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Daniel Kehlmann – Lichtspiel

In seinem neuen Roman Lichtspiel holt Daniel Kehlmann den heute weitestgehend in Vergessenheit geratenen Regisseur G. W. Pabst zurück ins Licht – und blickt auch auf die dunklen Seiten in dessen Leben. Kehlmann gelingt ein Roman, der sich literarisch das abschaut, wofür Pabst einst berühmt war: die Schnittkunst.


Lichtspiel ist ein Roman über einen Menschen, dessen Leben alleine schon genug Material für einen spannenden Roman bietet. Wie etwa Hans Pleschinski in Wiesenstein zeigt auch Daniel Kehlmann in seinem neuen Roman einen Künstler zur Zeit des Nationalsozialsmus, dessen Hadern mit den Machthabern, aber auch seine Anpassung an ein System, das für den einst „roter Pabst“ genannten Regisseur eine wichtige Rolle vorsah.

Ein linker Regisseur – gefördert von den Nationalsozialisten

1925 machte G. W. Pabst erstmals mit seinem Film Die freudlose Gasse von sich Reden. Dieser Stummfilm sorgte für den Durchbruch von Greta Garbo, die neben Stars wie Asta Nielsen in der Verfilmung des Buchs von Hugo Bettauer zu sehen war. Ungeschönt zeigte der Filme die soziale Kluft und die grassierende Armut in einem Wiener Armenviertel, was zum Ruf Pabsts als sozialrealistischer und dezidiert linker Regisseur beitrug, was dieser wiederum mit Filmen wie seiner Adaption der Dreigroschenoper oder den Antikriegsfilm Westfront 1918 verstärkte.

Filme mit dem Hollywoodstar Louise Brooks folgten – und auch in Hollywood versuchte Pabst Fuß zu fassen, scheiterte damit aber auf ganzer Linie. Teils vom maladen Zustand seiner Mutter, teils mit dem Versprechen völliger Kunstfreiheit heimgelockt begab sich Georg Wilhelm Pabst dann wieder zurück nach Deutschland, wo inzwischen die Nationalsozialisten die Macht übernommen hatten. Dort drehte er mit Förderung durch das Propagandaministerium unter anderem mit dem Schauspieler Werner Krauß, den er in seinem Film Paracelsus besetzte. Sein letzter Film dieser reichsdeutschen Phase, Der Fall Molander, gilt als verschollen.

Auch über das Ende des Nationalsozialismus hinaus blieb Pabst dem Medium Film verbunden, drehte weitere Werke, ehe der Österreicher 1956 mit Durch die Wälder, durch die Auen den letzten seiner rund 40 Filme drehte. 1967 schließlich verstarb Pabst in Wien und geriet als Zeitgenosse von anderen Regiestars wie Fritz Lang oder Leni Riefenstahl etwas ins Vergessen.

G. W. Pabst – der Meister des Schnitts

Daniel Kehlmann holt den einst als „Meister des Schnitts“ gerühmten Regisseur wieder zurück ins öffentlich Bewusstsein – und bedient sich für die Montage seines Romans ebenjener Schnittkunst, die auch Pabst zum gefeierten Stummfilm- und später Tonfilmregisseur machte.

Daniel Kehlmann - Lichtspiel (Cover)

So beginnt der Roman auch alles andere als erwartet. Denn nicht Pabst steht im Mittelpunkt, sondern ein inzwischen schon reichlich dementer ehemaliger Assistent des Meisters, der in der Nachkriegszeit im österreichischen Fernsehen interviewt wird. Extra aus seinem Altersheim abgeholt soll er vor laufender Kamera über seine Zusammenarbeit mit Pabst und die gedrehten Filme, darunter Der Fall Molander, Auskunft geben.

Dies spannt die erzählerische Klammer des Romans auf, der mit den tatsächlichen Dreharbeiten des Films in Tschechien unmittelbar vor Kriegsende seinen Ausklang finden wird. Dazwischen montiert Kehlmann weitestgehend chronologisch entscheidende Szenen aus Pabsts Leben, die er fiktional anreichert und aneinanderreiht. Trotz eines anfänglichen Gefühls der Unverbundenheit fügen sich diese in der Gesamtheit des Buchs doch, obgleich die Schnitte sehr hart sind.

