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Dana von Suffrin – Nochmal von vorne

Eine Familie, in der es schon illusorisch scheint, eine halbe Stunde in Ruhe und Frieden gemeinsam an einem Tisch zu verbringen. Eine Familie, in der Streit, Vorwürfe und Konflikte, mal subtiler mal offen ausgetragen, zur Tagesordnung zählen: sie steht im Mittelpunkt des zweiten Romans der Münchner Schriftstellerin Dana von Suffrin. Nochmal von vorne erzählt die Geschichte der Familie Jeruscher mitsamt mitsamt ihrer grundsätzlichen Dysfunktionalität und ihrem jüdischen Familienerbe.


Es ist lediglich drei Jahre her, da feierte man in ganz Deutschland 1700 Jahre jüdisches Leben. Über zweitausendvierhundert Veranstaltungen übers Jahr und das ganze Land verteilt wollten Aufmerksamkeit dieses Thema lenken. Man gedachte der Vergangenheit und Gegenwart, diskutierte und Verlage publizierten staunenswerte Bücher.

Jüdisches Leben in Deutschland – und im Roman?

Und nun, gerade einmal drei Jahre nach diesen Feierlichkeiten ist das damals zelebrierte Miteinander an zu vielen Stellen ins Gegenteil gekippt. Der brutale Terroranschlag der Hamas am 7. Oktober 2023 auf ebenjenes jüdisches Leben, der in der Folge zunehmend entgleisende Diskurs, in dem Israel-Kritik nur allzu oft in Antisemitismus kippt, all das hat viele Bemühungen der damaligen Feierlichkeiten konterkariert und die Sichtbarkeit jüdischen Lebens wieder beschränkt.

Auch auf dem Buchmarkt sind – von Sachbüchern und spezialisierten Verlagen abgesehen – Romane über jüdisches Leben hierzulande noch immer eine Seltenheit. Es sind junge Autorinnen wie Dana Vowinckel oder eben Dana von Suffrin, die sich daranmachen, diesem bedauerlichen Umstand Abhilfe zu schaffen. Dabei schreiben sie Romane, die auf Pathos verzichten und souverän mit ihrer Form und dem Inhalt spielen. Mit einem Blick für das komplizierte Selbst- und Fremdverständnis der eigenen Identität, in der das jüdische Erbe qua Geburt immer Thema ist und das heute so viele Herausforderungen mit sich bringt, schwingt in ihren Büchern all das mit. Es sind Bücher, die – in Ermangelung eines besseren Wortes – modern und relevant, gut lesbar und angenehm vielschichtig daherkommen. Nochmal von vorne ist dabei das beste Beispiel.

Die komplizierte Familie Jeruscher

Bei Dana von Suffrin ist es die Familie Jeruscher, die im Mittelpunkt ihres Romans steht. Er Israeli, geboren in Haifa und nun als Chemiker bei den Stadtwerken München arbeitend, sie geboren in Landshut, studierte Soziologin und gemeinsam mit den beiden Kindern Nadja und der Ich-Erzählerin Rosa im Münchner Stadtteil Moosach wohnend. Das sind die Marker einer Familie, die zwar auf den ersten Blick recht durchschnittlich aussehen mag, bei der sich auf den zweiten Blick aber viele Risse in dieser familiären Grundkonstellation zeigen.

Dana von Suffrin - Nochmal von vorne (Cover)

Von diesen Rissen ist allerdings nichts mehr zu sehen, als dieser Roman seinen Ausgang nimmt. Das hat einen ganz einfachen Grund. Denn irgendetwas Festes in diesem familiären Verbund, das eventuell gerissen sein könnte, gibt es schon lang nicht mehr zu sehen, als die Handlung von Suffrins Buch einsetzt.

Alles ist längst zersplittert und fragmentiert. Der Vater Mordechai tot, die Schwester Nadja entzieht sich allen Kontaktaufnahmen, die Mutter möglicherweise ebenfalls tot, zumindest aber sicher verschwunden aus dem Leben der Familie. So ist die Ausgangslage dieses Romans – ein ganzer Haufen an menschlichen und zwischenmenschlichen Scherben, die sich kaum mehr auffegen, geschweige denn reparieren lassen.

