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Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns

Mona Lisa, du musst wandern. Tom Hillenbrand schildert in Die Erfindung des Lächelns den Raub der Mona Lisa als voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich, das für viel Chaos und Verwicklungen sorgt. Polizei, Okkultisten, eine Tänzerin, eine Bande Gesetzloser und sogar Pablo Picasso, sie alle jagen hinter „La Joconde“ her, die erst ihr Diebstahl zum Mythos werden lässt, wie Hillenbrand in seinem zweiten historischen Roman zeigt.


Am späten Abend des 31. Dezember überquerte die Mona Lisa die französische Grenze. Sie hatte den Louvre als Gemälde verlassen, nun kehrte sie als Mysterium zurück.“

Florian Illies – 1913, S. 296

So ist es in Florian Illies‚ 2012 erschienenem Bestseller 1913 zu lesen, in dem der Raub der Mona Lisa fast schon zum Running Gag wird. In seinem erzählenden Sachbuch schaltet er wie der Reporter einer Fußballkonferenz immer wieder nach Paris in den Louvre, wo Monat für Monat das Ausbleiben von Leonardo da Vincis berühmtesten Gemälde zu beklagen ist, ehe es nach seinem Diebstahl 1911 erst über zwei Jahre später nach Hause findet.

Tom Hillenbrand verwandelt nach seinen Ausflügen in die kriminelle Welt der Kulinarik (seine Xavier Kieffer-Krimis), die der Science Fiction (QUBE) und der Kryptowährung (Monte Crypto) nun nach Der Kaffeedieb nun in seinem zweiten historischen Roman die Leerstelle, die durch den Raub der Mona Lisa entstand, in einen turbulenten Reigen, der von Anarchisten, Künstlern und Ermittlern bis hin zu Okkultisten reicht.

Zwischen Anarchisten und Okkultisten

Es ist eine verhängnisvolle Leerstelle, die sich im Salon Carré des Paris Louvre offenbart, als dieser am 22. August des Jahres 1911 seine Pforten öffnet. Inmitten der erschlagenden Fülle von Meisterwerken ist es das kleinformatige, auf Holz gemalte Bild der Mona Lisa alias „La Joconde“, das nicht mehr an der Stelle hängt, an der es sich eigentlich befinden sollte.

Tom Hillenbrand - Die Erfindung des Lächelns (Cover)

Der Aushilfsmaler und Handwerker Vincenzo Peruggia hat das Gemälde Leonardo da Vincis an sich genommen, was eingedenk der laxen Sicherheitsmaßnahmen im Louvre ein Kinderspiel war. Während der Diebstahl zunächst noch unbemerkt bleibt, entspinnt sich bald schon ein Hype um das fehlende Gemälde, der sich in Kinofilmen, wild titelnden Zeitungen und der Entlassung des bisherigen Galeriedirektors äußert. Ganz Paris scheint elektrisiert – und Hauptkommissar Juhel Lenoir von der Sûreté Générale macht sich auf die Suche nach der verschwundenen Schönheit.

Dies ist allerdings nur einer von zahlreichen anderen Erzählstränge, die Tom Hillenbrand umeinander webt und deren Gemeinsamkeit das Kunstwerk der Mona Lisa ist, der alle Figuren in diesem Roman begegnen werden. Da ist zum Beispiel der Okkultist Aleister Crowley, der in einem heruntergekommenen Paris Hotel die Anrufung dunkler Mächte versucht, die skandalumwitterte Tänzerin Isidora Duncan, die wie einst Anita Berber mit ihrer freizügigen Tanzdarbietungen ganz Paris in Ekstase versetzt. Die Anarchistin Jelena, die unter ihrem Pseudonym Voltairine für einen Umsturz bestehender Verhältnisse eintritt oder eben Vincenzo Peruggia, der irgendwo zwischen Pechvogel, umnachteten Süchtigen und tumben Patrioten changiert.

Pablo Picasso als Retter der Mona Lisa

Sogar Pablo Picasso ist eine der Figuren, die den Plot des Romans erheblich trägt und der einer der Fixpunkte des künstlerischen Lebens ist, der am Montmartre und dem Atelier Picassos seine größte Ausprägung findet. Tom Hillenbrand zeigt ihn in seiner kubistischen Phase im Clinche mit Henri Matisse – und als entscheidender Faktor in Sachen Wiederauftauchen der Joconde (eine teilweise sogar historisch verbürgte Episode, wurde Picasso mitsamt dem Kunstkritiker Guillaume Apollinaire doch tatsächlich des Diebstahls der Mona Lisa verdächtig, da er sich im illegalen Besitz von Kunstschätzen aus dem Louvre befand).