Licht und Schatten eines Lebens

So nimmt Kehlmann Pabsts Frau Trude oder den Sohn in den erzählerischen Fokus, erzählt von Hollywoodstars, denen er begegnet. Auch Nazi-Funktionäre oder ein Hausmeister haben ihre Auftritte, bei denen Pabst so manches Mal auf den ersten Blick kaum auftaucht – aber er ist doch immer präsent.

Aus all den Figuren und Momenten formt sich das Bild eines Menschen, der für den Film lebte, dafür aber auch immer wieder Kompromisse einging und sich anpasste.

„Drehen kann fast jeder“ , sagte Pabst. „Beim Schneiden macht man erst wirklich einen Film“

Daniel Kehlmann – Lichtspiel, S. 398

Doch nicht nur die Schnitte und die Montage sind in diesem Buch herausragend. Auch spielt Kehlmann mit der Unzuverlässigkeit des Erzählens, etwa wenn man Zweifel an Pabst und seinem Blick auf die Realität bekommt. So gleicht ein Antrittsbesuch bei Propagandaminister Goebbels einem halluzinierendem Trip, bei dem nicht wirklich klar ist, was sich nun abspielt. Auch der Tathergang eines Unfall mit einer Leiter in der heimischen Bibliothek im österreichischen Dorf Dreiturm provoziert zumindest Fragen. Immer wieder gibt es solche Szenen, die sich nicht wirklich auflösen lassen und in ihrer Ambiguität fortbestehen.

Diese Doppelbödigkeit flicht Kehlmann auch an anderen Stellen immer wieder geschickt ein. Großartig beispielsweise die Szene, in der Pabsts Frau Trude ob ihrer Passgenauigkeit zu einem literarischen Zirkel von Frauen einflussreicher Nazis geprüft wird und in dem sich alle gegenseitig belauern und darüber die erschreckend schlechte Prosa des NS-Autoren Alfred Karrasch in den Himmel loben (die ihr Mann dann trotzdem für die Machthaber verfilmen wird).

Dieser Sinn für Zwischentöne, für Vielgestaltigkeit und Uneindeutigkeit macht aus einem Künstlerporträt eines interessanten Menschen einen auch literarisch überzeugenden Roman, der die Erinnerung an G. W. Pabst wachhält.

Fazit

Lichtspiel ist ein Text, bei dem sich das ganze Bild erst zeigt, wenn man die einzelnen hart geschnittenen Szenen miteinander ins Bild setzt und einen Schritt zurücktritt. Dadurch entsteht das Bild eines Künstlers und Menschenlenkers, der trotz seinem Sinn für Schnitt, die Montage und den genauen Blick gerne auch die Augen verschloss vor den Ungerechtigkeiten und dem Terror der Nazis (etwa auch in der Zusammenarbeit mit der Regisseurin Leni Riefenstahl oder eigenen Dreharbeiten, bei denen auch Kriegsgefangene und Insassen von Arbeitslagern zum Einsatz kamen).

Kehlmann gelingt ein schwebendes, spannend erzähltes und literarisch ebenso interessant gestaltetes Künstlerporträt, das Licht und Schatten im Leben eines Menschen zu einem tatsächlichen Lichtspiel miteinander vereint.

Auf den Seiten des Rowohlt-Verlages gibt es auch ein einsichtsreiches Interview zu Kehlmanns Perspektive auf Pabst und die Themen des Romans.


  • Daniel Kehlmann – Lichtspiel
  • ISBN 978-3-498-00387-6 (Rowohlt)
  • 480 Seiten. Preis: 26,00 €
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Kristof Magnusson – Ein Mann der Kunst

Es könnte nicht passender sein: der dritte Roman des Übersetzers und Schriftstellers Kristof Magnusson heißt Ein Mann der Kunst. Dieser erscheint bei Kunstmann. Dort veröffentlichte der deutsch-isländische Autor bereits seine Bücher Arztroman und Das war ich nicht. Nun wendet er sich dem Genre des Künstlerromans und der Persiflage des Bildungsbürgertums zu. Gelingt Kristof Magnusson hier große Kunst?


Es hätte alles so schön sein können. Zusammen mit dem Direktor des kleinen, aber feinen Frankfurter Museums Wendevogel macht sich der illustre Förderkreis des Museums auf eine Busreise zur Burg Ernsteck. Dort lebt zurückgezogen von der Welt der Malerfürst mit dem großartigen Namen KD Pratz. Ein gefeierter Künstler, der irgendwo zwischen Richter, Baselitz und Polke changiert. Legendenumwoben und seit einer kurzen Liason mit Marina Abramovic auch in den Klatschspalten zuhause.

