Tag Archives: Deutscher Buchpreis 2022

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter

„Die Kleinfamilie“, zitiere ich, „ist gegründet auf die offene oder verhüllte Haussklaverei der Frau. Er ist der Bourgeois, sie das Proletariat.“

„Wer sagt das? Marx?“, will meine Mutter wissen.

„Nein, Engels.“

Sie nickt

„Vielleicht hat er nicht ganz unrecht, dein Engels.“

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter. S. 204

Nicht erst seit der Zuerkennung des diesjährigen Literaturnobelpreises an die Französin Annie Ernaux ist die Erkundung der eigenen weiblichen Identität in Verschränkung mit der Klassenfrage in den literarischen Fokus gerückt. Annie Ernaux in Frankreich, Elena Medel in Spanien, Autorinnen wie Daniela Dröscher oder Marlen Hobrack hierzulande gehen mal mehr und mal weniger fiktionalisiert ihrer eigenen Familiengeschichte und Herkunft auf den Grund, um Klassismus und die Prägung der eigenen Identität durch die Herkunft zu ergründen und offenzulegen.

Gab es zwar schon vereinzelt schreibende Selbsterkunderinnen wie Ulla Hahn, doch bislang war das Feld in Deutschland bislang eher in der Hand schreibender Männer wie Andreas Maier, Christian Baron oder Alem Grabovac. Nun sind es verstärkt weibliche Schreibende, die dieses Genre auch durch die Mittel der Autofiktoentscheidend prägen und bestimmen.


So ist es bei Daniela Dröscher die Ich-Erzählerin Ela, die sich an ihre eigene Kindheit erinnert. Einsetzend im Jahr 1983 wird die Erzählerinnen chronologisch vier Jahre ihrer Kindheit präsentieren. Jahre, in denen das Unglück der eigenen Mutter wie Blei auf den Schultern der Erzählerin lag, was die Geschichte der Mutter auch zu ihrer höchsteigenen Geschichte macht, wie sie im Prolog des Buches erklärt.

Dabei sind den vier Jahren vier Attribute zugeschrieben, die ironischerweise der Beziehung der eigenen Eltern und der zu ihrem Kind spotten. So beginnt das Jahr 1983 als Jahr der Kommunikation, es folgen das Jahr der Frauen in Südafrika, das Jahr der Vereinten Nationen, ehe 1986 zum Jahr des Friedens getauft wird. Doch weder Frieden, noch Kommunikation, Einheit oder gar Respekt vor dem Weiblichen sind der Beziehung der eigenen Eltern eingeschrieben, wie Daniela Dröscher eindrucksvoll zeigt.

Eine Familie im Grabenkampf

Denn obschon Elas Eltern ein heteronormatives BRD-Eigenheim-Leben in der fiktiven Kleinstadt Obach im Hunsrück führen, hat die Beziehung der Eltern Risse oder gleicht besser gesagt eher einem Grabenkampf.

In den Tagen zuvor war es eisig bei uns zu Hause zugegangen. Martha-Oma schwieg beleidigt, mein Vater ebenso. Auch meine Mutter hatte neuerdings das Schweigen für sich entdeckt. Nun hatte ich also zwei Elternteile, die schwiegen. Es war wie im Kalten Krieg, nur dass ich keine Ahnung hatte, wer von beiden jetzt der OSTBLOCK war.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 98
Daniela Dröscher - Lügen über meine Mutter (Cover)

Dabei sind die Konflikte und beharkten Themenfelder äußerst vielfältig. Das präsenteste ist sicherlich das vom Vater ständig bemängelte Übergewicht seiner Frau, das ihm ein Dorn im Auge ist. Er fordert ihr Diäten ab und sorgt mit seiner beständigen Kritik und Disziplinierungsversuchen durch Wiegen für eine Scham auch bei Ela. Doch auch ansonsten sind die Konfliktfelder vielfältig. Die Abwertung der Mutter durch die Schwiegereltern, die ungleich verteilte Sorgearbeit (neben Ela werden in den folgenden Jahren noch eine weitere Tochter, ein Pflegekind und die demente Großmutter in ihren Aufgabenbereich fallen) reicht bis hin zu den Finanzen, die völlig ungleich verteilt sind. So hat der Vater „Spielgeld“ zur eigenen Verfügung, den eigentlichen Unterhalt der Familie muss die Mutter aus ihrem Vermögen bestreiten.

Der Versuch von beruflicher Qualifizierung und ökonomischer Selbstständigkeit wird von ihrem Mann argwöhnisch beäugt und abgewertet. Als dann eine Erbschaft den Bau eines neuen Eigenheims ermöglicht, ist es vor allem der Vater, der dann mit extravaganzen Ausgaben für luxuriöse Autos auffällt.

Das Kind im Spannungsfeld

Die Beziehung der Eltern ist von Taktieren, Heimlichkeiten, Lügen und der Aufführung einer fadenscheinigen Komödie (oder eher Tragödie) vor den Augen des eigenen Kindes bestimmt, das in die Konflikte hineingezogen wird und oftmals gar nicht weiß, wie es sich verhalten soll, wenn die Konfliktregeln der Erwachsenen so undurchschaubar sind, wie es in der eigenen Familie der Fall ist.