Es ist ein munteres und höchst voltenreiches Bäumchen-Wechsel-Dich-Spiel, das sich um die Mona Lisa entfaltet und das Hillenbrand durchaus auch mit Sinn für Komik zu gestalten weiß. So wird das Gemälde immer wieder geklaut und fällt auf teils abstrusen Wegen in die Hände seiner verschiedenen Protagonisten. Daneben zeichnet Hillenbrand auch ein Bild des immensen kulturellen Lebens, welches Paris zu einem wahrhaften Kreativquartier kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs machte. Braque, Duchamp, Picasso, Matisse, sind nur einige der Figuren, die den Leser*innen hier begegnen. Tanz, Malerei, Kunstkritik – alles strebt nach neuem Ausdruck und künstlerischer Entfaltung.

Mona Lisa – vom Gemälde zum Mythos

Nicht zuletzt blickt Die Erfindung des Lächelns ähnlich wie Florian Illies in 1913 auch hier auf den entscheidenden Wendepunkt, der aus der der Mona Lisa den Mythos machte, der sie heute zu einem der wohl bekanntesten Kunstwerke überhaupt machte.

Ein Ehepaar mittleren Alters nähert sich. Es handelt sich um Briten. Pablo versteht nicht, was sie sagen. Aber er erhascht das Wort „Gioconda“. Vermutlich erklärt der Mann seiner Frau unnötigerweise, was inzwischen jeder auf der Welt weiß: dass hier einst das berühmteste Gemälde der Welt hing.

Wobei das nicht ganz korrekt ist. Solange es hier hing, war das Gemälde bestenfalls mittel berühmt. Einer wie Pablo kannte es, natürlich. Aber der Großteil der Menschheit hatte noch nie von dem Bild gehört. Erst als die Joconde verschwand, wurde sie zu dem, was sie jetzt ist.

Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns, S. 221

War Leonardo da Vincis Porträt zuvor nur eines unter vielen Werken, das in der erschlagenden Fülle der Hängung im Louvre so kaum auffiel und selbst vielen Pariser*innnen unbekannt gewesen sein dürfte, so machte der Diebstahl aus der Joconde ein Gemälde, das die Massen faszinierte und nach seinem kurzzeitigen Ausflug in die florentinischen Uffizien dann in Paris zu einem Phänomen wurde, das sie bis heute darstellt.

Fazit

Diese Verschmelzung von Malereigeschichte, Heist-Coup mit einer Hommage an Arsène Lupin, Fantômas und Co, Parisroman, Kulturgeschichte und Kunstkrimi macht aus Die Erfindung des Lächelns einen historischen Roman, der gut zu unterhalten weiß und der das brodelnde Paris um 1911 hervorragend zum Leben erweckt.


  • Tom Hillenbrand – Die Erfindung des Lächelns
  • ISBN 978-3-462-00328-4 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 512 Seiten. Preis: 25,00 €
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Aurora Venturini – Die Cousinen

Den Weg von einer „Schule für Minderbemittelte“ bis zur ausstellenden Künstlerin, ihn zeichnet Aurora Venturini in ihrem außergewöhnlichen und mit dem Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung ausgezeichneten Roman Die Cousinen nach, der nun postum in der Übertragung von Johanna Schwering und mit einem Nachwort von Mariana Enriquez zu entdecken ist.


Es war reichlich spät, genauer gesagt im Jahr 2007, als die argentinische Schriftstellerin Aurora Venturini im Alter von 85 entdeckt wurde und ihr der literarische Durchbruch in der Heimat gelang. Vorausgegangen war dem Ganzen eine Einsendung beim Literaturwettbewerb Premio Nueva Novela, den Aurora Venturini unter Pseudonym eingereicht hatte.

Venturinis Landsfrau Mariana Enriquez bemerkt in ihrem Nachwort, dass die Einsendung schon aufgrund der äußeren Form eines Typoskripts aus der Reihe fiel. Und auch der dargebotene Inhalt verweigerte sich jeder einfachen Kategorisierung oder Form. Mehr als außergewöhnlich war es, das die Autorin auf den maschinengetippten und korrigierten Seiten darbot. Exzentrik und Risikobereitschaft sprachen aus den Seiten des Textes, der von der Jury um Mariana Enriquez dann tatsächlich ausgezeichnet wurde und der das Interesse auf eine Dame lenkte, deren Leben selbst zum Roman taugen würde.