Das Aufkehren familiärer Scherben

Und dennoch unternimmt Rosa den Versuch, zumindest die Scherben des einstigen familiären Verbundes zusammen mit den Leser*innen zu betrachten. Sie muss Nochmal von vorne ansetzen, um sich und damit auch uns einen Eindruck von dieser Familie zu verschaffen, auch um die Risse an ihren Entstehungspunkten zu betrachten, die dann schlussendlich zum Zerfall des Ganzen beigetragen haben.

Wir wurden eine Familie, aber erst später ist uns allen klargeworden, was das bedeuten sollte.

Dana von Suffrin – Noch einmal von vorne, S. 179

Die Familie zwischen jüdischem Erbe und Leben in Deutschland, die Familie zwischen Tod, Verlust und Weitermachen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die Familie zwischen Israel und Moosach. All das beschreibt Rosa in einem Ton, der trotz aller Schwere ihrer Themen durchaus auch mit trockenem, manchmal sogar beißenden, aber immer lindernden Humor, einer stimmigen Erzählhaltung und einem ebenso stimmigen Erzählton mit vielen treffenden Sentenzen punktet.

Dana von Suffrins erzählerische Kunst

Dana von Suffrin beherrscht die Kunst, viel zu erzählen, ohne dafür viel Raum zu benötigen. Zwar behandelt auch ihr Roman mehreren Generationen zwischen Israel und Deutschland, verzichtet dabei aber auf überflüssigen Ballast, den solcherlei Familiensagas hierzulande gerne aufweisen.

Stattdessen schafft sie es, trotzdem, trotz aller Knappheit ihre Geschichte den Fokus auf die zentralen Bruchstellen dieser Familie zu legen und unterhaltsam und mitreißend zu erzählen, ohne dass man das Gefühl hätte, es würde etwas bei ihrer Erzählung fehlen. Ihr Roman konzentriert sich auf das, was wichtig ist, und bleibt genau dadurch im erzählerischen Rahmen. Sie schafft es, die Fehler von erzählerischer Geschwätzigkeit und unnötigen Arabesken zu vermeiden, und stattdessen auch in ihrem Erzählen kleinere Lücken und Risse klaffen lassen, wie das eben in den meisten Familienerzählungen der Fall ist.

Fazit

Nochmal von vorne pendelt das erzählerische Gewicht zwischen Leichtigkeit und Schwere gut aus. Rosas zersplitterte Familie und den Versuche, wenigstens im Erzählen etwas Ordnung in diese familiäre Entropie zu bringen, verfolgt man gerne. Dabei erzählt Dana von Suffrin en passant von jüdischem Leben in Deutschland, von Sollbruchstellen in Seelen und Leben – und von der Frage, was uns eigentlich zusammenhält – und das alles ganz konzentriert und pointiert.

Weitere Meinungen zu Nochmal von vorne gibt es unter anderem bei Katharina Herrmanns Blog Kulturgeschwätz und bei Deutschlandfunk Kultur.


  • Dana von Suffrin – Nochmal von vorne
  • ISBN 978-3-462-00297-3 (Kiepenheuer & Witsch)
  • 240 Seiten. Preis: 23,00 €
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Lion Christ – Sauhund

Monaco Flori. In seinem Debüt Sauhund schickt Lion Christ den jungen Flori Anfang der 80er Jahre aus Wolfratshausen nach München , wo dieser in die schwule Welt der Landeshauptstadt eintaucht und sich durchs Leben schlägt, immer auf der Suche nach seinem Platz im Leben.


München, das ist Oktoberfest, Englischer Garten, Monaco Franze, Frauenkirche und Biergartenbehaglichkeit. So zumindest, wenn man Klischees über die bayerische Landeshauptstadt und das dortige Lebensgefühl bemüht.

Neben derlei Allgemeinplätzen gab es aber auch immer eine queere Subkultur in dieser sonst so heteronormativen Welt, die sich zwar weltoffen nennt, in der aber kein Regenbogen am weiß-blauen Horizont zu sehen ist und in der eine queere Kinderbuchlesung in einer Stadtbücherei schon einmal zu Shitstorms, Demonstrationen und Drohungen führt.

