Tag Archives: Nachkriegszeit

Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin

Entschuldigen Sie, ist das der Sonderzug ins Chaos? In Gabriele Tergits Roman Der erste Zug nach Berlin will die junge Amerikanerin Maud Deutschland nach dem Krieg besuchen. Sie tut das im Gefolge einer Expedition voller besonderer Charaktere und lernt ein Land kennen, in dem alle nur Opfer gewesen sein wollen und in dem bezüglich alter Nazieliten eine erstaunliche Kontinuität herrscht. Böse, treffend, schnell.


Ist Gabriele Tergit nach ihrer Wiederentdeckung in den letzten Jahren zumeist für ihre groß angelegte Familiensaga Effingers oder die Mediensatire Käsebier erobert den Kurfürstendamm bekannt, so gibt es aus dem Werk der 1982 in London verstorbenen Autorin noch immer viel zu entdecken. Der erste Zug nach Berlin ist dafür der beste Beweis.

Diesen kurzen Roman siedelt Gabriele Tergit kurz nach dem Zweiten Weltkrieg an. Die junge Ich-Erzählerin Maud begleitet im Gefolge ihres Onkels Phipps eine amerikanische Reisedelegation nach Deutschland. Die Neunzehnjährige steht kurz vor einer Hochzeit mit ihrem gleichaltrigen Freund und so ist diese Reise noch einmal die große Gelegenheit zum ungebundenen Reisen und Abenteuer, ehe sie in den Stand der Ehe eintritt.

Von Amerika ins Nachkriegsdeutschland

Im Zug finden sich illustre Gestalten, die Maud ganz genau beobachtet und karikiert:

Als ich ins Flugzeug stieg, brüllten sie alle durchs Megaphon und sangen und trugen kleine Papierkappen und kurz und gut, es war himmlisch. Als das Flugzeug sich in Bewegung setzte und ich den guten alten friedlichen Kontinent verließ, um in das wilde, unkultivierte Europa zu fahren, da war mir doch sehr anders und ich ging in die Bar, um einen Cocktail zu trinken. Neben mir saß ein junger Engländer mit einem merkwürdig unbeweglichen Gesicht, sehr groß, sehr schwarz mit einer Pfeife und in der der Eiseskälte des späten März ohne Mantel an Deck. Nur einen Schal und Handschuhe. Es war der 53. Lord Dolgelly, der noch gestern ein Mr. Randall gewesen war, aber glücklicherweise war sein älterer Bruder, der Lord, bei einem der Expeditionsversuche mit Raketen zur Minverva, dem kürzlich entdeckten Planeten, zu gelangen, verunglückt. Er sprach nicht, rauchte und machte auch sonst einen leicht idiotischen Eindruck.

Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin, S. 9

Inmitten vulgärer Amerikaner, Engländer mit geerbten Adelstiteln und vieler weiterer Unikate macht sich nun Maud auf, um zu reportieren und das Land der Täter kennenzulernen. Auf der Reise kommt es zu zahlreichen Diskussionen. Man streitet über Rassismus, die Press oder die richtige Strategie für das Re-Education-Programm, das den Deutschen die Folgen ihres Tuns vor Augen führen soll. Man ist sich uneins, die Argumente und Ansichten fliegen hin und her – und das zudem noch oftmals auf Englisch, das Gabriele Tergit immer wieder in den Passagen einfließen lässt (deren Übersetzungen sich dann aber auch im Anhang des Buchs finden).

Der Umgang mit der Schuld

Gabriele Tergit - Der erste Zug nach Berlin (Cover)

Ähnlich wie zuletzt auch Andreas Pflüger in Ritchie Girl blickt auch Gabriele Tergit in ihrem in den 50er Jahren entstandenen Roman auf die deutsche Nation und ihren Umgang mit der Schuld. In vielen Gesprächen will Maud ergründen, wie eine ganze Nation unter ihrem Führer Hitler mehrere Kontinente mit ihrem Krieg überziehen und Millionen von Menschen ermorden konnte. Die Erkenntnisse, die ihre Gespräche zutage fördern, sind aber ernüchternd.