So zählte Aurora Venturini einst zum Unterstützerkreis der argentinischen Präsidenten Peron und war mit dessen Frau Eva befreundet. Sie ging ins Exil nach Frankreich, pflegte eine Freundschaft mit Jorge Luis Borges und arbeite fleißig am eigenen Mythos. Erst mit 85 Jahren sollte dann aber nach der Zuerkennung des Preises das literarische Interesse an Aurora Venturini geweckt werden. 2015 verstorbenen erschien nun im vergangenen Jahr eine erste Übersetzung dieser Autorin ins Deutsche, die Johanna Schwering besorgte. Zu entdecken ist ein origineller Text, der auf sprachlicher Ebene den alles andere als gefälligen Inhalt sinnreich umspielt und ergänzt und der eine Bildungsgeschichte erzählt.

Rettung durch die Kunst

Erzählerin ist Yuna López, die zusammen mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester Betina eine „Schule für Minderbemittelte“ besucht.

Meine Schwester verließ die Schule in der dritten Klasse. Es hatte keinen Sinn mehr. Eigentlich hattes es bei uns beiden nicht viel Sinn und ich ging nach der sechsten Klasse ab. Aber ich lernte Lesen und Schreiben wenn auch letzteres mit vielen Rechtschreibfehlern, das stumme H schrieb ich zum Beispiel nie, wozu auch, wenn man es nicht hört?

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 14 f.
Aurora Venturini - Die Cousinen (Cover)

Ihre Schwester Betina ist schwer behindert und sitzt im Rollstuhl. Der Vater hat die Familie verlassen und die Mutter behilft sich in Erziehungsfragen mit dem Einsatz eines Rohrstocks, mit dem sie die Kinder ausgiebig züchtigt. Es ist ein armes und deprimierendes Umfeld, in dem Yuna aufwächst.

Doch es gibt einen Weg, mit dem Yuna diesem prekären Milieu in Adrogué, eine Vorort Buenos Aires, entfliehen kann. Dieser Weg ist die Kunst. Denn Yuna erweist sich als originelle Malerin mit einem ganz eigenen Ausdruck, die auch die Aufmerksamkeit ihres Professors weckt. Dieser ermutigt Yuna zum Malen und organisiert bald eine erste Ausstellung ihrer Werke, der bald weitere Schauen folgen werden. Allmählich emanzipiert sich Yuna und schafft es sowohl zu künstlerischer als auch finanzieller Eigenständigkeit, der später eine gemeinsame Wohnung mit ihrer Cousine, der kleinwüchsigen Petra, folgen wird.

Ein Bericht einer Bildung

Von ihrem Werdegang berichtet sie in Form eines Berichts, das den Charakter und den Bildungsweg seiner Verfasserin abbildet.

Mein Bild wurde fertig, diesmal Öl auf Leinwand und es war so schön geworden, dass es mir leidtat es zu verkaufen aber ich lebte voller Stolz von meinem Werk und zahlte Miete im Haus meiner Familie das mir Tag für Tag und ich weiß gar nicht warum immer fremder erschien, mehr ihrs als meins denn ich war eine blasse Ombrage (ebd.) die von Zeit zu Zeit Flure und Gefilde durchstrolchte (ebd.); ebd. bedeutet übrigens Wörterbuch aber es kommt mir zupass weil es eine Abbreviatur ist und weil ich mich niemals mit fremden Federn schmücke, erläutere ich, dass auch der Begriff Abbreviatur meinen Wörterbuchkulturforschungen entstammt die mir helfen meiner geerbten Minderbemittelung zu entkommen.

Aurora Venturini – Die Cousinen, S. 105

Immer wieder wendet sich Yuna an die Lesenden, erklärt ihre Gefühle, Erlebnisse und fasst wie in einem mündlichen Bericht noch einmal Erlebtes oder Verwandtschaftsverhältnisse zusammen, um danach mit ihrem Bericht fortzufahren. Dabei bildet der Text den Bildungsweg der jungen Frau nach, die sich ihre Bildung selbst aneignet. Immer wieder flicht sie in Wörterbüchern gefundene Wörter ein und erklärt diese Funde. Das Bemühen um eine verständliche Schilderung trotz aller Schwierigkeiten mit der schriftlichen Darstellung spricht aus allen Zeilen.