Will man das queere Leben in der München sucht, dann wird man im Glockenbachviertel fündig. Hier schlägt das Herz einer Stadt, die schwule Künstler wie Rainer Werner Faßbinder ebenso wie internationale Stars wie Freddie Mercury in den 80er Jahren anlockte (worüber, nebenbei bemerkt, dem Münchner Autor Nicola Bardo im vergangenen Jahr ein veritabler Bestsellererfolg gelang). München, das ist auch die Lebenswelt von Flori, den es nach seinem Zivildienst im Wolfratshauser Altenheim und einer anschließend unrühmlich zu Ende gegangenen Episode im Loisachkaufhaus in den Nachbarlandkreis in die große Landeshauptstadt verschlagen hat.

Aus Wolfratshausen nach München

Dort hält er sich mehr schlecht als recht über Wasser, kommt erst bei einer Freundin unter, rutscht dann aber immer weiter auf der sozialen Ebene nach unten. Während er sich im schwulen Nachtleben ausleben möchte, wie es ihm im kleinen Sonnkirchen mit seinen sozialen Kontrollmechanismen und der landläufigen Homophobie nicht möglich war, ist ihm auch beruflich eine „normale“ Rolle suspekt. Lieber schnorrt er sich durch, muss sich in schlechten Phasen selbst prostituieren, um irgendwie durchzukommen. Aber sein Wille zum Glück ist ungebrochen, auch wenn er sich selbst oft genug im Weg steht.

Lion Christ beobachtet seinen Ich-Erzähler dabei, wie er die Flucht aus der Enge der Heimat antritt, die Verheißung Münchens aber auch nicht wirklich in eigenes Glück umzumünzen vermag. Schon früh treibt die Mutter die Sorge um, was aus diesem Jungen einmal werden soll. Nach der Lektüre von Sauhund vermag man es auch noch nicht zu sagen, hat aber einen guten und interessanten Roman über einen Stolperer im Leben gelesen, weil er eben auch sehr hell das ausleuchtet, was im heterosexuellen Kontext sonst weniger Thema ist, sei es auch nur das Geschehen in öffentlichen Toiletten, in denen sich Flori des Öfteren herumtreibt.

Der Sauhund schlägt sich durch

Lion Christ - Sauhund (Cover)

Dieses Debüt ist reichlich explizit, schildert das Treiben in den mit Plüsch ausgekleideten Bars und Kneipen des Glockenbachviertels genauso wie Cruising und schwulen Sex. Was in eine plumpe und voyeuristische Heinz-Strunk-haftigkeit abrutschen könnte, entgleitet dem Autor allerdings dadurch nicht, da er auch großes Talent für die zarten Momente, für die Sehnsüchte und die Unmöglichkeit der Kommunikation eigener Gefühle und Bedürfnisse an den Tag legt.

So ist Sauhund ein Buch, das die in den 80ern weit verbreitete Tabuisierung homosexuellen Lebens in der Stadt und besonders auf dem Dorf in treffenden Bildern zeigt. Zu den berührendsten Szenen des Romans zählt, wie Christ das absehbare Coming Out des Jungen beschreibt, zu dem es in Floris Elternhaus in Wolfratshausen allerdings nicht kommt. Der zuoberst auf dem Lesestapel der Mutter liegende Spiegel, der mit der AIDS-Krise aufmacht, ist da noch die größte Andeutung des Wissens um die Queerness ihres Sohnes – wirklich ausgesprochen werden die Wünsche und Sorgen allerdings erst reichlich spät in diesem Roman.

Coming of Age – aber in gut

Lion Christs Debüt reiht sich ein die Riege dutzender Coming of Age-Romane, die seit einiger Zeit den Buchmarkt überfluten. Aber ähnlich wie zuletzt Charlotte Gneuß mit ihrem Debüt Gittersee gelingt es auch Christ dem eigentlich schon recht auserzählten Genre eine interessante und lesenswerte Facette abzuringen, indem er ein schwules Coming of Age erzählt, das der sonst sehr heteronormativ geprägten Gattung zuwiderläuft.