„Wir werden das schon schaffen“, sagte sie. „Aber du musst mir versprechen: kein Wort zu Papa.“

Mir war flau im Magen. Ich fühl[t]e mich beklommen, gleichzeitig aber machte es mich stolz, dass sie mir so geheime Sachen erzählte.

„Klar“, sagte ich. „Mach ich.“

Das war meine Rolle. Inzwischen war ich geübt darin, Geheimnisse zu hüten. Und allmählich verstand ich, dass Geheimnisse eine gewisse Verwandschaft zu Lügen besaßen.

Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter, S. 254

Eine noch größere Fallhöhe bekommt das Beschriebene durch die Kommentierung der erwachsenen Erzählerin, die sich vor den einzelnen Kapiteln zu Wort meldet und mit einem emanzipierten und gebildeten Blick das damalige Schauspiel analysiert und sich auch in ihre Mutter einzufühlen und zu verstehen versucht. Hier wird aus dem chronologisch voranschreitenden Familienbild dann ein Sachbuch, das die Frage von Klasse, Herkunft, der Prägung des sozialen Milieus verhandelt und untersucht.

Und nicht zuletzt auch die Sprache stimmt in diesem Buch. Gelungen schafft es Daniela Dröscher, sich die Perspektive eines Kindes anzueignen und aus den Augen der kindlichen Ich-Erzählerin auf diesen elterlichen Kampf nach undurchsichtigen Regeln zu blicken. Immer wieder sind Floskeln und Redewendungen der Erwachsenen kursiv gesetzt (was etwas an die erzählerischen Mittel von Heinz Strunks letztem Roman erinnert) und zeigen Sprache beziehungsweise den Dialekt, der in vielen Dialogen zum Einsatz kommt, als Marker von Bildung, Alter und sozialem Rang. Auch dieser Aspekt des Buches ist gut gelungen und hochinteressant.

Fazit

Vor dem Hintergrund der 80er Jahre, der diffusen Angst vor dem Atomunglück in Tschernobyl, dem sowjetischen Feind oder der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf, dem Tennisfieber rund um Steffi Graf und Boris Becker und dem sozialen Druck der Kleinstadt seziert Daniela Dröscher das Kleinbürgertum, die Unterdrückung der Frau in der Ehe und den Blick eines Kindes auf die seltsame Welt der Eltern, das sie zugleich mit dem späteren analytischen und gebildeten Blick der erwachsenen Erzählerin vergleicht und kontrastiert.

Toll erzählt und genussvoll spielend mit den Möglichkeiten der (Auto-)Fiktion dringt sie mit ihrem Roman ganz tief in das Geflecht von Familie ein, zeigt Widersprüche und patriachale Strukturen auf und unternimmt den Versuch, ihre Mutter zu verstehen – und setzt der fiktiven Mutter damit auch ein höchst plastisch und anschaulich geratenes Denkmal, das es völlig verdient in die Endrund des diesjährigen Deutschen Buchpreises geschafft hat.


  • Daniela Dröscher – Lügen über meine Mutter
  • ISBN 978-3-462-00199-0 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 448 Seiten. Preis: 24,00 €
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Eckhart Nickel – Spitzweg

Nein, Spitzweg von Eckhart Nickel ist keine poppige Biographie des Malers, auch wenn es Aufmachung und Titel nahelegen. Das Leben des Künstlers, der ikonische Bilder wie Der Bücherwurm oder Der arme Poet schuf, es steht nicht im Mittelpunkt des Buchs.

Vielmehr erzählt der 1966 geborene Eckhart Nickel in seinem neuen Roman von drei Schüler*innen, die sich durch Kastaniengolf, Kunst-Deutungen und Spitzwegverehrung finden und gegenseitig bilden. Stilistisch ambitionierte Unterhaltung, die ganz auf Sprache und Ästhetik setzt.


Hagestolz, wie das klingt. Ein völlig aus der Zeit gefallener Begriff, heute kaum mehr en vogue, genauso wie die Bilder Carl Spitzwegs mit seiner zwischen Biedermeier und Romantik stehenden Bildsprache. Und dennoch übt der Hagestolz auf Carl und seinen namenlosen Freund, den Ich-Erzähler des Romans, einen großen Reiz aus:

„Kennst du das Bild? Allein der Name ist hinreißend: „Der Hagestolz“. Was für ein herrlicher Begriff! Das Wort an sich ist eine Wonne, weil es einen so zielsicher vom A über das E zum O führt, so schön, dass man es sich nicht oft genug laut vorsagen kann. Versuch es mal, schon mit dem langen H am Anfang, das einen so verheißungsvoll anatmet, dann geht es mit dem verschluckten kleinen G sofort in das mächtig gewaltige STOLZ über, und das Ausrufezeichen ist eigentlich schon mit dem finalen Buchstaben des Schlusswortes unsichtbar gesetzt. Einer meiner Lieblingsschriftsteller hat in seinem ersten Roman den entscheidenden Satz gesagt: Mein Glück, dass es das Wort HAGESTOLZ nicht mehr gibt. So kann ich in aller Ruhe einer werden, und trotzdem kann mich keiner einen schimpfen.