Eine preisgekrönte Übersetzung

Orthographische Feinheiten wie Kommasetzung oder ähnliche Finessen kennt Yuna dabei nicht. Stattdessen orientiert sie sich stark an der Mündlichkeit und erfindet Wortspielereien wie den Rollstuhl ihrer Schwester, der immer wieder rummrumst. Gelungen schafft es Johanna Schwering, diese Charakterisierung durch Sprache und Schreiben aus dem argentinischen Spanisch ins Deutsche hinüberzuretten. Sie erzeugt auch in der deutschen Variante dieses Textes neben der eigentlichen Schilderung auch indirekt über die Sprache einen bleibenden Eindruck seiner Erzählerin. Die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse lobte das Ganze wie folgt:

Ihre Worte schaffen Atmosphären und lassen uns den Geruch der Großstadt, das Ozon und die Orangenblüte aus den Buchseiten herausriechen. Schwerings Übersetzung nimmt die Unverschämtheiten des Originals mutig auf und folgt den eigentümlichen Grammatikregeln des Originals sowie seiner besonderen Härte und seinem sprühenden Witz. Ihr ist es mitzuverdanken, dass mit diesem fabelhaften Künstlerinnenroman erstmalig ein Buch der Argentinierin Aurora Venturini auf Deutsch vorliegt. Es mögen hoffentlich viele weitere, natürlich in der Übersetzung von Johanna Schwering, folgen.

(Aus der Begründung der Jury zur Preisvergabe an Johanna Schwering)

Die Welt, von der Yuna so erzählt, ist eine düstere und wenig Hoffnungsvolle, in der besonders Männer schlecht wegkommen. Der Vater ist verschwunden, der Kunstprofessor, der später zum Vormund Yunas wird, hegt auch nicht nur hehre Motive. Sexuelle Gewalt, Scham und Ausgrenzung sind Marker dieser Welt, von der Yuna berichtet. Frauen sterben hier nach Abtreibungen, werden missbraucht und müssen ganz eigene Strategien entwickeln, um in dieser Welt zu überleben, allen voran die findige Cousine Petra, die sich als Prostituierte durchschlägt, die sich um die Aufklärung von Yuna kümmert und die ihr auch die Spielregeln der Gesellschaft der 40er Jahre in Argentinien näherbringt.

Die Cousinen ist ein Familienroman aus einem dumpfen, gewaltgesättigten Milieu, der trotz aller Schwere und Hoffnungslosigkeit eben auch von der Kunst als Rettungsanker erzählt, mithilfe dessen sich Yuna von ihrem Umfeld emanzipieren kann. Auch in der Sprache und der Form des Berichts findet die junge Frau ein Ausdrucksmittel, das in seinem ganzen Facettenreichtum aufgrund der herausragenden Übersetzung durch Johanna Schwering auch im Deutschen erlebbar wird.

Fazit

Mit diesen Buch erweist sich Aurora Venturini als eine Wegbereiterin jüngerer argentinischer Autorinnen wie etwa Claudia Piñeiro, mit der sie das scharfe Auge für gesellschaftliche Missstände, Kritik an der Bigotterie und nicht zuletzt auch den Handlungsort Adrogué teilt, in dem auch Piñeiro ihren anklagenden Roman Kathedralen spielen lässt.

Schön, dass die so spät entdeckte Argentinierin Venturini nun auch hierzulande lesbar ist. Noch schöner, dass die Übersetzerin Johanna Schwering und der herausgebende dtv-Verlag den Wunsch der Leipziger Jury nach weiteren Übersetzungen schon so schnell erfüllen. In wenigen Monaten gibt es mit Wir, die Familie Caserta schon ein weiteres Werk aus dem Schaffen von Aurora Venturini zu entdecken!


  • Aurora Venturini – Die Cousinen
  • Aus dem argentinischen Spanisch von Johanna Schwering
  • Mit einem Nachwort von Mariana Enriquez
  • ISBN 978-3-423-29031-9 (dtv)
  • 192 Seiten. Preis: 23,00 €
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Eckhart Nickel – Spitzweg

Nein, Spitzweg von Eckhart Nickel ist keine poppige Biographie des Malers, auch wenn es Aufmachung und Titel nahelegen. Das Leben des Künstlers, der ikonische Bilder wie Der Bücherwurm oder Der arme Poet schuf, es steht nicht im Mittelpunkt des Buchs.

Vielmehr erzählt der 1966 geborene Eckhart Nickel in seinem neuen Roman von drei Schüler*innen, die sich durch Kastaniengolf, Kunst-Deutungen und Spitzwegverehrung finden und gegenseitig bilden. Stilistisch ambitionierte Unterhaltung, die ganz auf Sprache und Ästhetik setzt.


