hier erzählen will, werden durch den kindlichen, aber nicht unklugen Blick Sebis verstärkt und entfalten eine ganz eine Wirkung.

So erzählt uns Sebi davon, wie sein Onkel Alisi nach seinem Kriegsdienst in Italien als Söldner zurück nach Hause kehrt. Ohne, dass es Sebi groß aussprechen muss, wird offenbar, wie die Kriegstraumata in den Landsknechten fortwirken, und welche Auswirkungen die nicht aufgearbeiteten Kriegserlebnisse der Krieger für die Dorfbevölkerung haben. Über die Geschichte des Halbbarts fließt auch das Thema der Verführbarkeit der Massen und die Wankelmütigkeit der Menschen in das Buch ein. Wenn der Halbbart Sebi seine Geschichte erzählt, wie er verbrannt werden sollte, am Pranger der Lächerlichkeit preisgegeben wurde oder im Lauf des Buchs vor Gericht landet, dann ist das gerade durch die naive Erzählweise Sebis besonders wirkmächtig.

Dieser Effekt, den schon Günter Grass für seinen Erzähler Oskar Mazerath in Die Blechtrommel zu nutzen wusste, er funktioniert auch hier wieder.

Sebis Blick auf die Welt ist ein origineller, der aber auch das soziale Leben im Dorf und die Psychologie der Menschen gnadenlos demaskiert. Wenn uns Sebi etwa erzählt, wie er Zeuge an einem Überfall der Dorfbewohner auf das Kloster Einsiedeln ist, dann hat das eine Wucht und zeigt das vermeintlich ferne, dunkle Mittelalter hier dann wieder plötzlich ganz nah. Nicht nur dieses Pogrom oder die Suggestion der Massen ist ein Thema, das trotz des zeitlichen Kontextes im Buch durch die Erzählkunst Lewinskys fast zeitlos wirkt.

Die Kunst der Sprache

Apropos Erzählkunst: man kann Charles Lewinsky für seine Bemühung um sprachliche Originalität nur Respekt zollen. Denn weg vom Stotterer im letzten Buch gibt es hier schon wieder eine originelle Erzählstimme zu bewundern. Der Sound in Der Halbbart ist von der kindlichen Erzählperspektive geprägt, die sehr stimmig ist. So stellt Sebi beispielsweise fest, dass seine Mitmenschen bei Rührung oder Trauer plötzlich „Augenwasser“ haben.

Auch ist die Sprache von Helvetismen durchsetzt, die eine Erinnerung an die damalige Sprache wecken. Man muss sich auf diese Erzählweise einlassen, die eng am mündlichen Erzählen orientiert ist. Spätestens nach ein paar Dutzend Seiten hat sich aber der erzählerische Reiz entfaltet und entwickelt auch großen Witz, etwa wenn Sebi mit ganz eigenen Sprichwörtern die Realität ins Auge fasst:

Außerdem, das hat sich dann später herausgestellt, war ihr Plan nicht wirklich geheim geblieben; daran waren sie selber schuld, weil sie das Maul nicht hatten halten können. Mir hat ja auch keiner was gesagt, und ich hab trotzdem von dem Überfall gewusst; wenn alle Hühner gleichzeitig anfangen zu gackern, fragt sich auch der dümmste Bauer, was da wohl für Eier gelegt werden.

Lewinsky, Charles: Der Halbbart, S. 440

Eine Hymne auf das Erzählen

Generell ist das Erzählen ein großes Thema des Buchs, sowohl in der Erzählform als auch in Figuren und Handlung. Eine dieser zentralen Figuren etwa ist das Teufels-Anneli, die in den dunklen Wintermonaten übers Land zieht, um in den Häusern der Dorfbewohner gegen Kost und Logis zu erzählen. Sebi selbst wird später zu ihrem Lehrburschen und präsentiert am Ende des Buchs sein erzählerisches Meisterstück, das den Ausgang der Legende um die Schlacht am Morgarten bildet. Und so ist die Bemerkung im Klappentext auch nicht falsch, wenn diese behauptet, dass Lewinsky davon erzählt, wie aus Geschichten Geschichte wird.