Eckhart Nickel, Spitzweg, S. 162

Schon in diesem kleinen Ausschnitt eines Gesprächs über Spitzwegs Bild des Hagestolzes wird klar, welchen Geist Eckart Nickels Roman atmet. Da unterhalten sich zwei Schüler, kunstsinnig und hochgebildet, Carl dabei gerne in erlesene Stoffe und Kombinationen gewandet, zusammengeschweißt durch eine Begegnung am Getränkeautomaten der Schule, die Carl wie folgt kommentierte:

„Ich frequentiere Milch. Und daran fehlt es hier offensichtlich, wie an vielem anderen mehr“.

Eckhart Nickel – Spitzweg, S. 11

Der Bund der zwei Jungen in der anonymen Schule in der anonymen Stadt wird bald um eine Dritte erweitert. Es ist Kirsten, die nach einem traumatischen Erlebnis im Kunstunterricht zur Gesellschaft der beiden Freunde dazustößt. Zu dritt parlieren sie über Kunst und Kunstwerke, wie eben etwa über Spitzwegs Hagestolz, Readymades oder die Genese und Ausdeutung von John Everett Millais‘ Gemälde Ophelia. Doch dann beschließt Kirsten, zu verschwinden und löst damit viel Verwirrung aus.

L’art pour l’art und eine Feier des Dandytums

Spitzweg ist ein Roman, der das Motto der L’art pour l’art und das Dandytum feiert. Artifiziell ohne Ende ist die Sprache des Buchs und artifiziell ist die Sprache der Freunde untereinander, die eigens ein neues Buchstabieralphabet ersonnen haben. Bei diesem ist das N anstelle des Nordpols etwa durch Nabokov belegt.

Eckhart Nickel - Spitzweg (Cover)

Überhaupt – die Literatur. Sie spielt eine zentrale Rolle in diesem Roman, hat der Erzähler doch das Bildungsideal ausgiebig beherzigt und ist firm in der Literaturgeschichte, was von Ludwig Tieck über die Buddenbrooks bis Michael Ondaatje reicht. So parliert der Erzähler zitat- und kenntnisreich mit seinem Lehrer, der ihn in den dunklen Literaturbunker unterhalb seines Haus einlädt oder weiß auch ansonsten im Gespräch mit Carl immer wieder mit Bonmots zu brillieren, wohingegen sich dieser auch einmal in einem seitenlangen Referat über Anonymität und Kunst verliert.

Auch der Text selbst steckt voller ausgesuchter Wörter. So ist das Buch in einem gehobenen, bildungssprachlichen Duktus verfasst, bei dem sich Nickel nicht vor der Verwendung entlegener Begriffe wie Proömium, Gleiskörper oder epherm scheut sondern diese vielmehr zelebriert. Dinge in diesem Roman sind gerne einmal fein ziseliert oder ornamentiert. Nachgerade auffallend ist Nickels Begeisterung für ebenjenes Adverb, das der Autor häufig im Text verstreut.

Neben der artifiziellen Sprache sind es auch die Dialoge, bei denen durchaus bildungsgesättigte und benennungsstarke Sätze wie dieser fallen:

„Eigentlich kann man es auf den ersten Blick kaum erkennen, Siehst du den Architrav dort unter dem Balkon? (…). Der Mezzanin schließt sich in der Regel eher dem Erdgeschoss an, aber zu meinem Glück gehört er hier zum zweiten Stock, in dem wir wohnen“ (S. 27).

Da gerät die Frage, ob neben den ganzen wort- und dialogreichen Zurschaustellung der eigenen Bildung und des ganzen Wortgeklingels auch Raum für eine genuin entwickelte Handlung bleibt, fast ins Hintertreffen. Ich würde sie aber sowieso verneinen.

Zwar gibt es Handlungsmomente im Roman, im Großen und Ganzen zerfällt Spitzweg aber in viele Einzelepisoden und Begebenheiten, die allmählich ein Bild der Dreier-Freundschaft zwischen Park, Museum und Villen zeichnet. Zu einem wirklichen Handlungsbogen oder einer größeren Erzählabsicht reicht es nicht – die ist Nickel in meiner Lesart aber nicht wichtig. Eher ist es hier die L’art pour l’art, die hier im Mittelpunkt steht und mit der es Nickel auch auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat.

Fazit

Bildbetrachtungen, Interpretationen, bildungsgesättigtes Parlando – all das hält Spitzweg bereit und ist damit in der deutschen Gegenwartsliteratur eine wirkliche Erscheinung, die das Dandytum feiert und wortreich und geradezu arabesk besingt. Dass die Buchgestaltung der Büchergilde sich da dem Inhalt anschließt und durch kunstvolle Außengestaltung überzeugt, das passt ins Bild.