Niemand will etwas getan haben, alle sind ausnahmslos Opfer, äußern antisemitische Klischees, sehen sich von feindlich gesinnten Juden in England und Amerika zu Unrecht angegriffen und weißen jegliche Schuld von sich, die sie den Alliierten zuschieben. Täter war man keinesfalls und wusste von nichts etwas – und wenn Maud und ihre Delegation dann tatsächlich auf ein misshandeltes Opfer der Nationalsozialsten stoßen, dann stirbt dieses Opfer in der Folge unterversorgt und in ärmlichen Verhältnissen, ausgegrenzt von der übrigen Gesellschaft.

Es ist viel Bitternis über diesen infamen Umgang mit der eigenen Schuld und die Kontinuitäten der Karrieren, die Nazikader an den Tag legen, wenn sie nach dem Ende des „3. Reichs“ weiterhin an zentralen Schaltstellen der Macht sitzen. Das verbindet sich in Der erste Zug nach Berlin mit viel Fatalismus und Uneinigkeit unter Amerikanern, Russen und Engländern, die allesamt auch nicht frei von Rassismus und Stereotypen sind.

Orientierung an Gabriele Tergits Original-Typoskript

Gabriele Tergits Buch ist trotz seiner Kürze keine einfache Lektüre. Sie vermengt erregte Dialoge, die vom Englischen ins Deutsche wechseln und umgekehrt, erzählt in schnellen Schlaglichtern, rast so manches Mal nur durch die Handlung und ist auf ein fast atemloses Erzählen bedacht, bei dem der Leser wie Tergits Heldin Maud so manches Mal erst begreifen muss, was hier gerade verhandelt wurde oder über was sich die Delegation da ganz genau echauffiert.

Die ganze Fülle dieses trotz seiner Kürze so vielfältigen Romans wird nun erstmals durch die vorliegende Ausgabe erlebbar. Denn wie Herausgeberin Nicole Henneberg in ihrem Nachwort schreibt, orientiert sich die aktuelle Ausgabe am Original-Typoskript Gabriele Tergits. Zwar gab es im Jahr 2000 bereits eine Ausgabe des Romans, doch der damalige Herausgeber griff stark in den Text ein, glättete, kürze und strich. Diese Bereinigungen sind nun wieder entfernt, wodurch ein vielstimmiger Roman erscheint, der uns mitnimmt direkt in die Zeit unmittelbar nach der Stunde 0 in Deutschland (die es so ja gar nicht gab, wie Der erste Zug nach Berlin eindrücklich zeigt).

Mehr Meinungen zu Gabriele Tergits Roman gibt es auch auf dem Blog von Birgit Böllinger und im HeymannBlog von Sönke Schneider.


  • Gabriele Tergit – Der erste Zug nach Berlin
  • Artikelnummer: 17460X (Büchergilde Gutenberg)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee

Mit Nacht unterm Schnee liegt nun der Abschluss der autobiographisch grundierten Erzähltrilogie Ralf Rothmanns aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs vor. Darin tauchen viele Figuren auf, die man aus dem Rothmann’schen Erzählkosmos bereits kennt, allen voran der Melker Walter, das Alter Egos von Ralf Rothmanns Vater. Im Mittelpunkt des Romans steht aber die Ich-Erzählerin Luisa, die bereits in Der Gott jenes Sommers, dem Mittelteil von Rothmanns Triptychon, die zentrale Rolle spielte.

Nun, nach den Erlebnissen an der Heimatfront, hilft sie in der Nachkriegszeit in der Gaststätte ihrer Eltern in Kiel aus und macht die Bekanntschaft mit Elisabeth, deren bewegte Geschichte sich erst langsam ergibt. Die Klasse von Im Frühling sterben erreicht das Buch aber leider nicht.