Und ähnlich wie Charlotte Gneuß muss man auch Lion Christ großen Respekt zollen, wie er es schafft, eine Milieu zu einer Zeit zu beschreiben, die er selber so gar nicht miterlebt haben kann. Christ, der nach Angaben seines Verlags Ende der 90er Jahre geboren wurde, kam damit erst zwanzig Jahre nach den im Buch beschriebenen Ereignissen zur Welt, legt aber großes literarisches Geschick in Sachen milieu- und zeitgeschichtlicher Präzision an den Tag, eingekleidet in eine klar bayerische Diktion, die sich gut in die Geschichte einfügt, ohne zu künstlich oder aufgesetzt zu wirken.

Dabei rückt er den Roman sogar in die Tradition oder viel mehr Gegentradition des Monaco Franze, jenes legendären Schürzenjägers aus Helmut Dietls Fernsehserie, der ebenfalls Anfang der 80er Jahre allerdings die Damenwelt Münchens unsicher machte. Hier ist es nun Monaco Flori, der sich durch das Nachtleben der Stadt treiben lässt, bei verschiedenen Männern sein Glück versucht und der auf dem Gärtnerplatz schon einmal eine Dialoghommage belauscht, die das Provinzielle, den rechten Scheißdreck der Darbietung im nebenan gelegenen Theater verdammt, wenn man sich mal nicht als „Spatzl“ tituliert.

Fazit

Ein prima Debüt, das sich mit einer Coming of Age-Geschichte im schwulen München einem Milieu verschreibt, das sonst nicht allzu häufig erzählerisch beleuchtet wird. Explizit, bayerisch, hoffnungslos und hoffnungsvoll, berührend und komisch ist diese Geschichte Floris, die Lion Christ in Sauhund präsentiert.


  • Lion Christ – Sauhund
  • ISBN 978-3-446-27747-2 (Hanser)
  • 368 Seiten. Preis: 24,00 €
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Natalie Buchholz – Unser Glück

Wohnen ist vielerorts zum Luxusgut geworden. Gerade in Metropolregionen lässt die alte Regel, dass die Miete maximal 1/3 des Einkommens betragen sollte, viele Menschen nur noch müde lächeln. Die Gentrifizierung greift um sich, Wohnraum ist knapp – und so herrscht in Sachen Wohnungssuche gerade für Familien oftmals ein Verdrängungswettbewerb, der diese ins Umland zwingt.

So ist das Schicksal von Coordt und dessen Frau Franziska in Natalie Buchholz‚ zweitem Roman Unser Glück ein geradezu archetypisches, das viele Leserinnen und Leser aus eigener Erfahrung kennen dürften.

Zusammen mit ihrem Kleinkind Frieder wohnt das Paar in für die Familie eigentlich viel zu kleinen Wohnverhältnissen. Gerade ihre Stadt München ist ja ein Sinnbild für exzessive Mietpreise und Verdrängungspolitik geworden. Das haben auch die beiden schon zu spüren bekommen. Mit einem Einkommen und einem Kind ist es quasi unmöglich, zentrumsnah und bezahlbar zu wohnen. Doch nun könnte den Dreien aber ein Sechser im Lotto bevorstehen:

Das Objekt ist bis in den kleinsten Winkel lichtdurchflutet. Hundertzwanzig Quadratmeter, vier große Zimmer, ein Bad, Keller, Ostbalkon. Gut erhaltenes Fischgrät-Eichenparkett, Stuckverzierungen in jedem Raum, Marmorboden im Bad und in der Küche, Kassettentüren mit Originalbeschlägen.

Natalie Buchholz – Unser Glück. S. 15

Das Ganze ist fast zu schön um wahr zu sein. Ein bezahlbarer Preis, eine luxuriöse Wohnung, noch dazu in bester Lage in Schwabing. Allerdings offenbart die Vermieterin Coordt bei der Besichtigung schon einen Haken, den die Sache hat. Denn in einem Raum der Wohnung wohnt ihr Ex-Mann namens Bobo. Dieser hat ein Bleiberecht, lebt allerdings aufgrund einer schweren Krankheit völlig zurückgezogen. Und obwohl Coordt nach einer Begegnung bei der Besichtigung ein schlechtes Gefühl hat, bekommen Franziska und er trotzdem die Wohnung zugesprochen und sie ziehen ein.