Eine weitere, hervorragende Besprechung gibt es bei Aufklappen . Und auch im Deutschlandfunk wurde das Buch von Jan Drees bereits besprochen.


  • Eckhart Nickel – Spitzweg
  • Edition Büchergilde
  • 256 Seiten. Preis: 22,00 €
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Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf

Welcome to the Ostsee-Appartment Niendorf. You can check out any time you want – but you can never leave. So könnte der Slogan der Ferienanlage in der Nähe des Timmendorfer Strands lauten, die sich in Heinz Strunks neuem Roman Ein Sommer in Niendorf als veritables schwarzes Loch erweist. Man kann den Versuch einer Abreise aus Timmendorf unternehmen – der Anziehungskraft des Ortes wird man sich aber nicht entziehen können. So zumindest ergeht es Dr. Roth, der einen ganz besonderen Sommer an der Ostsee erlebt.


Der ganze lange und hoffentlich schöne Sommer liegt vor ihm. Ohne Arbeit, Verpflichtungen, Aufgaben; sage und schreibe keine einzige Eintragung im Terminkalender, das gab’s seit zwanzig Jahren nicht mehr. Oder fünfundzwanzig, oder dreißig. Bevor Roth im Oktober seinen neuen Posten antritt, kann er tun und lassen, was will. Auf eine Kreuzfahrt gehen, in die Berge fahren, einen Abenteuerurlaub machen, ein Apartment am Meer mieten. Er entscheidet sich für Letzteres.

Hein Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S. 9

So hebt Heinz Strunks neuer Roman an, mit dem er – wie schon im letzten Jahr mit Es ist immer so schön mit dir – auf der Longlist des Deutschen Buchpreises gelandet ist. Handlungsort ist das an der Ostsee gelegene Niendorf, wohin des den Juristen Dr. Roth verschlägt.

Dort, in der Ferienanlage Ostsee-Apartment quartiert er sich ein, um über drei Monate hinweg seine eigene Familiengeschichte mitsamt der Verstrickungen im Dritten Reich aufzuarbeiten und in Buchform zu bringen.

Niedergang in Niendorf

Heinz Strunk - Ein Sommer in Niendorf (Cover)

Doch was zunächst noch wohlgeordnet beginnt, nimmt schon bald die Züge eines Entwicklungsromans an – allerdings eines negativen. Denn Doktor Roth gerät in den Dunstkreis seines Vermieters Breda, der neben der Betreuung der heruntergekommenen Apartments auch als Strandkorb-Vermieter und Schnaps-Verkäufer fungiert. Sein strukturierter Tagesablauf mit Schreiben, Baden und Entspannung kippt schon bald in produktions- und inspirationslose Langeweile, bei der Alkohol zunehmend eine Rolle spielt.

Breda macht Dr. Roth mit der Kulinarik Niendorfs bekannt und aus dem Verdauungsschnaps werden schon bald literweise Wein und Schnäpse. Seine Besuche von Kaschemmen mit den sprechenden Namen Brimborium oder Spinner geraten allmählich zum Ritual, Bredas Alkoholismus greift auch auf Roth über. Immer weiter geht es mit ihm bergab. Und weiter. Und weiter.

Er weiß nicht mehr, wer er ist. Er ist irgendetwas anderes geworden. Auf seinem dörrfruchtartigen, papierhäutigen Gesicht hat sich eine seltsame Färbung ausgebreitet, eine kranke Blässe, die Bartstoppeln sind scharf und nagelbretthart. Seine Haare stehen in alle Richtung ab, wodurch sein Kopf aussieht wie eine Klobürste. So kann ich unmöglich vor die Tür.

Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S. 216

Dieser Sommer in Niendorf ist einer voller Kontrollverlust und sozialem Abstieg, der von Gewalt gegen Roths Ex-Frau bis hin zu einem Mord reicht. Es ist ein einziger Exzess, den Strunk hier äußerst detailliert und geradezu genussvoll schildert.

Enthemmung, Ekel und Faszination

Dabei verhält es sich mit seinem neuem Roman ähnlich wie mit dem Ballermann-Song Layla, der ebenfalls im Sommer die Schlagzeilen beherrschte. Beide Mal ist das so eigentlich gar nicht das, was man mit Niveau verbindet – und doch haben es beide Werke an die Spitze der Charts geschafft. Dort der Rummelbuden-Takt, billigste Songproduktion, ein grenzdebilder und vor allem sexistischer Text – und dort ebenfalls ein einzig langer Peinlichkeitsexzess, der aus Alkoholorgien, Stalking der Kaschemmen-Kellnerin, desinteressiertem Sex und Enthemmung bis hin zur Entleibung besteht (und dabei auch alles andere als frei von Sexismus ist, wie Katharina Herrmann in ihrer Kritik völlig zu Recht anmerkt).