Hagestolz, wie das klingt. Ein völlig aus der Zeit gefallener Begriff, heute kaum mehr en vogue, genauso wie die Bilder Carl Spitzwegs mit seiner zwischen Biedermeier und Romantik stehenden Bildsprache. Und dennoch übt der Hagestolz auf Carl und seinen namenlosen Freund, den Ich-Erzähler des Romans, einen großen Reiz aus:

„Kennst du das Bild? Allein der Name ist hinreißend: „Der Hagestolz“. Was für ein herrlicher Begriff! Das Wort an sich ist eine Wonne, weil es einen so zielsicher vom A über das E zum O führt, so schön, dass man es sich nicht oft genug laut vorsagen kann. Versuch es mal, schon mit dem langen H am Anfang, das einen so verheißungsvoll anatmet, dann geht es mit dem verschluckten kleinen G sofort in das mächtig gewaltige STOLZ über, und das Ausrufezeichen ist eigentlich schon mit dem finalen Buchstaben des Schlusswortes unsichtbar gesetzt. Einer meiner Lieblingsschriftsteller hat in seinem ersten Roman den entscheidenden Satz gesagt: Mein Glück, dass es das Wort HAGESTOLZ nicht mehr gibt. So kann ich in aller Ruhe einer werden, und trotzdem kann mich keiner einen schimpfen.

Eckhart Nickel, Spitzweg, S. 162

Schon in diesem kleinen Ausschnitt eines Gesprächs über Spitzwegs Bild des Hagestolzes wird klar, welchen Geist Eckart Nickels Roman atmet. Da unterhalten sich zwei Schüler, kunstsinnig und hochgebildet, Carl dabei gerne in erlesene Stoffe und Kombinationen gewandet, zusammengeschweißt durch eine Begegnung am Getränkeautomaten der Schule, die Carl wie folgt kommentierte:

„Ich frequentiere Milch. Und daran fehlt es hier offensichtlich, wie an vielem anderen mehr“.

Eckhart Nickel – Spitzweg, S. 11

Der Bund der zwei Jungen in der anonymen Schule in der anonymen Stadt wird bald um eine Dritte erweitert. Es ist Kirsten, die nach einem traumatischen Erlebnis im Kunstunterricht zur Gesellschaft der beiden Freunde dazustößt. Zu dritt parlieren sie über Kunst und Kunstwerke, wie eben etwa über Spitzwegs Hagestolz, Readymades oder die Genese und Ausdeutung von John Everett Millais‘ Gemälde Ophelia. Doch dann beschließt Kirsten, zu verschwinden und löst damit viel Verwirrung aus.

L’art pour l’art und eine Feier des Dandytums

Spitzweg ist ein Roman, der das Motto der L’art pour l’art und das Dandytum feiert. Artifiziell ohne Ende ist die Sprache des Buchs und artifiziell ist die Sprache der Freunde untereinander, die eigens ein neues Buchstabieralphabet ersonnen haben. Bei diesem ist das N anstelle des Nordpols etwa durch Nabokov belegt.

Eckhart Nickel - Spitzweg (Cover)

Überhaupt – die Literatur. Sie spielt eine zentrale Rolle in diesem Roman, hat der Erzähler doch das Bildungsideal ausgiebig beherzigt und ist firm in der Literaturgeschichte, was von Ludwig Tieck über die Buddenbrooks bis Michael Ondaatje reicht. So parliert der Erzähler zitat- und kenntnisreich mit seinem Lehrer, der ihn in den dunklen Literaturbunker unterhalb seines Haus einlädt oder weiß auch ansonsten im Gespräch mit Carl immer wieder mit Bonmots zu brillieren, wohingegen sich dieser auch einmal in einem seitenlangen Referat über Anonymität und Kunst verliert.

Auch der Text selbst steckt voller ausgesuchter Wörter. So ist das Buch in einem gehobenen, bildungssprachlichen Duktus verfasst, bei dem sich Nickel nicht vor der Verwendung entlegener Begriffe wie Proömium, Gleiskörper oder epherm scheut sondern diese vielmehr zelebriert. Dinge in diesem Roman sind gerne einmal fein ziseliert oder ornamentiert. Nachgerade auffallend ist Nickels Begeisterung für ebenjenes Adverb, das der Autor häufig im Text verstreut.

Neben der artifiziellen Sprache sind es auch die Dialoge, bei denen durchaus bildungsgesättigte und benennungsstarke Sätze wie dieser fallen:

„Eigentlich kann man es auf den ersten Blick kaum erkennen, Siehst du den Architrav dort unter dem Balkon? (…). Der Mezzanin schließt sich in der Regel eher dem Erdgeschoss an, aber zu meinem Glück gehört er hier zum zweiten Stock, in dem wir wohnen“ (S. 27).

Da gerät die Frage, ob neben den ganzen wort- und dialogreichen Zurschaustellung der eigenen Bildung und des ganzen Wortgeklingels auch Raum für eine genuin entwickelte Handlung bleibt, fast ins Hintertreffen. Ich würde sie aber sowieso verneinen.