Dass KD Pratz dem Museum Wendevogel fast freundschaftlich verbunden war, war außergewöhnlich, galt er doch gemeinhin als schwieriger Mensch. Inzwischen Ende sechzig, war er einer der letzten verbliebenen Old-School-Künstler, der sich von Anfang an jeglicher Vereinnahmung durch den Kunstbetrieb verweigert hatte und allgemein als sperrig galt und zu keiner Gefälligkeit bereit, kurz: er war offenbar ein ziemliches Ekel.

Magnusson, Kristof: Ein Mann der Kunst, S. 9

Jenem KD Pratz möchte das Museum einen eigenen Anbau widmen, in dem die Werke des renommierten Malers präsentiert werden. Doch zuvor gilt es neben der Förderung durch Bund und Land auch den Förderkreis ins Boot zu holen. Und so hat der Direktor (beziehungsweise seine Assistentin) eine Reise für die Mitglieder des Vereins organisiert. Ein Ausflug ins sommerliche Rheingau, bildungsbürgerliche Ausflüge und als Höhepunkt ein Blick ins Atelier auf des Meisters Burg. Jede Menge Goethe-Zitate und erlesene Gespräche inklusive. So der Plan.

Doch dass ein solches Wochende auch eskalieren kann, ganz egal wie gut es geplant ist, das erfahren auch die Mitglieder des Fördervereins rasch. Denn KD Pratz stellt eindrücklich unter Beweis, dass die Gerüchte über seine Weltabgewandheit und Misanthropie alles andere als Gerüchte sind.

Ein Wochenende eskaliert

Erzählt wird die Reise von einem der Gruppe relativ außenstehenden Mann: Constantin Marx. Dieser ist eigentlich Architekt und nutzt das geplante Wochenende, stressigen Abstimmungen mit Bauherren und Firmen zu entkommen. Seine Mutter ist wie er selbst Mitglied im Förderverein und bewundert seit jeher KD Pratz. Als Ideengeberin eines eigenen KD-Pratz-Anbaus ist sie nun natürlich Feuer und Flamme, ihr Idol einmal aus nächster Nähe zu erleben.

Kristof Magnusson - Ein Mann der Kunst (Cover)

Die Turbulenzen und Komiken, die diese Reise birgt, schildert Constatin aus der Ich-Perspektive. Er wirft einen sezierenden Blick auf die Reisegesellschaft, die aus einem gescheiterten Kurator, einer überqualifizerten Assistentin, einem pensionierten Pfarrersehepaar oder auch einem millionenschweren Finanzier mit Einstecktuch besteht. Die Eigenheiten dieser Menschen und das hochkomische Zusammenwirken zwischen Bildungsbeflissenheit und gegenseitiger Ablehnung birgt jede Menge komisches Potenzial. Und Magnusson schöpft das voll aus.

Wie sich die Gruppe selbst zerlegt, wie der schwierige Malerfürst die Ansichten der Förder*innen erschüttert, wie sich das Bildungsbürgertum teilweise selbst demaskiert – hier lässt es sich mit großer Lust und Laune geschildert beobachten. Als Persiflage auf den Künstlerroman und das Bildungsbürgertum funktioniert Ein Mann der Kunst ganz hervorragend. Dass Magnusson dabei eher mit dem großen Pinsel malt, das ist bei seinem Thema verständlich. Seine Figuren sind größtenteils eher Karikaturen – aber diese sind wirklich gut gezeichnet. Der deutschen Literatur gebricht es eh an Autor*innen, die niveauvolle und lustige Satiren schreiben können. Hier liegt nun endlich wieder ein gelungenes Beispiel vor, wie das gehen kann. Keine ganz große Kunst. Aber mindestens mittelgroße!


  • Kristof Magnusson – Ein Mann der Kunst
  • ISBN 978-3-95614-382-3 (Kunstmann)
  • 236 Seiten, 22,00 €
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Robert Seethaler – Der letzte Satz

Der Meister der literarischen Verknappung ist wieder zurück. Zwei Jahre nach seinem polyphonen Totengesang gibt es nun eine neue Erzählung des österreichischen Romanciers Robert Seethaler. Diesmal konzertriert er sich auf eine historisch verbürgte Figur, die er in Der letzte Satz zu Wort kommen lässt – Gustav Mahler.