Ein unmoralisches Angebot

Natalie Buchholz - Unser Glück (Cover)

Alles scheint perfekt- doch Coordt kann dem Frieden nicht ganz trauen. Das Wissen um die Anwesenheit des Untermieters raubt ihm seine innere Ruhe. Und dann macht jener Bobo dem Paar auch noch ein unmoralisches Angebot. Da er die Wohnung in der Zwischenzeit gekauft hat, will er diese nach seinem bald bevorstehenden Tod an Franziska und Coordt übereignen. Seine Bedingung hierfür: Coordt muss ausziehen und darf seine Familie nur außerhalb der Wohnung treffen und sich auch nicht in Sichtweite dieser aufhalten. Zudem soll Franziska Bobo bis zu seinem Tod pflegen. Dafür wird ihnen nach dem Tod diese Wohnung gehören, die sie sich als Familie niemals leisten könnten. Andernfalls würde er auf Eigenbedarf klagen und die junge Familie aus der Wohnung werfen.

In der Folge beobachtet Natalie Buchholz Franziska und Coordt – und was die mögliche Entscheidung mit ihnen macht. Soll Coordt das geteilte Heim und damit seine Familie in der bisherigen gekannten Form aufgeben, um bald selbst Wohnungsbesitzer einer Traumimmobilie zu sein? Oder beginnt die Odysee der Wohnungssuche in München erneut und seine junge Familie steht auf der Straße?

Eine weitreichende Entscheidung

Eine solche Entscheidung, über die man vor 15 Jahren wahrscheinlich noch geschmunzelt hätte, ist mittlerweile tatsächlich zu einer mehr als ernsthaften Angelegenheit geworden. Krankenhausabteilungen müssen schließen, weil sich das Personal in der Umgebung keine Mieten mehr leisten kann (etwa in München die Haunersche Kinderklinik), Feuerwehren und andere Einrichtigungen wie Kindergärten stehen vor dem selben Problem. Medienberichte über die Wohnungsnot sind analog zu den steigenden Preisen in der Baubranche geradezu inflationär, beschäftigen Mieter*innen jeglicher Couleur – und die Politik findet keine Lösungen. Dieses Versagen in Sachen bezahlbarem Wohnraum wird in Unser Glück eindringlich vor Augen gefühlt und aus Betroffenen-Perspektive illustriert.

In geschmeidige Sprache gekleidet erzählt Natalie Buchholz von den Kräften, die nun auf das Paar einwirken. Zunehmendes Misstrauen in der eigenen Beziehung, Druck von Außen, um Einkommen, Stabilität und sozialen Status und weiterhin gewährleisten zu können sind nun Fragen, mit denen sich das junge Paar beschäftigen muss. Nachvollziehbar schildert Buchholz aus der Sicht von Coordt die Gedanken und Überlegungen, die ihn vor allem nach Bobos Forderung befallen und nicht mehr loslassen – und schließlich zu einer weitreichenden Entscheidung führen.

Fazit

Und auch wenn man trefflich darüber streiten kann, wie die Lösung der beiden zu bewerten ist und wie man sich selbst angesichts dieses Dilemmas positionieren würde, bleibt festzuhalten, dass Natalie Buchholz einen eindringlichen Roman über eines der größten Probleme unserer Tage geschrieben hat. Unser Glück verhandelt die Frage, wie weit man für bezahlbares Wohnen gehen würde. Auf der Höhe der Zeit, packend erzählt und frei von einfachen Antworten.


  • Natalie Buchholz – Unser Glück
  • ISBN 978-3-328-60188-3 (Penguin)
  • 224 Seiten. Preis: 20,00 €
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Johannes Schweikle – Grobe Nähte

Wenn der Buchtitel zum erzählerischen Konzept wird: Johannes Schweikle über München im Sommer 2015. Und über die Risse, die Gesellschaftsschichten und Milieus durchziehen.