Zwar gibt es Handlungsmomente im Roman, im Großen und Ganzen zerfällt Spitzweg aber in viele Einzelepisoden und Begebenheiten, die allmählich ein Bild der Dreier-Freundschaft zwischen Park, Museum und Villen zeichnet. Zu einem wirklichen Handlungsbogen oder einer größeren Erzählabsicht reicht es nicht – die ist Nickel in meiner Lesart aber nicht wichtig. Eher ist es hier die L’art pour l’art, die hier im Mittelpunkt steht und mit der es Nickel auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Fazit

Bildbetrachtungen, Interpretationen, bildungsgesättigtes Parlando – all das hält Spitzweg bereit und ist damit in der deutschen Gegenwartsliteratur eine wirkliche Erscheinung, die das Dandytum feiert und wortreich und geradezu arabesk besingt. Dass die Buchgestaltung der Büchergilde sich da dem Inhalt anschließt und durch kunstvolle Außengestaltung überzeugt, das passt ins Bild.

Eine weitere, hervorragende Besprechung gibt es bei Aufklappen . Und auch im Deutschlandfunk wurde das Buch von Jan Drees bereits besprochen.


  • Eckhart Nickel – Spitzweg
  • Edition Büchergilde
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Sophie Hardcastle – Unter Deck

Das Schiff als Handlungsort für Romane liegt im Trend. Die Vorteile für den Schauplatz liegen auf der Hand: ein hermetisch abgeschlossener Ort, ein überschaubares Figurenensemble (wenn man nicht gerade von einem Kreuzfahrtschiff ausgeht) und viele Möglichkeiten zur Entwicklung dieser Figuren durch Ausnahmesituationen.

Egal ob Walfänger (Ian McGuireNordwasser), mittelalterliches Schiff (Stuart TurtonDer Tod und das dunkle Meer) oder Yacht (Amity GaigeUnter uns das Meer) – zumeist geraten die Held*innen dieser Bücher in Ausnahmesituation, müssen mal ihr Leben, mal ihre Ehe retten. In Sophie Hardcastles Roman Unter Deck ist das nicht anders. Und dennoch gelingt ihr ein eigenständiger Roman von großer Eindringlichkeit, Farbigkeit und Dramatik. Sie kombiniert die Schiffsreisen einer jungen Frau mit der Erzählung eines sexuellen Missbrauchs und deR schwierigen Verarbeitung des Erlebten.

Beyond the sea

Dabei dauert es in Hardcastles Roman eine ganze Weile, bis es zur dramatischen Schiffspassage kommt, von der der Klappentext kündet. Zunächst lernen wir die junge Olivia kennen, die sich auf einem Boot als Opfer einer Entführung wähnt. Doch was sich für sie zunächst nach einer Entführung anfühlt ist vielmehr eine ritterliche Tat von Mac, so der Name des bärtigen Bootsbesitzers. Er hat Olivia betrunken aufgelesen und sie auf sein Boot in Sicherheit gebracht. Dort soll sie ausnüchtern. Doch bei dieser einen Rettungstat wird es nicht bleiben. Immer wieder wird Mac in den folgenden Jahren zu einem sicheren Hafen für die junge Frau werden.

Sophie Hardcastle - Unter Deck (Cover)

Im Anschluss an die vermeintliche Entführung macht er Olivia mit seiner Frau Maggie bekannt. Die beiden Frauen bemerken schon bald eine verbindende Art von Seelenverwandschaft. Denn während Maggie blind ist, prägt eine Synästhesie Olivias Wahrnehmung. Sie erkennt in Lautäußerungen Farben und Stimmungen (was Sophie Hardcastle wieder für adjektivsatte und sehr eindrückliche Schilderungen der maritimen Lebenswelt zu nutzen weiß).

Nachdem sie den Erwartungen ihrer fordernden und lieblosen Eltern entgehen möchte und die Beziehung zu ihrem Freund Adam auch nicht mehr zufriedenstellt, wagt sie mit Mac und Maggie einen Törn. Die beiden laden sie auf ihr Schiff ein – und schon bald werden der Seebär und die blinde Skipperin zu einer Ersatzfamilie für sie. Sie zeigen der jungen Frau eine andere Art des Umgangs miteinander auf. So lesen sie sich zum Frühstück Gedichte vor, die Wohnung der beiden ist voller Kunst und vor der Reise packen sie jede Menge Romane und Lyrik in ihr Reisegepäck (unter anderem wandert Rebecc Solnit mit ihrem Essayband Die Kunst, sich zu verlieren ins Reisegepäck).