Und auch Charles Lewinsky selbst beweist in Der Halbbart einmal mehr seine Klasse als Geschichtenerzähler. Wie er das Leben im Dorf schildert, wie er Sebi zum Leben erweckt und wie er fabulierfreudig seinen Erzählbogen über fast 700 Seiten spannt, ohne ihn reißen zu lassen, das zeugt von hoher Kunst.

Fazit

Dass die Jury Charles Lewinsky für den Deutschen Buchpreis nominiert hat, ist mehr als nachvollziehbar. Ähnlich wie in Christine Wunnickes Die Dame mit der bemalten Hand ist auch hier ein Buch zu entdecken, dass einen ganz eigenen Zugriff auf historisches Erzählen bietet. Fernab aller erzählerischer Dutzendware gelingt Charles Lewinsky ein originelles Buch. Eines, bei dem Erzählperspektive und Themen überzeugen. Eine Hommage ans Geschichtenerzählen und ein wirklich starker (historischer) Roman.


  • Charles Lewinsky – Der Halbbart
  • ISBN 978-3-257-07136-8 (Diogenes)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €

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Thomas Hettche – Herzfaden

Auf wohl keinen Roman habe ich mich als Augsburger mehr gefreut in diesem Herbst als auf diesen: Thomas Hettche erzählt in Herzfaden die Geschichte einer der wichtigsten, wenn nicht DER wichtigsten deutschsprachigen Kulturinstitution der Nachkriegszeit, nämlich die der Augsburger Puppenkiste.


Nachdem er in seinem letzten Roman Pfaueninsel die Erzählperspektive eines kleinwüchsigen Schlossfräuleins wählte, setzt Hettche in seinem neuen Roman das Erzählen aus kleingeratener Sicht fort. In Hettches Herzfaden ist da zunächst ein Mädchen, das nach der Vorstellung im Puppentheater vor dem eigenen Vater durch eine Tür flüchtet. Dadurch gerät es auf einen Speicher. Dort muss es feststellen, dass es auf Puppengröße geschrumpft ist. Das Mädchen findet sich in der Gegenwart ikonisch gewordener Figuren wie etwa dem Urmel oder dem König Kalle Wirsch wieder. Figuren, die das Mädchen trotz seines jungen Alters immer noch kennt.

Thomas Hettche - Herzfaden (Cover)

In die Mitte der geschnitzten Puppen auf dem Speicher tritt eine große Frau, die dem Mädchen in der Folge ihre Lebensgeschichte erzählt. Es handelt sich bei der Frau um Hannelore Marschall , genannt Hatü. Sie ist die Tochter Walter Oehmichens, der zusammen mit ihr das später so bekannte Oehmichens Marionettentheater gründen sollte und in dem sie zur Schöpferin all dieser Figuren wurde, die Hatü und das Mädchen nun umgeben.

Von der Entstehung des berühmten Puppentheaters, der Kindheit und dem Aufwachsen in einem weltkriegszerstörten Augsburg, davon erzählt Hatü dem Mädchen. Und wir als Leser*innen lauschen mindestens ebenso gebannt den Erzählungen der dauerrauchenden Frau. Von den Pogromen, der Armut und dem Leid, das der Krieg mit sich brachte. Davon, wie ihr Vater als Spielleiter des Augsburger Staatstheater zunächst nicht entnazifiert wurde, wie die GIs Augsburg besetzten und wie die Oehmichens alles daran setzten, Ablenkung und Normalität zurück zu den Menschen zu bringen. Von all dem erzählt Hatü dem Mädchen auf dem Speicher, das schon bald dem Charme der Puppen erliegt – aber auch ihre Gefährlichkeit erfährt.