Welch ein hehrer Wunsch, der Rothmanns Heldin Luisa umtreibt. Sie, die Halbwaise, will der Enge der elterlichen Schankstube im Hafen von Kiel entkommen, indem sie Bibliothekswesen studiert. In ihrer Jugend hat sie den Krieg und das Elend am eigenen Leib eindrücklich erfahren. Jetzt, in der Aufbruchszeit nach dem Weltkrieg erscheint ihr die Welt ganz offenzustehen. Sie verliebt sich, pflegt Affären und findet vor allem in der Person des Melkers Walter einen Seelenverwandten. Dieser ist mit Elisabeth verbandelt, der promiskuitiven Untermieterin von Luisas Mutter, die sie mit dem Führen der Kneipe beauftragt hat.

Walters ruhiges Wesen, sein Job als Melker auf einem Gut bei Missunde und sein Werben um Elisabeth faszinieren Luisa. Als Walter und Elisabeth Eltern des kleinen Wolfs (Rothmanns Alter Ego) werden, ziehen sie mit ihrem Kind ins Ruhrgebiet, wo Walter als Bergmann arbeiten wird. Doch der Kontakt zu den beiden reißt nicht ab und während sich Luisa in ihr Studium des Bibliothekswesens vertieft, geht auch das Leben des widersprüchlichen Paares im Ruhrgebiet weiter.

Vertrautes Personal, vertraute Geschichten

Um seine Geschichte zu erzählen, setzt Ralf Rothmann auf Altervertrautes. Abermals reißt er die Lebensgeschichte von Walter an, wenngleich die traumatischen Erlebnisse aus dem Zweiten Weltkrieg hier nur angedeutet werden. Auch Luisa ist Leser*innen der Trilogie vertraut. Noch immer liebt sie Bücher und macht jetzt ihre Leidenschaft zum Beruf.

Elisabeths Geschichte ist die, die nun im letzten Teil im Mittelpunkt steht. Ihre Erfahrungen aus dem Weltkrieg verbinden sich hier mit dem Nachkriegs-Porträt der Frau, zu deren Lebensmaximen nicht unbedingt Treue und Ehrlichkeit zählen.

Ralf Rothmann - Die Nacht unterm Schnee (Cover)

Nun ist Vertrautes und die stilistische Variation von Themen und Motiven in einem schriftstellerischen Oeuvre nichts, das man unbedingt bekritteln könnte. Wenn das Ganze dann aber eher zur Kopie und dem Pastiche der eigenen Werke wird, dann ist das für mich allerdings ein klarer Kritikpunkt. So könnte man über die erzählerischen Überlappungen der drei Bücher wirklich hinwegsehen, ergeben sich doch manchmal reizvolle Perspektivverschiebungen.

Aber gerade in der zweiten Hälfte von Die Nacht unterm Schnee hatte ich den Eindruck, dass Ralf Rothmann sein großartigen Ruhrgebietsroman Milch und Kohle einfach noch einmal geschrieben hat.

Die Beschreibung des Arbeitens der Bergleute unter Tage, ihre Kolonne auf dem Heimweg, die fremde Welt der Italiener im Pott, die biederen Abend mit der Suche nach Freiheit im staubigen Alltagstrott, die Enthemmung beim Tanz in der Kiezkneipe. All diese Beschreibungen bringt Ralf Rothmann nun auch in diesem Buch ein, das sich durch (zumindest in meinen Augen) nichts von dem bereits Erzähltem in seinem 2001 erschienenen Roman abhebt. Das ist schade, hätte es doch auch hier in Bezug auf Rothmanns eigene Kindheit im Ruhrgebiet noch vieles abseits der bekannten und schon auserzählten Bilder gegeben.

Fazit

So bleibt ein nicht wirklich überzeugendes Lesegefühl bei mir zurück. Natürlich sind die literarischen Talente Ralf Rothmanns unbestritten, auch hier kann er wieder unvergleichlich gut die dumpfe Enge der Ruhrgebietsstube mitsamt ihres Gelsenkirchener Barock oder die warme, dampfige Atmosphäre eines Kuhstalls schildern. Seine Beschreibungen des Melkhandwerks sind derart plastisch, dass man nach der Lektüre selber das Handwerk halb erlernt zu haben meint. Auch sind die Figuren wieder wunderbar gelungen.