Es ist eine Art Paradies, die Sophie Hardcastle rund um die drei so unterschiedlichen Menschen inszeniert. Man fängt Fische, taucht inmitten von Korallenwäldern und lauscht dem Walgesang. Allerdings sollte man sich von diesen bunten und verlockenden Schilderungen nicht aufs Glatteis führen lassen. Denn nach diesem Hymne auf das maritime Leben führt uns Sophie Hardcastle in völlig andere Untiefen.

Fünf Männer und eine Frau an Bord

Nach einem Zeitsprung sind wir wieder bei Olivia, die als Smutje bei einer Schiffsüberführung von Australien nach Neuseeland anheuert. Trotz der alten seemännischen Vorbehalte des Skippers Vlad gegen Frauen an Bord wird Olivia in die Truppe aufgenommen. Doch schon nach wenigen Tagen kippt die Stimmung an Bord gefährlich. Nicht alle Männer sind ihr wohlgesonnen, sie bricht sich eine Rippe und dann wir es vollends kompliziert, als sie Sympathien für ein Crewmitglied entwickelt. Eines Nachts kommt es zu einem Übergriff, der Olivia in den kommenden Jahren unlässig begleiten wird. Sophie Hardcastle inszeniert diesen erfreulich vielschichtig, differenziert und nachvollziehbar. Die entscheidende Nacht ist hier nicht schwarz oder weiß, sondern eben auch in Grautönen changierend. Immer wieder wird Olivia die Erfahrungen neu überdenken und durchleben.

Davon erzählt Hardcastle dann in den letzten beiden Teilen des Buchs. Nach einem weiteren Zeitsprung arbeitet Olivia dann in London in einer Galerie und geht eine Beziehung mit dem Bruder ihrer Chefin ein. Die Dämonen des Übergriffs lassen sie allerdings auch in dieser Beziehung nicht los. Stets löst das Element des Wassers in ihr Abscheu aus und holt Verdrängtes wieder ans Tageslicht. Das schwierige Leben mit dem Erlebten und Verdrängten wird dann auch im letzten Teil des Buchs behandelt. So bekommen ihre Schutzengel Mac und Maggie hier noch einmal einen Auftritt.

Unter Deck erzählt vom Kampf mit dem Erlebten. Beeindruckend schildert Sophie Hardcastle die Dämonen, die Olivia nicht mehr loslassen wollen. War das Buch bis zur Schiffspassage nach Neuseeland in weiten Teilen eine nahezu paradiesische Schilderung (in der alle Elemente des Folgenden allerdings auch schon angelegt waren), so kippt das Buch ab der Hälfte völlig. Angenehm schwankend und sehr nachvollziehbar gelingt ihr diese schwierige Schilderung, wo sich andere Erzählerinnen ins Quasi-Dokumentarische verlegen. Der Fortgang des Romans wird logisch aus dem Erlebten entwickelt und man ist ganz nah an dieser Heldin dran.

Fazit

Unter Deck ist Roman mit einem schwierigen Thema, das Sophie Hardcastle bravourös schildert. Um diesen Kern herum legt sie ein Sprachgewebe, das durch seine Farbigkeit und Opulenz besticht (übersetzt von Verena Kilchling). Liegen auch die einzelnen Teile zeitlich und räumlich auseinander, so gelingt es der 1993 geborenen Autorin, diese Teile logisch miteinander zu verbinden und so die Erfahrungen eines sexuellen Missbrauchs und die Konsequenzen nachvollziehbar und plastisch zu schildern. Ihr Debüt ist kein Buch, das gute Laune oder leichte Unterhaltung bietet. Aber es ist ein wichtiges und wuchtiges Buch. Eines, in dem das Boot auf dem weiten Meer zur Metapher auf die Verfasstheit der Heldin gerät. Lohnenswert und in meinen Augen besser gelungen als Bettina Wilperts nichts, was uns passiert. Eine klare Empfehlung und deutlich mehr als „nur ein Schiffsroman“.


  • Sophie Hardcastle – Nichts was uns passiert
  • Aus dem Englischen von Verena Kilchling
  • ISBN: 978-3-0369-5831-6
  • 320 Seiten. Preis: 23,00 €
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Augustus Rose – Philadelphia Underground

Kann das gutgehen? Ein Thriller über Kunst, eine junge Ausreißerin, Lost Places, Drogen, Diebstahl und Marcel Duchamp? Was nach einer zugegeben recht wirren Mischung klingt, geht im Fall von Augustus Rose‚ Debütroman Philadelphia Underground dann doch wirklich gut. Ein Roman, der auch Leser von Donna Tartt oder A. G. Lombardo interessieren dürfte.