Es ist ein warmer Tag im Sommer 2015, an dem ein Mann durch die Innenstadt Münchens radelt. Auf seinem Rücken ein Sousaphon, sein Ziel ein Auftritt mit seiner HipHop-Band am Flaucher. Derweil machen sich auch Eva Moser, ihre Kinder und ihr Mann auf den Weg zur Isar. Jugendstilwohnung und Cargobike, es fehlt sich an nichts. Eine Familie wie aus dem Manufactum-Katalog. Und dann ist da noch Victor Akbunike, auf dem im Fußballstadion alle Hoffnungen ruhen. Sein Transfer wurde zum Glücksfall für den FC Bavaria München, auf seine Tore zählen Trainer und Fans – und Victor liefert.

Menschen in München im Sommer 2015

So führt Johannes Schweikle seine Figuren in Grobe Nähte ein. Ein Musiker, der die Richtigkeit des Allgemeinplatzes der Musik als recht brotlose Kunst unter Beweis stellt. Eine Mutter, die die richtige Auswahl des Kindergartens und der dort offerierten Speisen vor Grundsatzentscheidungen stellt. Ihr Ehemann, der als leitender Kopf aus seinem Büro über den Dächern Münchens heraus für analytische Schärfe bei der einflussreichsten Zeitung sorgt Bayerns. Und ein Stürmer aus Afrika, aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, der im Trikot des FC Bavaria München zur deutschen Antwort auf Cristiano Ronaldo avanciert. Sie sind die Figuren, die im Mittelpunkt von Schweikles Roman stehen. Verbindendes Element sind die Ereignisse, die im Sommer 2015 ihren Anfang nahmen und bis heute die Gesellschaft beschäftigen.

Johannes Schweikle - Grobe Nähte (Cover)

Die Rede ist von jenem Sommer, in dem Flüchtlingsströme per Bahn von Ungarn aus nach Deutschland einsetzten. Jener Sommer, in dem durch das Verhalten der Münchner*innen und anderswo der Begriff der „Willkommenskultur“ entstand. Klatschende Menschen in der Bahnhofshalle von München, Offenheit und Hilfsbereitschaft prägten jene Stimmung, die dann spätestens nach den Ereignissen der Silversternacht von Köln kippte. Besonders Korbinian Moser und der Musiker Benedikt erleben die Veränderung am eigenen Leib. Korbinias intellektuell-liberale Haltung stellen die Entwicklungen genauso auf eine Probe wie die von Benedikt. Dieser merkt, dass seine Ansichten plötzlich alles andere als kompatibel zu denen seiner Freundin geworden sind.

Die Ankunft der Geflüchteten, sie veränderte München und sie veränderte die Menschen. Das zeichnet Johannes Schweikle auf interessante Art und Weise nach. Brüche und Grobe Nähte lassen sich überall in diesem Buch entdecken. Das beginnt bei den Straßenzüge, die reiche Stadtviertel ganz unvermindert von armen Quartieren trennen, setzt sich in der Patchworkfamilie von Eva und Korbinian Moser fort und endet bei auseinanderdriftenden Weltanschauungen, die Freundschaften erschweren.

Etwas disparat und unverbunden

Dieses Gefühl des Nebeneinanderstehens und Nicht-Mehr-Zusammenpassens setzt sich für mich leider auch in der Struktur und Erzählweise des Romans fort. Man kann das als gelungenen Kniff feiern, das Motiv bis in den Plot hineinzuziehen, mich hat es leider nicht wirklich überzeugt. Zu unverbunden und disparat sind für mich viele Teile und Erzählelemente des Buchs. So wechselt Schweikle beispielsweise die Erzählperspektive Benedikts, den er am Anfang und Ende des Buchs in der 3. Person beschreibt, um dann im Binnenteil des Buchs in die Ich-Perspektve zu schlüpfen. Schlüssig motiviert und gelöst hat sich dieser Kniff für mich nicht wirklich. Weiter geht es mit dem Gefühl, eine ganze Materialsammlung von Ideen oder essayistischen Ansatzpunkten zu lesen.