Und doch ist mir da zu viel Bekanntes und bereits Erzähltes, das Rothmann hier einfach noch einmal aufbereitet, als dass ich das Gefühl habe, ein frisches Buch zu lesen, das mir einen neuen Blick auf Rothmanns Kindheit und das Nachkriegs-Deutschland erlaubt. Steigt man in den Erzählkosmos von Ralf Rothmann frisch ein, dann ist das Buch sicherlich ein Gewinn. Für Rothmann-Kenner*innen hingegen fehlt das Neue, kommt der Autor doch nicht über eine Variation bekannter Themen und Bilder hinaus.


  • Ralf Rothmann – Die Nacht unterm Schnee
  • ISBN 978-3-518-43085-9 (Suhrkamp)
  • 304 Seiten. Preis: 24,00 €
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Andreas Pflüger – Ritchie Girl

In den letzten Monaten hat wieder zunehmend eine Debatte eingesetzt, die um das Erbe deutscher Firmen in der Zeit des Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Konsequenzen kreist. Viel Aufmerksamkeit erzeugte das Gespräch von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah, in dem sie sich auf Instagram über das Erbe des Nationalsozialismus und die Frage von Kontinuitäten unterhielten. Doch nicht nur Hilal und Varatharajah thematisierten öffentlichkeitswirksam die Frage nach Verantwortung, die aus dem nationalsozialistischen Erbe erwächst. Auch Jan Böhmermann beschäftigt sich immer wieder in einem Showsegment seines ZDF Magazin Royal mit der Familie Stoschek. Diese sehen sich aufgrund ihres Umgangs mit ihrem Familienerbe, das durch den Wehrwirtschaftsführer Max Brose begründet wurde, der Kritik des Satirikers ausgesetzt.

Der Umgang mit der eigenen Geschichte zwischen 1933 und 1945 ist bisweilen arg sorglos und unreflektiert, wie etwa der Fall von Verena Bahlsen zeigt. Die Aufarbeitung des Erbes dauert nach wie vor an, vieles verschweigen Firmen und scheuen die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit.

Zu diesen aktuellen Debatten passt auch das neue Buch von Andreas Pflüger ganz hervorragend, in dem er die Verflechtungen deutscher und amerikanischer Firmen und Strippenzieher zur Zeit des Nationalsozialismus beleuchtet. In Ritchie Girl steigt er tief hinab in die wirtschaftlichen und politischen Verflechtungen von Nazis und Amerikanern, fragt nach Schuld und erzählt von einer jungen Frau, die der machtpolitische Pragmatismus und das bewusste Wegsehen ihre Mitmenschen an die eigenen Grenzen bringt. Ein eindringliches Buch und sicherlich keine leichte Kost.

Zurück nach Deutschland

Nach seinem BRD-Kartellepos Operation Rubikon und der exquisiten Thriller-Trilogie um die blinde Polizistin Jenny Aaron wechselt Pflüger nun das Fach und erzählt einen historischen Roman, der zurückführt in die letzten Tage des Dritten Reichs und der unmittelbaren Zeit danach. In einem Vorklapp erzählt Pflüger von Paula Blooms Ankunft in Italien, das gerade inmitten von Chaos versinkt. Die Deutschen befinden sich auf dem Rückzug. Deserteure, widerständige Nazis und ein verhafteter Duce sind nur einige Faktoren in dem ganzen Chaos, das Paula am eigenen Leib erlebt. Nachdem sie in Berlin in einer Villa am Hundekehlesee aufgewachsen ist, hat sie nach ihrer Flucht nach Amerika beschlossen, in das Land ihrer Väter zurückzukommen. Sie will verstehen, wie es mit dem Land so weit kommen konnte. Doch ihre Bereitschaft zum Begreifen wird von den Geschehnissen vor Ort auf eine harte Probe gestellt.