Der Weg des großen Künstlers von morgen, er führt ihn in den Untergrund. Dieses Zitat wird Marcel Duchamp zugeschrieben. Visionärer Künstler, Schöpfer von sogenannten Readymades (wie etwa dem berühmten Urinal), Gemälden und Installationen wie seinem letzten Werk Etats Donnés, der seine Sammlung dem Philadelphia Museum of Art vermachte. Jener Duchamp scheint auch immer wieder den Weg Lees zu kreuzen. Diese lebt entfremdet von ihrer eigenen Familie in Philadelphia. Untergeschobene Drogen haben sie ins Jugendgefängnis gebracht. Von dort bricht sie aus – und wählt den Weg in den Untergrund. Sie taucht unter, bricht in Wohnungen ein, verdingt sich als Diebin und kommt schließlich in einer Wohngemeinschaft unter. Dort lernt sie Tomi kennen, der sie in die Gemeinschaft der Urban Explorer, kurz Urbex, einführt. Gemeinsam durchstreifen sie verlassene Gebäude, auch Lost Places genannt, und brechen unter anderem in das Kunstmuseum von Philadelphia ein. Dort lernt Lee durch Tomi die Kunst Marcel Duchamps kennen.

Auf den Spuren der Société Anonyme

Augustus Rose - Philadelphia Underground (Cover)

Doch es ist nicht nur die Kunst Duchamps, die Lee beschäftigt. Auch die sogenannte Société Anonyme treibt sie um. Jene Gesellschaft, die ursprünglich von Duchamp, Man Ray und Katherine S. Dreier gegründet wurde, scheint dieser Tage in Philadelphia auferstanden zu sein. Immer wieder tauchen Jugendliche völlig abgestumpft und entrückt nach Drogenexzessen auf. Die Société scheint hinter diesen Vorkommnissen zu stecken. Und Lee ist ebenfalls in ihr Visier geraten. Die Mitglieder jener omniösen Organisation haben die Jagd auf Lee eröffnet. Doch was wollen sie von ihr? Der Gang in den Untergrund scheint für die junge Frau angeraten.

Es ist eine wirklich wilde Mischung, die Augustus Rose in seinem Debüt hier anrührt. Eine Geheimgesellschaft, drogenvernebelte Kinder, die in Philadelphia auftauchen, eine Ausreißerin auf der Flucht, eine Schnitzeljagd durch und unter der Stadt und über allem schwebend Marcel Duchamp. Wie soll so etwas zusammenfinden? Nach der Lektüre von Philadelphia Underground kann ich konstatieren, dass Rose das Kunststück gelingt, ähnlich wie in der Kunst Marcel Duchamps, scheinbar Widersprüchliches zusammenzufügen, sodass ein überzeugendes Kunstwerk entsteht.

Ein Kunstwerk, zusammengebaut aus Widersprüchlichem

Im Kern ist Philadelphia Underground eine wilde Räuberpistole, an der man sich die Freude über den Text durch ein genaues Überprüfen der Realität verleidet. Vielmehr sollte man sich wie bei der Betrachtung von Kunst einfach einlassen auf Lee und das große Abenteuer, das ihr bevorsteht. Dieses Buch ist Konzeptkunst im Sinne Duchamps, die mitreißt, die in Bunker und Röhren unter Philadelphia entführt. Die eine Coming of Age-Geschichte ist, ein großes Abenteuer mit einer Prise Momo gegen die grauen Männer. Action gepaart mit Kunstbetrachtungen, die Stadt Philadelphia als großes Abenteuerspielplatz und nicht zuletzt auch eine etwas unorthodoxe Einführung in das Schaffen Duchamps. Was hier vielleicht etwas theoretisch klingt, wird im Buch zu einer spannend zu lesenden und immer wieder überraschenden Geschichte, die zum originellsten gehört, das ich dieses Jahr bislang in die Finger bekam. Und einer, die ich bei nächster Gelegenheit gleich noch einmal lesen möchte.

Fazit

Was ist nun Philadelphia Underground von Augustus Rose? Wie sollte man es auf einen Nenner bringen? Ich würde sagen, dieses Buch ist originell, eigen, eine Hommage an die Kunst Marcel Duchamps – literarische Konzeptkunst, leicht zugänglich, inspirierend. Ein Buch, das sich dem Thema der Kunst und der Kunstvermittlung auf außergewöhnlichen Wegen nähert.


  • Augustus Rose – Philadelphia Underground
  • Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
  • ISBN 978-3-492-05797-4 (Piper-Verlag)
  • 464 Seiten, Preis: 22,00 €

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