Dieser befindet sich auf der Überfahrt nach Amerika. Die Kaiserkabine auf einem Schiff der Norddeutschen Lloyd AG ist für ihn gebucht. Ein eigner Schiffsjunge steht für den Maestro auf Abruf bereit – doch Mahler kann all den Komfort und Luxus überhaupt nicht genießen. Bluthusten und andere körperliche Gebrechen quälen den zeitlebens mit einer schwächlichen Konstitution geschlagenen Komponisten und Dirigenten. Während er an der Reling des Schiffs steht, fliegen seine Gedanken davon.

Erinnerungen an sein verstorbenes Kind peinigen ihn; die schwierige Beziehung zu seiner Frau Alma treibt ihn genauso um wie entscheidende Wegmarken seines Lebens, die er in Gedanken noch einmal passiert. Modellsitzen für Rodin, das für damalige Verhältnisse megalomanische Konzert der Tausend, seiner 8. Sinfonie, die er in der eigenes umgebauten Konzertsaal in München vor 3000 Zuhörern aufführte oder auch seine musikalischen Siege und Niederlagen. Eine große assoziative Revue eines musikalischen Lebens ist es, die Seethaler uns Leser*innen hier in denkbar verknappter Form darbietet.

Rückblick auf ein Künstlerleben

Hierfür durchbricht er die Rahmenhandlung auf dem Schiff für Einschübe und Rückblicke, die allmählich das Bild eines hochtalentierten, aber auch gequälten Arbeiters ergeben, der weniger Musik-Genie, denn wirklicher Tonarbeiter war. Der mit seinem Wirken, seiner Ehe und seiner Religion haderte.

Robert Seethaler - Der letzte Satz (Cover)

Den Mythos des komponierenden und dirigierenden Talents, dem die Einfälle nur so zuflogen, Seethaler bricht es bewusst. Hier liegt ein Künstlerroman vor, der seine Figur nicht verklärt, sondern auch ihre Kämpfe und ihr Scheitern nicht verschweigt.

Das ist gut gemacht und liest sich absolut flüssig weg. Nach gerade einmal 125 großzügig gesetzten Seiten ist dieses Mahler-Porträt schon am Ende angelangt. Die letzte Reise des österreichischen Musikers, sie findet ihr Ende. „Und das war gut, denn es war Zeit zu gehen“ (S. 126). Mit diesem letzten Satz endet Der letzte Satz.

Bei aller literarischen Kunstfertigkeit, die Seethaler zweifelsohne zueigen ist. So sehr wie im Trafikanten oder auch in Ein ganzes Leben rührt Mahlers Schicksal dann aber doch nicht an. Denn für ein wirklich ergreifendes Porträt bleibt Seethaler viel zu sehr an der Oberfläche und wagt zu wenig Introspektion.

Fehlende Widerhaken

Im Gegensatz zum Vorgängerroman Das Feld ist dieses Buch nun schon wieder fast zu einfach zu lesen. Man fliegt förmlich durch die Seiten und damit durch Mahlers Leben, immer eng entlang der tatsächlichen historischen Begegebenheiten. Aber was bleibt am Ende von der Lektüre? Für mich leider nicht allzu viel, das von diesem Buch in Erinnerung bleiben wird. Als biographischer Roman ist es etwas dünn, als Künstlerroman ebenfalls nicht wirklich ausgearbeitet. Eine Studie über einen innerlich zerrissenen Mann vielleicht? Oder doch eher eine biographische Skizze?

Egal was dieses Büchlein ist. Unterhaltsam ist es auf alle Fälle und sprachlich auf dem gewohnt knapp-souveränen Seethaler-Niveau. Auch wird das Buch sicher die Leser*innen wieder für sich einnehmen und die Bestsellerlisten erklimmen, was dem Österreicher und seinem Verlag ja zu wünschen ist. Aber die literarischen Widerhaken, die das Buch langfristig in meinem Kopf verankern, sie fehlen mir hier leider. Leider nur ein sprachlich ansprechendes Porträt von Stationen aus dem Leben des Meisters, in dem für mich nicht genug Musik drin ist.