Und doch findet Strunk nicht nur viele Buchkäufer*innen und Lesende. Auch die Kritik ist dem Buch mehr als gewogen und stellt ihn sogar in eine Reihe mit Thomas Manns Tod in Venedig (was Strunk mit seinen Buchzitaten rund um die Gruppe 47, Ingeborg Bachmann, Thomas Mann und Co. ja selbst auch ein wenig insinuiert).

Schaut man auf die Zutaten, mit denen Heinz Strunk hier in seinem neuen Roman arbeitet (seit seinem Debüt mit Fleisch ist mein Gemüse im Jahr 2004 der inzwischen schon zwölfte), so fällt auf, dass eigentlich alles wie immer ist. Es sind die typischen und hier nur leicht variierten Strunk’schen Erzählzutaten des derben Humors, der Faszination des Ekels und Alkohols, angesiedelt in einem heruntergekommenen Milieu, hier eben in der Niendorfer Trinkergesellschaft.

Manchmal hat dieses Erzählkonzept Schlagseite und geht nicht wirklich auf. Hier aber schon und zwar in einem Maße, wie es zuletzt bei Strunks vielgepriesenem Trinkersoziogramm Der Goldene Handschuh der Fall war. Verbunden mit der hastenden Sprachmacht Strunks, die von Comic-artigen Handlungssequenzen über das genau erfasste Trinkergestammel reicht bis zu ganzen Suaden reicht, ist das Ganze sprachlich doch sehr beeindruckend.

Eingekerkert im selbst gewählten Exil, einem hässlichen Zementhaufen namens Niendorf. Niendorf, Timmendorfer Strand, Scharbeutz, Haffkrug, Sierksdorf, Siebzigerjahre-Schrottarchitektur, Bausünden ohne Charme und Schönheit. Er ist leer im Kopf. Er tappt im Dunkeln.

Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf, S, 67

Fazit

Geschmackvoll und niveauvoll, das ist die Sache Strunks nicht. Aber die Konsequenz des Abstiegs Roths, der Mut zur Peinlichkeit, das vielfältige sprachliche Repertoire Strunks – all das hat mich an Ein Sommer in Niendorf dann wider Erwarten doch sehr für das Buch eingenommen und lässt die Nominierung für den Deutschen Buchpreis in meinen Augen folgerichtig erscheinen, auch wenn man diese alkoholgeschwängertete Prosa mit ihrer Welt eigentlich nur degoutant finden kann. Aber man kann sich ihr schwer entziehen, dieser Faszination des Ekels.


  • Heinz Strunk – Ein Sommer in Niendorf
  • ISBN 978-3-498-00292-3 (Rowohlt)
  • 238 Seiten. Preis: 22,00 €
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Gabriele Riedle – In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg

Zum Abschied die Erinnerungen. Gabriele Riedle lässt in In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg nach dem Tod eines befreundeten Kriegsfotografen die Gedanken ihrer Erzählerin schweifen. Gedankensplitter und Eindrücke aus dem Alltag einer Kriegsreporterin in Libyen, Lagos, Afghanistan, stets auf der Suche nach dem Weltgeist.


Das Vorurteil, dass es der deutschen Literatur an Welthaltigkeit gebricht, im Falle von Gabriele Riedle lässt sich das nicht bestätigen. Fast im Alleingang nimmt sie die Leser*innen in diesem Buch von an so viele Schauplätze mit, dass es eigentlich für zehn Romane reichen würde, auch wenn es sich hierbei laut Untertitel nur um eine Art Abenteuerroman handelt.

Tod in Misrata

Auslöser dieser Art Abenteuerroman ist der Tod eines befreundeten Kriegsfotografen namens Tim, von dem die namenlose Erzählerin in Berlin im Radio hört. Diese Todesnachricht wirft sie völlig aus der Bahn und löst vielfältige Erinnerungskaskaden aus.

So rauchten und scherzten wir eine ganze Weile, beziehungsweise war es natürlich so, dass nur die Serben rauchten, und sowohl Tim als auch ich begnügten uns inzwischen aus gesundheitlichen Gründen mit billigen Sprüchen, wobei es natürlich besser gewesen wäre, wenn Tim wenigstens erst zehn oder zwanzig Jahre später, aber dann trotzdem noch lange vor der Zeit, beispielsweise an Lungenkrebs verstorben wäre, anstatt schon kurz darauf in Misrata zerfetzt zu werden von der Granate eines schwachsinnigen Gaddafi-Getreuen, eines minderbemittelten Milizionärs oder eines dämlichen Dschihadisten, ich weiß ja bis heute nicht, wer es war, der damals auf Tim feuerte, denn sie hatten aus allen Richtungen geschossen.

Gabriele Riedle – In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg, S. 235

Der Job des Kriegsreporters, er ist einer, der unter ständiger Gefahr stattfindet und bei dem auch der Tod eines permanenter Begleiter ist. Fälle wie der der deutschen Kriegsfotografin Anja Niedringhaus in Afghanistan oder der von Marie Colvin in Syrien zeigen das immer wieder auf bestürzende Art und Weise. Und auch Gabriele Riedle selbst ist Kriegsreporterin, die viele Krisenherde selbst bereiste und für ihre Reportagen aus Saudi-Arabien, Libyen oder Tschetschenien mehrfach ausgezeichnet wurde.