Nach einem Zeitsprung erzählt Pflüger dann von der Ankunft Paulas im zerstörten Deutschland. Als Teil der Streitkräfte wird sie im sogenannten Camp King untergebracht, dem Areal, auf dem sich neben dem Militär auch zahlreiche Nazis tummeln. Egal ob Gehlen, Streicher oder Speer, sie alle befanden sich dort und wurden von den Amerikanern verhört. Und obwohl Paula aufgrund ihres Geschlechts beständig angefeindet wird, ist es gerade dieses Geschlecht, das sie in den Augen der Verantwortlichen für einen ganz besonderen Fall prädestiniert. Denn neben all den ranghohen Nazis sitzt auch ein ganz besonderer Mann im Camp King ein, der von sich behauptet, ein legendärer Spion im Dienst der Nazis zu sein. Doch kann man dem Mann trauen? Um einen Zugang zu dem potentiellen Spion zu finden, setzt man Paula auf ihn an. Doch das, was ihr der Mann in den Verhören offenbart, ist dazu angetan, Paulas Welt auf den Kopf zu stellen.

Skrupellose Geschäftemacher und historische Kontinuitäten

Ritchie Girl ist ein Roman, der die letzten Kriegstage wieder zum Leben erweckt. Er erzählt vom gnadenlosen Opportunismus der Nazis und der Amerikaner, deren Pragmatismus nicht selten zum Verwechseln gleicht. Paula als Deutsch-Amerikanerin ist besonders sensibel für diese Verwerfungen, die Pflüger mit großer Detailschärfe skizziert. So erzählt von vom skrupellosen Allen Dulles, der mit den Nazis Geschäfte machte, mithilfe der Operation Sunrise sogar mit den Nazis über eine Kapitulation und den gemeinsamen Kampf gegen den Kommunismus verhandelt. Der jüngere Bruder des späteren Außenministers John Foster Dulles ist nur eine der Figuren, deren moralische Skrupellosigkeit im Buch schaudern macht.

Andreas Pflüger - Ritchie Girl (Cover)

Ähnlich wie Chris Kraus in Das kalte Blut beschäftigt sich auch Andreas Pflüger in seinem Buch mit der Kontinuität der Täterkarrieren der Nationalsozialismus, beispielsweise der von Reinhard Gehlen, den man zum Chef der Operation Gehlen, dem späteren BND machte. Pflüger zeigt in seinem Roman die Geräuschlosigkeit auf, mit der man den strammen Nazis erlaubten, als Entscheider und Führungskräfte in der BRD nahezu unbeschadet ihrer Karrieren fortzusetzen. Der Kalte Krieg und der drohende Kommunismus stand ja vor der Tür, sodass man die Tätigkeit der Kader während 1933 und 1945 lieber nicht hinterfragte, sondern sie in Machtpositionen und Schaltstellen hievte. Einmal mehr rechtfertigte der Krieg die Mittel. Ein Zustand, an dem Paula Bloom in Pflügers Roman zunehmend verzweifelt.

Da kann auch der Besuch der Nürnberger Prozesse keine wirkliche Abhilfe schaffen. Paula Blooms moralischer Kompass stößt in dieser Welt eindeutig an seine Grenzen. Zudem sind die Grenzen zwischen Gut und Böse, Schuld und Sühne geradezu verschwindend, sodass nicht nur Paula, sondern auch wir als Leser immer wieder an die Grenze des Hinnehmbaren stoßen. Und nicht zuletzt reift auch die Erkenntnis, dass skrupellose, machthungrige und über Leichen gehende Machtmenschen nicht nur auf der deutschen Seite des Verhörtisches sitzen…

Faktensatt und bisweilen schwer erträglich

Pflügers Roman ist wahrhaft keine leichte Lektüre. Das liegt schon am Sujet der Nachkriegszeit und ihrer ganzen Not und Brutalität. Zudem ist Ritchie Girl mehr als faktensatt. Die Verflechtungen der Wirtschaftsinteressen, der Apparat von Amerikanern und Nazis, die Politik von Siegern und Besiegten fächert Pflüger detailliert auf und steigt tief hinab in die Geschichte. Egal ob IBM, amerikanische Dependancen der IG Farben, das Vorkriegsgebaren von amerikanischer Wirtschaftselite und deutschen Nazis – Pflüger thematisiert die mannigfachen (und nach dem Krieg totgeschwiegenen) Beziehungen. Dass ein Essay von Bodo Hechelhammer, seines Zeichens Chefhistoriker des BND, den Roman abschließt, ist bei dieser Fülle an Themen und Material nur konsequent.