Eine andere spannende Stimme (die sich auch mit meiner deckt) gibt es bei Aufklappen,


  • Robert Seethaler – Der letzte Satz
  • ISBN 978-3-446-26788-6 (Hanser)
  • 128 Seiten. Preis: 19,00 €
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Berit Glanz – Pixeltänzer

Wenn die digitale Welt in die Welt der Literatur Einzug hält, dann geht das meistens schief. Man denke nur etwa an Dave Eggers The Circle, der über eine plumpe Warnung vor übermächtigen sozialen Netzwerken nicht hinauskam. Die komplexe Welt der Technologisierung und Digitalisierung in überzeugende Prosa zu überführen, das klappt leider in den seltensten Fällen. Der Autor Karl Olsberg etwa sah sich etwa genötigt, sein Debüt Das System bereits neun Jahre später noch einmal neu zu überschreiben, da seine Voraussagen und Fiktionen schon längst von der Realität eingeholt worden waren. Und auch dieses 2016 erschiene Buch Mirror wirkt schon drei Jahre nach seinem Erscheinen wiederum stark veraltet und gestrig. Beim Versuch, Digitales in Prosa zu überführen, ist die Halbwertszeit wohl so hoch wie in keinem anderen Genre.

Wie es besser geht, das zeigt die Autorin Berit Glanz in ihrem bei Schöffling erschienenen Debüt Pixeltänzer. Darin kombiniert sie eine Schilderung aus der Welt der New Economy, eine Schnitzeljagd und die Geschichte eines Künstlerpaares, das heute längst vergessen ist.

Der Auslöser des Ganzen besteht im Download der App Dawntastic. Mit dieser kann man mit einer zufällig ausgewählten Person irgendwo auf dem Erdball kurz telefonieren. Nach drei Minuten unterbricht die App das Gespräch – Rückverfolgung nicht möglich. Auch die Programmiererin Elisabeth, genannt Beta, holt sich diese App. Inmitten ihres tristen Alltags in einem Büro aus der New Economy-Hölle (übermotivierter Teamleiter als Animateur, Team-Building Events und ein Kamerafisch im Büroaquarium) bietet die App Abwechslung und einen Blick über den eigenen Tellerrand. Bei einem Gespräch kommt sie auch in Kontakt mit dem mysteriösen Nutzer Toboggan. Dieser lockt sie in eine Schnitzeljagd hinein, die um das Schaffen eines Künstlerpaares kreist. Diese setzten den Ausbruch aus der bürgerlichen Realität in der Nachkriegszeit des 1. Weltkriegs tatsächlich um.

In Beta wächst der Faszination, mehr über Toboggan und das Künstlerpaar zu erfahren. Sie stürzt sich mit Eifer in die Schnitzeljagd, auf die sie Toboggan schickt. Dabei spürt sie dem Leben und Wirken von Lavinia und Walter hinterher und erfasst langsam die ganze Radikalität, mit der die beiden ihr Leben lebten und ihre Ideale verwirklichten.

New Economy, Apps und Maskentanz

Es ist ein geschickter Kniff von Berit Glanz, die New Economy-Welt mit ihrer ganzen Oberflächlichkeit gegen die Welt von Lavinia und Walter zu schneiden. So zeigen sich Parallelen und und das Ganze bekommt durch diese Zeitsprünge etwas Zeitloses. Etwas, das anderer „digitalen“ Prosa fast durchweg fehlt. Wie in einem Browser springt man immer wieder zwischen den einzelenen Tabs „Beta“ und „Lavinia und Walter“ sowie „Toboggan“ hinterher. Doch es entsteht so über die Tabs hinweg ein faszinierender Hypertext voller Bezüge und Anspielungen.

Und auch wenn die Welt des Berlins der 20er Jahre mit Heinrich Zille, Ballhaus und Yvan Goll zunächst scheinbar so weit weg von Beta erscheint – am Ende von Pixeltänzer kann man die beschriebenen Leben doch durchaus auch kongruent betrachten. Mögen die beiden Künstler in den 20ern auch dem Maskentanz gehuldigt haben – aber ist das irrealer oder versponnener als so manche App, die Menschen heute auf ihren Smartphones installiert haben? Oder was würden Lavinia und Walter zur gegenwärtigen Sitte sagen, sich Hundeschnauzen auf Fotos aufzumontieren oder sich künstlich altern zu lassen?

Wo sich andere Autoren kaum daran wagen, die digitale Welt in ihr Schreiben einzubinden, da geht Berit Glanz in die Vollen. 3D-Drucker, Downloadfortschritte, Hashtags und Hackathons – Betas Welt bildet schriftlich die Komplexität und Vielfalt der digitalen Welt ab. Dies gelingt der Greifswalderin, ohne dass dabei der Lesefluss stockte oder für weniger Digitalaffine das Buch unzugänglich erschiene. Die eigenwilligen Kapiteleinleitungen mit SQL-Schnipseln oder Programmiererklärungen kann man ja auch überlesen. Ich für meinen Teil habe dank Pixeltänzer aber auch nebenbei gelernt, was Monkey und Gorilla Testing beim Programmieren ist.