Von der ausführlichen Blattkritik eines Autors im Hause der Zeitung, die sich zur Grundbetrachtung der Rolle der Medien in der Krise auswächst, über den Berufswechsel einer jungen Frau von der Altenpflegerin zur SM-Sexarbeiterin bis zur Beschreibung eines Blechbläser-Adventskonzerts in der Kirche reicht die Fülle an Themen, die Schweikle verhandelt. All diese Ansätze sind nicht schlecht und lesen sich für sich alleine spannend – in ihrer Gesamtheit blitzen dann aber doch das ein ums andere Mal etwas zu deutlich die groben Nähte im Plot hervor. Bis auf einige wenige Berührungspunkte stehen die drei Geschichten um den Fußballstürmer, Sousaphonisten und den Zeitungsmacher recht unverbunden nebeneinander und haben für mich auch nicht alle eine gleichwertige Qualität.

Vielleicht wäre ich etwas gnädiger, wenn Schweikle nicht auch ein ums andere Mal etwas zu stark überzeichnet oder sich mit Allgemeinplätzen begnügte. Das Luxusleben eines Fußballers, der sich in einem Formtief mit Doping behilft oder die karikatureske Übermutter, die um die Frage von Gummibärchen ärger streitet als manche Partei bei Koalitionsverhandlungen. All das wirkte auf mich etwas too much.

Auch blieb für mich rätselhaft, warum Schweikle manches verfremdete, anderes wieder klar benannte. So spricht er von der CDU, allerdings von den Echten Patrioten anstelle der AfD. taz und Welt werden benannt, Korbinian Mosers Zeitung (für die auch Schweikle selbst einst schrieb) dabei nicht. Der FC Bayern, Uli Hoeness oder der insolvenzgeplagte Alfons Schuhbeck sind klar erkennbar, trotzdem bekommen sie Fantasienamen. Andere Figuren hingegen werden wieder mit Klarnamen bedacht. Benedikts Band gleicht der HipHop-Brassband Moop Mama bis ins letzte Details und gibt Liedtexte von dieser zum besten, dennoch heißt die Kapelle im Buch BrassXpress. Das mag zwar marginal sein, aber auch hier setzte sich für mich der Eindruck fort, dass hier nicht alles zusammenpasst.

Feinere Nähte wären wünschenswert

Auch läuft das Ende für mich etwas ins Leere, sodass ich von keinem wirklich runden und vollumfänglich überzeugenden Leseerlebnis sprechen kann. Das ist schade, denn Schweikles Buch hat wirklich Potenzial. Sozialanalytischer Schärfe blitzt auf, die große Bögen sind angedeutet und Schweikle verfügt über profunde Kenntnisse Münchens. Darüber hinaus hat der Autor hat ein wirkliches Talent zum Erzählen und könnte mit ein bisschen mehr Überarbeitung und klareren Ideen in die Sphären von Gesellschaftsanalyst*innen wie Juli Zeh, Francesca Melandri oder Karine Tuil vorstoßen. Es wäre ein wirklich großer München-Roman geworden, hätte dieses Buch doch nur etwas feinere Nähte.


  • Johannes Schweikle – Grobe Nähte
  • ISBN 978-3-520-75401-1 (Edition Klöpfer)
  • 240 Seiten. Preis: 22,00 €

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Christoph Poschenrieder – Der unsichtbare Roman

Das Notizbuch [Gustav Meyrinks] ist auch deshalb interessant, weil darin Ideen und Entwürfe für andere (nicht realisierte) Romane festgehalten sind, darunter ein „Freimaurerroman“ – ein Projekt, an dem Gustv Meyrink wahrscheinlich in den Jahren 1917/18 arbeitete, das er aber schließlich wieder verwarf (…) die Informationen darüber sind spärlich …

Theodor Harmsen, in: Der magische Schriftsteller Gustav Meyrink

Das unvollendete und wahrlich apokryphe Romanprojekt von Gustav Meyrink steht im Mittelpunkt von Christoph Poschenrieders neuem Roman. Nachdem der Münchner Romancier mit seinem letzten Werk enttäuschte, legt er nun ein hochspannendes Buch vor. Ein Buch, bei dem die Form fast noch interessanter als sein Inhalt ist.