Von Lagos bis Liberia

Gabriele Riedle - In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg. (Cover)

In ihrem Buch zeigt sich die Gefahr auch ständig, auch wenn die Schauplätze des Buchs wechseln mögen. So erinnert sich die namenlose Erzählerin an ihre Einsätze, die sie mit den Taliban-Kriegerin in Afghanistan in Kontakt brachten, erzählt von Reportagen aus den Dschungeln von Papua-Neuguinea oder abtrünnigen Provinzen wie der in Iguschetien. Von Lagos bis Liberia durchmisst die Erzählerin geradezu atemlos die eigenen Erinnerungen.

Besonders letzteres Land unter der damaligen Führung des inzwischen als Kriegsverbrecher verurteilten Charles Taylor hat sich bei ihr tief eingebrannt, verbrachte sie doch Zeit zusammen mit Tim, der sie bei einem jener von den Chefredaktionen in Hamburg oder Manhattan beautragten Einsätzen als Fotograf begleitete. Von diesen Erinnerungen berichtet die Erzählerin genauso wie von den Schwierigkeiten, zuhause zuhause zu sein.

Dann musste man natürlich auch wissen, wie man wieder zu Hause ankommt, wo und was auch immer das war, wohin gehen wir denn?, immer nach Hause, von wegen!, Novalis!, oder Hardenberg!, oder Ofterdingen!, oder wie immer du heißt auf deiner Reise von Eisenach nach Augsburg, heimzukehren war fast das schwierigste aller Unterfangen, viel schwieriger, als sagen wir, eine Expedition zum heiligen Berg Kailash, nach Afghanistan oder ins Innere von Papua-Neuguinea , außer man flog in einem Militärtransportflugzeug in einem Sarg aus Zink, dann wenigstens ging alles wie von selbst, sie luden einen ein und dann luden sie einen wieder aus, und falls sie wussten, was sich gehörte, salutierten sie sogar, die Hand an der Mützer oder wo auch immer, wobei sich das Salutieren und die Hand an der Mütze nach unserem Geschmack durchaus sparen konnten, denn ebenso wenig wie an das deutsche Reinheitsgebot glaubten wir an das Militär (…)

Gabriele Riedle – In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg, S. 130

Atemlose Satzkaskaden

In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg ist ein eigenwilliges Buch mit einer ganz eigenen Sprache, die hohe Konzentration und keinerlei Ablenkung einfordert. Punkte sind die Sache Gabriele Riedles nicht, wie schon die zwei obigen Zitate zeigen. Ihr genügen zwei, allerhöchstens drei Satzpunkte auf jeder Seite, um ihre Satz- und Erinnerungskaskaden vorzubringen und zu strukturieren.

Dabei springt sie an viele Handlungsorte und lässt jede Menge Anspielungen und Assoziation einfließen, wie etwa im obigen Textbeispiel Novalis‘ berühmtes Zitat. Aber auch der gerade vieldiskutierte Karl May, Hegel und dessen Weltgeist oder Operetten-Anspielungen finden sich immer wieder im Text, bei dem das Zuhause der Erzählerin in der Goethestraße in Berlin zwar kein wirkliches Zuhause ist, ihr auf den Namen West-Östlicher Diwan getauftes Sitzmöbel aber ein schönes Bild für die Pole im Wesen und Arbeiten der Erzählerin darstellt, die stets dem Weltgeist hinterherspürt.

So bringt In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg die weite Welt mit all ihren Konfliktherden ins eigene Lesezimmer. Gerade, da unsere Aufmerksamkeit selten über die tagesaktuellen Nachrichten und ein paar Schlaglichter auf internationale Krisen hinausreicht, bringt Riedles Buch all die globalen Missstände gebündelt aufs Tapet und verschafft einen Eindruck, wie groß die Welt außerhalb des eigenen, westlich zentrierten Blicks doch ist und welche Krisen wir so alles verdrängen.

Fazit

Auf In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg muss man sich einlassen – besonders auf die eigenwillige Prosa Gabriele Riedles. Tut man dies, bekommt man aber ein anspielungsreiches Werk geboten, das das Handwerk des Kriegsreporters aus nächster Nähe schildert und das viele dauerbrodelnde Konfliktherde von Afghanistan bis Libyen in den Blick rückt. Auch ist die Ausstattung dieses Buchs natürlich eine Pracht, wie man es von der Anderen Bibliothek gewohnt ist. Nur muss man jetzt noch zwei Wochen warten, ehe der kostengünstige Extradruck erscheint, der im Vergleich zum bereits vergriffenen Original mit 24 Euro dann doch erschwinglicher ist als die Originalausgabe. Oder man hat eine gut sortierte Bibliothek im Einzugsbereich, die das Buch bereits im Bestand hat.