Glanz‘ Debüt ist innovativ und endlich einmal ein gelungenes Beispiel dafür, wie man Digitales in Prosa überführen kann. Damit ist auch der Gegenbeweis zu den eingangs zitierten Werken geschafft, bei denen der Brückenschlag zwischen Alt und „Neuland“ nicht so recht klappen mochte. Nur auf die Frage der Killers gibt auch Pixeltänzer keine Antwort: Are we human? Or are we dancer?


Weitere Besprechungen zum Buch sind auch bei Bookster HRO und bei Feiner, reiner Buchstoff erschienen. Schaut doch mal vorbei!

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Haruki Murakami – Die Ermordung des Commendatore Bd. 2

Nun geht es also weiter – nach 3 Monaten Wartezeit seit dem Erscheinen von Die Ermordung des Commendatore – Eine Idee erscheint gibt es Nachschub. Dort, wo der erste Teil ganz plötzlich endete, setzt unvermittelt Band Zwei ein. Und gleich ist man wieder drin in der Welt des Porträtmalers, der keinen Namen trägt. Dafür hat der Vorbesitzer seiner Wohnstatt einen höchst berühmten Namen: Tomohiko Adama. Dieser schuf einst bekannte Gemälde und war eine gefeierte Größe im Kunstbetrieb – mittlerweile liebt dieser allerdings geistig umnachtet in einem Altenheim. Der Maler soll das Haus hüten und stößt auf eine Vielzahl an Geheimnissen, die ihm Rätsel aufgeben und einen unerklärlichen Reiz auf ihn ausüben.

So findet sich hinter dem Haus in den Bergen eine mysteriöse Grube, aus der immer wieder zu einer bestimmten Uhrzeit Signale ertönen. Und auf dem Dachboden des Hauses entdeckt Murakamis Held zudem ein unbekanntes Gemälde Adamas, das in keinem Werkverzeichnis des Künstlers auftaucht. Dessen Titel lautet eben Die Ermordung des Commendatore und zeigt eine Szene aus Mozarts Don Giovanni. Und dann ist da auch noch jener Commendatore höchstselbst, der immer wieder als puppengroße Erscheinung auftaucht, wenn keine anderen Menschen in der Nähe sind. Eine Art künstlerisch anspruchsvoller Pumuckl, der den Helden lenkt und ihm Ideen einflüstert.

All diese bereits aus dem ersten Band bekannten Motive und angerissenen Fäden führt Murakami nun fort, indem er den Maler tiefer in die Lebensgeschichte Tomohiko Adamas eintauchen lässt. So werden dessen familiäre Hintergründe erklärt. Und auch der geheimnisvolle Herr Menshiki, der Nachbar vom Haus auf dem Hügel gegenüber, bekommt nun mehr Spielzeit. Von dessen (möglicher) Tochter Marie fertigt der Maler gerade ein Porträt, als diese plötzlich verschwindet. Um sie wiederzufinden, macht sich der Maler auf die Suche und erhält dabei von der Geistererscheinung des Commendatore Anweisungen. Damit beginnt eine Reise, die wieder einmal Murakami-Typisch zwischen Geistern und echter Welt hin- und herpendelt.

Die Ermordung des Commendatore II – eine Metapher wandelt sich zeigt schon mit dem Titel, was den Leser erwartet. Neben den realen Elementen der Geschichte fließt auch viel Geisterspuk und Metaphysisches in die Erzählung ein. So tauchen doppelte und einfache Metaphern auf – genauso wie sich Ideen materialisieren und den Helden beeinflussen. Auch die Verbindung zur bisher unverbunden stehenden gesichtslosen Gestalt aus dem Prolog von Band 1 wird nun hergestellt. Alles rundet sich und findet einen befriedigenden Abschluss. Murakami gelingt es hier erneut, trotz aller möglichen komischen oder abgedrehten Element seiner Erzählung eine ernste und glaubhafte Erzählung abzuliefern. Dies tut er in diesem typisch zurückhaltend-schwebenden Murakami-Sound, der unzählige Leser*innen zu begeistern mag. So auch mich!

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