Das Buch kreist um jenen titelgebenden unsichtbaren Roman, den Gustav Meyrink 1917 produzieren soll. Der Schöpfer des Golems und anderer zumeist satirischen Werke gilt den Machthabern in Berlin als der richtige Mann. Er soll für das Kriegsministerium einen Roman verfassen, der eindeutig die Schuldfrage am Ersten Weltkrieg klärt. Propaganda, Deutungshoheit, Spin Doctors sind keine Erfindung unserer Tage. Auch schon im Großen Krieg wollte man die Deutungshoheit über die Geschehnisse behalten. Und so soll Meyrink eben ein Buch verfassen, das einer bestimmten Partei die Schuld für den Kriegsbeginn in die Schuhe schiebt. Der Vorschlag aus dem Kriegsministerium: die Freimaurer würden sich doch anbieten.

Eingedenk seiner finanziellen Situation (ein Bankrott in Prag liegt hinter ihm, der Starnberger See vor der Haustür seiner jetzigen Immobilie) willigt Meyrink ein. Doch dann das: völlige Schreibblockade. Das Einzige, das Meyrink gut von der Hand geht, ist die kreative Vertröstung seiner Auftraggeber. Doch ansonsten bleiben die Seiten weiß. Keine Ideen, kein Zugriff aufs Thema, keine Vision, was er mit dem Buch anstellen soll.

Von diesen Schreibblockaden erzählt Poschenrieder durchaus humorvoll. In einer eleganten Sprache, den hohen Ton wie zuletzt in seinem Buch Das Sandkorn suchend, wirft er einen Blick in Meyrinks Seele. Doch nicht nur von den Schreibblockaden erzählt Meyrink – auch das Leben und Schaffen dieses heute schon wieder fast vergessenen Autors erzählt Poschenrieder.

Meyrinks Werdegang ist genauso ein Thema wie die Münchner Räterepublik mit all ihren turbulenten Verwicklungen. So spielt neben Meyrink auch Erich Mühsam eine wichtige Rolle sowie sein Gegenspieler- der spätere erste bayerische Ministerpräsident Kurt Eisner, der den Freistaat Bayern proklamierte.

Eine Möbiusschleife als Vorbild

Ein spannendes Leben ist es, das Christoph Poschenrieder da schildert. Doch noch spannender scheint mir die Konstruktion seines Romans. Denn diese hat es in sich. So gibt es zum Einen erst einmal die in der 3. Person geschilderten Erlebnisse von Meyrink und seine Versuche, den vermaledeiten Roman zu Schreiben. Zum Anderen gibt es dann aber auch noch Erzählungen von Meyrink selbst, die dieser in der 1. Person aus der Ich-Perspektive schildert.

Dann ist Der unsichtbare Roman aber auch voll von Recherchenotizen und Trouvaillen, die sich während der Entstehung des Schreibprojekts angesammelt haben (so suggeriert es Poschenrieder zumindest in meinen Augen). Sie sorgen für so etwas wie Struktur im Roman, auch wenn die Verbindung von Recherenotiz und dem nachfolgenden Kapitel manchmal etwas versteckt erscheint.

Eine Erzählung wie eine Möbiusschleife

Und dann ist da zuvorderst natürlich das Ende des Romans, das eigentlich wieder den Anfang des Buchs bildet. Denn plötzlich gelingt es Poschenrieder, die vorher gelesenen circa 260 Seiten in neuem Licht erscheinen zu lassen. Wie bei einem Möbiusband verdrillt und verdrahtet er höchst geschickt die einzelnen Erzählstränge seines Buchs zu einem neuem Roman, der alles davor Gelesene in einen anderen Bezug setzt. Plötzlich ergibt zuvor scheinbar Sperriges oder Widersprüchliches einen neuen Sinn. Das ist schlau gemacht und erfordert nach der Lektüre eigentlich gleich einen zweiten Durchgang des Romans. Da Capo in Romanform könnte man sagen.


Hier findet Christoph Poschenrieder endlich wieder zu Spielfreude und einer tollen Montagetechnik zurück, die durch einen wirklich eleganten Erzählton zum Vergnügen wird, wenn man sich darauf einlassen möchte. Ein Buch, das an vorherige Glanzzeiten (hier sei Das Sandkorn und Die Welt ist im Kopf genannt) anschließt.

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