Schön auf alle Fälle, dass die Jury des Deutschen Buchpreises mit ihrer Nominierung den Fokus auf bereits im Februar erschienene Werk gelegt hat – mir wäre sonst ein stilistisch eigenwillig und thematisch notwendiges und relevantes Buch entgangen!


  • Gabriele Riedle – In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg
  • ISBN 978-3-8477-2050-8 (Die andere Bibliothek)
  • 264 Seiten. Preis: 24,00 Euro, der Originalpreis beträgt 44,00 Euro
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Theresia Enzensberger – Auf See

Der Begriff des Neoliberalismus ist längst zur Chiffre eines entmenschlichten Kapitalismus geworden. so kündete gestern die Überschrift eines Gastbeitrags in der SZ, geschrieben vom ehemaligen bayerischen Kultusminister Hans Maier. In diesem ging er in Form einer Rezension des Buchs Liberalismus neu denken der Frage nach, ob die Idee einer freiheitlichen Ordnung überhaupt noch zu retten sei. Liest man Theresia Enzensbergers Neoliberalismus-Allegorie Auf See, so könnte man seine Zweifel an der Bejahung dieser Frage bekommen.


Nicht nur die Ströme der Globalisierung nehmen zu, auch der Gegenstrom des Eigenen, auf Eigenheit Beharrenden gewinnt an Kraft. Anstelle des Gemeinsamen suchen immer mehr Menschen das Unmittelbare, Nächste.

Hans Maier in der SZ Nr. 199 vom 30.08.2022

Dass die Gesellschaft der Singularitäten an Popularität gewinnt, ist freilich keine wirklich neue Beobachtung. Andreas Reckwitz bekam für die Ausarbeitung dieser These schon vor fünf Jahren den Bayerischen Buchpreis zugesprochen. Und tatsächlich stützen ja viele Beobachtungen in jüngster Zeit diese Beobachtung, die Hans Maier in seinem Beitrag artikuliert. Egal ob Autokraten oder America First, in diesen komplizierten Zeiten ist sich oftmals jeder selbst der Nächste und gibt den Einzelinteressen Vorrang vor der Gemeinschaft. Das reicht von Hamsterkäufen bis hin zur Stromversorgung.

Singularitäten allerorten

Auch in Theresia Enzensbergers Roman Auf See ist das nicht anders. Hier lebt die Ich-Erzählerin Yada auf der sogenannten Seestatt, die den sprechenden Projektnamen VINETA trägt, ansonsten aber lange Zeit über abstrakt bleibt.

De Insel kam mir vor wie ein großer Abenteuerspielplatz, die weißen Flächen unserer Behausungen glänzten in der Sonne, und wenn die Leute Fragen hatten, wusste mein Vater, was zu tun war. Ich war gerade mal sieben Jahre alt, deswegen verstand ich nicht genau, was hier eigentlich passierte. Ich wusste nur, dass mein Vater, dieser aufrechte und anständige Mann, uns noch rechtzeitig gerettet hatte, ehe das deutsche Festland im Chaos versunken war.

Theresia Enzensberger – Auf See, S. 12

Das deutsche Festland, es bietet keine Sicherheit mehr, weshalb die schwimmende Burg Seestatt das Refugium für viele Menschen geworden ist, die sich hier isoliert haben. Auf der wabenförmig strukturierten Plattform leben und arbeiten Ingenieure, Arbeiterinnen und viele andere nahezu autark, losgelöst von der übrigen Welt.

Eine isolierte Sektenführerin

Auch Helena, die zweite Hauptfigur im Roman lebt losgelöst von der Welt, lässt sich – ähnlich wie die Seestatt – treiben und trägt schwer an der Bürde einiger Prophezeiungen, die sich als ihr persönlicher Fluch entpuppt haben.

Irgendwo an der albanischen Grenze hatte sie in einem Moment erschöpfter Albernheit zwölf Prophezeiungen gemacht – hauptsächlich politische Ereignisse, wobei auch ein schwerer Sturm und die Ergebnisse eines Fußballspiels dabei gewesen waren. Sie hatte sehr genaue Daten angegeben, eine Tatsache, die sie seither bereute. Dadurch war es nämlich unmöglich geworden, den Leuten glaubhaft zu machen, dass das Eintreten ihrer Vorhersagen REINER ZUFALL war. Sie tat ihr Bestes, verwies immer wieder auf die hohe Wahrscheinlichkeit der angekündigten Ereignisse und darauf, dass sie bei manchen Dingen völlig falschgelegen hatte, aber es hatte keinen Sinn. Sie war und blieb das moderne Orakel.

Theresia Enzensberger – Auf See, S. 27

Ihren Status als Orakel nutzte Helena zur Gründung einer Sekte, an der sie aber das Interesse und inzwischen auch die Deutungshoheit verloren hat. Ein Mitglied drängt an die Macht der Sekte – und Helena ergeht sich in ihrem Phlegma. Malt, wird von Freunden zur Rückkehr als Führungsfigur der Sekte bekniet – und findet einen neuen familiären Anschluss.