Doch nicht nur die faktensatte Erzählweise und die schnellen Dialoge erfordern Aufmerksamkeit. Auch der Inhalt vieler Gespräche ist kaum auszuhalten, etwa wenn Pflüger in Gesprächen Nazis zu Wort kommen lässt, die über den Genozid und die damit verbundenen unmenschlichen Grausamkeiten lachend parlieren. Nazis, die ihre eigene Rolle während des Nationalsozialismus relativieren und ihrem Antisemitismus weiterhin freie Bahn lassen. Solche Verhöre und geschilderte Szenen erfordern einen starken Magen und rufen den Schrecken des Nationalsozialismus noch einmal wach.

Fazit

Liest man Ritchie Girl, erfasst einen die Wut über die Geschmeidigkeit, mit der man die Seiten wechselte und über den Opportunismus, der die Moral schlug. Das Buch ist eine literarisch versierte, rhythmisch durchdachte und ausnehmend gut geschriebene Geschichtsstunde, die das Schweigen vieler über die Rolle ihrer Vorfahren und das Wegducken vor der eigenen Verantwortung anklagt. Das Buch nimmt die historischen Kontinuitäten in den Blick und ist ein genauer Blick auf die moralische Flexibilität, die die Nahtstelle vom Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Kriegs für Amerikaner und Deutsche kennzeichnete. Keine leichte Kost, aber mehr als lesenswerte. Einmal mehr bestätigt Andreas Pflüger seine Ausnahmeerscheinung auf dem aktuellen deutschen Buchmarkt.


  • Andreas Pflüger – Ritchie Girl
  • ISBN 978-3-518-43027-9 (Suhrkamp)
  • 464 Seiten. Preis: 24,00 €
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Helga Schubert – Vom Aufstehen

Erinnerungssplitter

Es wird viel geklagt über Corona und den Wegfall von Kunst, Kultur und gesellschaftlichem Miteinander – und das völlig zurecht. Die Folgen der Pandemie sind gravierend – und momentan noch gar nicht reell abschätzbar. Allerdings bietet Corona auch Vorteile und Chancen. Eindrücklichstes Beispiel hierfür der Fall von Helga Schubert und ihrer Teilnahme am Bachmannpreis.

Denn eigentlich war das mit dem Preis und der Autorin mehr als unwahrscheinlich. Schon einmal hätte sie zu DDR-Zeiten beim Wettbewerb antreten sollen, durfte dann auf Geheiß der DDR-Führung allerdings nicht teilnehmen. Zwar wurde ihr dann 1987 bis 1990 die Ehre zuteil, als Kritikerin Teil der Jury des Preises zu sein. Aber noch einmal eine zweite Chance bei diesem Wettbewerb auf Teilnehmerseite? Das schien mehr als unwahrscheinlich.

Zu weit weg das Wettlesen am Wörthersee, da sie in Mecklenburg-Vorpommern zusammen mit ihrem pflegebedürftigen Mann lebt. Zu alt mit ihren 80 Jahren für das normalerweise recht junge Teilnehmerfeld (sogar den Rekord für die älteste Teilnehmerin überhaupt stellte sie damit auf). Und doch gewann die Autorin den Preis – dank der Verlegenheitslösung, die der Preis 2020 versuchte. Denn anstelle einer Präsenzveranstaltung wurde der Preis digital durchgeführt. Die Juror*innen saßen zuhause, die Lesungen wurden voraufgezeichnet. So konnte auch Helga Schubert beim Wettlesen mitmachen – und gewann unter großem Medieninteresse den Preis. Nun, ein Jahr nach dem Bachmannpreis liegt ihr Werk Vom Aufstehen vor. Auf eine Gattungsbezeichnung hat der Verlag verzichtet. Stattdessen prangt der Untertitel Ein Leben in Geschichten auf dem Cover.