Der Zauber der eigenen Kindheit

Im Kern steckt in Herzfaden eine Frage: haben uns Figuren an Fäden, handgeschnitzt aus Holz und mimisch starr, heute noch etwas zu sagen? Heute, da die Ausdrucksmöglichkeiten der perfekt animierte Charaktere in Film und Fernsehen unerschöpflich scheinen, in der es scheinbar keine Grenzen der Darstellungskunst mehr gibt?

Figuren an Fäden: Die Augsburger Puppenkiste (hier eine Leihgabe des Puppentheaters ‚Das Puppenschiff‘ in Mainaschaff)

Die Antwort darauf lautet eindeutig ja. Das zeigt nicht nur der anhaltende Erfolg der Augsburger Puppenkiste und mitsamt ihrer immer wieder ausgestrahlten Evergreens. Das zeigt auch Thomas Hettches gelungener Roman, der den Zauber der Kindheit wieder heraufbeschwört.

Herzfaden bringt das Gefühl zurück, als uns Erzählungen an den Lippen der Eltern hingen ließen. Als die Fantasie noch keine Grenzen kannte und als in der eigenen Vorstellung noch alles möglich war. All das macht der Roman wieder erfahrbar. Was kümmert es, dass da ein Mädchen auf der ersten Seite auf Marionettengröße schrumpft und die Rahmenhandlung einem Märchen gleicht? Die Wahl der erzählerischen Mittel entspricht genau dem behandelten Thema. Das macht den Zauber dieses Buchs aus. Wer Realitätsansprüche an das Buch stellt, der sieht sich auch durch Hettches Nachwort eines Besseren belehrt.

Dieser Roman erzählt die Geschichte der Augsburger Puppenkiste und wie jeder Roman ist er selbst ein Marionettenspiel. Personen und Ereignisse, die darin vorkommen, hat es wirklich gegeben, und sind doch erfunden.

Hettche, Thomas: Herzfaden

In Herzfaden ist alles möglich

In Herzfaden ist alles möglich, eben ganz wie in der Fantasie. Und das macht das Buch so lesenswert. Denn der Berliner Romancier begreift sein Handwerk in diesem Buch auch als Marionettenspieler, der um die Bedeutung des Herzfadens weiß, jenes unsichtbaren Fadens, der die hölzerne Marionette mit dem Marionettenspieler verbindet. Seine Figuren und dieses gesamte Buch sind auf alle Fälle durch Herzfäden miteinander verbunden.

Oder wie es Michael Ende in Hettches Herzfaden am Ende des Romans ausdrückt:

„Ich wehre mich einfach dagegen, zu werden, was man einen richtigen Erwachsenen nennt. Eines jener entzauberten, banalen, aufgeklärten Krüppelwesen, das in der entzauberten, banalen, aufgeklärten Welt sogenannter Tatsachen existiert. Wissen Sie: In jedem Menschen lebt ein Kind, ob wir neun Jahre alt sind oder neunzig. Und dieses Kind, das so verletzlich und ausgeliefert ist, das leidet und nach Trost verlangt und hofft, dieses Kind in uns bedeutet bis zu unsem letzten Lebenstag unsere Zukunft.

Hettche, Thomas: Herzfaden, S. 272

In diesem Sinne ist Herzfaden ein Buch mit einer großen Zukunft, das auch den Deutschen Buchpreis verdient hätte. Es ist eine Hymne auf die Fantasie. Endlich mal ein überzeugender Augsburg-Roman, der seine Kulisse ernstnimmt. Ein Buch, das die Kunst des Marionettenspiels ehrt. Und nicht zuletzt ist Herzfaden ein Roman, der den Zauber der eigenen Kindheit wiederbringt.

Hannelore und Walter Oehmichen (Bildquelle: Augsburger Puppenkiste)

  • Thomas Hettche – Herzfaden
  • ISBN: 978-3-462-05256-5
  • 288 Seiten. Preis: 24,00 €
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