Erst spät – aber nicht völlig überraschend – zeigt sich die Verbindung der in der Vergangenheitsform erzählten Passagen von Helena und die Präsens-Schilderungen von Yada, die von ihrem Leben auf der Seestatt erzählt, auf der ihr Vater, die Gründungsfigur, durch Abwesenheit glänzt.

Libertatia, Scientology und Poyais

Zwischen diese beiden Erzählstränge sind zahlreiche Passagen geschoben, die mit Archiv übertitelt sind und die an ein erzählendes Sachbuch erinnern. Darin schildert Enzensberger unter anderem den Mythos der Piratenrepublik Libertatia, das schwimmende Sektenschiff von L. Ron Hubbards Scientology-Sekte oder die Poyais, die Lüge um eine traumhaften Insel durch den schottischen General Gregor McGregor, die viele Menschen ins Unglück stürzte. Schlussendlich verquickt sie diese faktualen Passagen dann auch mit ihrer übrigen Fiktion, in dem sie von der Geschichte des Freihandels dann auf die Geschichte des VINETA-Projekts kommt.

Theresia Enzensberger - Auf See (Cover)

Auch erzählt Enzensberger in einer dieser Archiv-Passagen von der Gründung der Mont Pelerin Society in der Schweiz im Jahr 1947. Diese gilt als eine Art Think Tank, in der hochrangige Denker*innen und Wirtschaftswissenschaftler*innen auf Initiative von Friedrich von Hayeks den modernen Neoliberalismus begründet haben. Hier zeigt sich besonders stark die Idee jenes Neoliberalismus, der auch an vielen anderen Stellen in unterschiedlichen Ausprägungen Auf See durchzieht. Egal ob schwimmendes libertär Kapitalismusprojekt Seestatt mit eigener Währung oder Sekte mit elitärem Verständnis. Überall entkoppeln sich Menschen und Gemeinschaften von der Gesellschaft und der freiheitlichen Ordnung – mit gravierenden Folgen.

Diese theoretischen Aspekte und Gedankenspielereien rund um den Neoliberalismus sind für mich einer der interessanten Aspekte des Buchs, das auf sprachlicher Ebene nicht wirklich überrascht. Ähnlich wie schon Enzensbergers Debüt Blaupause zuvor ist die Prosa nicht wirklich spektakulär oder auch nur irgendwie besonders. Hier wird die Erzählung rund um die beiden unterschiedlichen Frauen in einen recht konventionellen und uniformen Sprachmantel gekleidet. Da nützt es auch nicht viel, wenn eine Figur mit Gendersternchen sprechen darf. Alles klingt hier recht gleich und ist auch in der Figurenzeichnung nicht immer schlüssig oder gar hervorstechend.

Das gesamte Personal bleibt weitestgehend amorph, ohne Tiefe und erfüllt eher eine funktionelle Rolle in dieser Erzählung, als durch gesteigerte Charakterzeichnung zu überzeugen. Hier hätte etwas mehr Neoliberalismus im Sinne von Förderung von selbstbestimmten Individuen mit klarer Sprache und Haltung gutgetan.

Starke Archiv-Passagen

Am stärksten – und nun mag man mich wirklich als literaturkritischen Barbaren schmähen – sind für mich die Sachbuchpassagen des Buchs, die auf den Punkt erzählt sind. Überraschend, präzise, in ihrer thematischen Auswahl überzeugend. Hier überzeugt Theresia Enzensberger dadurch, dass sich diese Wikipedia-artigen Passagen immer wieder auf das Buchgeschehen selbst beziehen und so die fiktionalen Themen mit wirklichen Fakten verbinden.

In diesen Archiven ist für mich Auf See am besten, wenngleich mich die übrige, dystopisch angehauchte Erzählwelt nicht in Gänze für sich einnehmen konnte. Vieles bleibt angedeutet, manches reichlich abstrakt – und gerade das letzte Viertel mit seiner Weitung der Erzählfiguren und der gesamten Welt bleiben für mich hinter den Erwartungen zurück. Andere Autoren wie Roman Ehrlich mit Malé oder Ben Smith mit Dahinter das offene Meer haben gezeigt, wie sich aus ähnlichen klima-dystopischen Erzählanlagen noch etwas mehr herausholen lässt.

Fazit

Hätte Theresia Enzensberger mehr Mut neoliberalen Geist im Sinne von eigenverantwortlichen Figuren und und eigenverantwortlicher Prosa bewiesen, statt jenen Neoliberalismus nur in Sachbuch-Passagen durchzudeklinieren und ihn in der übrigen Prosa zu verstecken, dann wäre das Buch zumindest für mich eindringlicher geworden. So bleibt der Eindruck eines Buchs mit spannenden Ideen, die eine etwas originellere Gestaltung abseits der bekannten Erzählwelten und-muster verdient hätte.


  • Theresia Enzensberger – Auf See
  • ISBN 978-3-446-27397-9 (Hanser)
  • 272 Seiten. Preis: 24,00 €
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