Kurze Erinnerungen und Eindrücke

Und das trifft es ganz gut. Wobei viele der sogenannten Geschichten für mich gar keine Geschichten sind. Eher würde ich von Erinnerungs- und Gedankensplittern reden. Teilweise sind die Miniaturen, aus denen sich das Buch zusammensetzt, nicht einmal eine Seite lang. Die kurze Form dominiert, nur wenige Geschichten sind länger als drei bis fünf Seiten – beispielsweise die ans Ende gesetzte titelgebende Erzählung Vom Aufstehen, die Schubert den Bachmannpreis eintrug.

Helga Schubert - Vom Aufstehe (Cover)

Und jetzt begehe ich zu Beginn gleich den Frevel: trotz aller Meriten, Lobeshymnen und Nominierungen finde ich es auf literarischer Ebene eher schwach. Einen eigenen Sound hat Helga Schubert in meinen Augen nicht, eine besondere literarische Bearbeitung oder Überformung ihres Materials findet sich in diesem Buch nicht. Natürlich kann man einwenden, dass diese Kunstlosigkeit auch Kunst ist. Aber eine unverwechselbare Stimme konnte ich in den Erzählungen nicht entdecken. Klar fokussiert sind die Geschichten auch nicht immer und mäandern thematisch hin und her, etwa die Erzählung Vom Erinnern.

Hier wandert Helga Schubert von einem Besuch in Bad Kleinen zum dortigen GSG9-Einsatz, bei dem RAF-Mitglieder festgenommen werden sollten. Davon kommt sie zu einem Treffen mit ihrem Lektor an ihrem Wohnort in Mecklenburg, von wo aus sie zum Suizid eines benachbarten Bauern schweift, ehe es um Besucher aus dem Westen kurz nach dem Mauerfall geht, ehe sie wieder zu den Beschreibungen ihrer Heimat zurückkehrt. Und auch wenn die Geschichte vom Erinnern handelt und das Sprunghafte, Assoziative in den Mittelpunkt stellt, so hat mich diese Art des Erzählens nicht überzeugt. Auch irritierten mich die Anschlüsse und Bezüge der Geschichten, etwa wenn Schubert in der Schlussgeschichte Vom Aufstehen vieles zuvor Erzählte einfach noch einmal wortwörtlich aufgreift und wiederholt. Hier hätte eine Überarbeitung notgetan. Kurzum: dieses Erzählen überzeugte mich auf der Mikroebene leider nicht.

Ernüchterung auf Mikroebene, Faszination auf Makroebene

Anders hingegen auf der Makroebene – denn hier entfaltet das Buch seinen ganzen Reiz. Die Vielzahl von Erinnerungen, Gedankensplittern und Anekdote ergibt zusammen das Porträt einer faszinierenden Frau, an deren Leben sich die gesamten Bruchlinien der jüngeren deutschen Geschichte ablesen lassen. Flucht, Vertreibung, das schwierige Verhältnis mit der eigenen Mutter. Die Erfahrungen als regimekritische Autorin in der DDR, das literarische Leben dort, die Umstellungen nach der Wende. All das thematisiert Vom Aufstehen über die einzelnen Erzählungen hinweg und verschafft dem Leser und der Leserin einen Eindruck von dem, was man sonst mit dem schmalen Wort Lebensleistung erschlägt.

In Schuberts Leben (oder dem, das sie uns erzählt) wird offenbar, welche tiefgreifenden Wechsel der Systeme hin von der Nachkriegszeit hin in die Gegenwart und von der DDR hin zur Bunderepublik für die Menschen bedeutete. Auch eingedenk der Debatten im Vorfeld des Tages der Deutschen Einheit und die Frage nach der tatsächlichen Einheit von Ost und West kann Schuberts Prosa mitreden und mit Persönlichem die Debatte bereichern. So besitzt Vom Aufstehen gesellschaftliche und zeithistorische Relevanz, die mich mit dem eher schmalen literarischen Gehalt des Buchs versöhnte.

Weitere Meinungen zu diesem Buch gibt es unter anderem bei Aufklappen, masuko13 und Zeichen&Zeiten.


  • Helga Schubert – Vom Aufstehen
  • ISBN 978-3-423-28278-9 (dtv)
  • 221 Seiten. Preis: 22,00 €
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