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André Hille – Jahreszeit der Steine

Ein Tag im Leben eines Vaters inmitten der Jahreszeit der Steine. Den beschreibt André Hille in seinem gleichnamigen Roman, in dem ihm die Nahaufnahme eines Mannes gelingt, der nicht nur über die eigene Prägung und seine Rolle als Vater viel nachdenkt, sondern sich bisweilen auch in seinen Grübeleien zu verlieren droht.


Die Jahreszeit der Steine von André Hille ist eines jener Bücher, bei denen es mir nicht gelingen würde, den Reiz des Buchs durch neutrale Schilderungen in Worte zu fassen. Vielmehr ist es das eigene Ich, das ich hier entgegen meiner sonstigen Gepflogenheiten bemühen muss, um meine Faszination für die Prosa André Hilles in Worte zu fassen. Deshalb hier nun eine mehr als subjektive Würdigung eines Buchs, in dem ich mich als mittelalter männlicher Leser hervorragend wiedergefunden habe, obschon der namenlose Protagonist nicht allzu viele Berührungspunkte zu mir selbst aufweist.

Leben auf dem Land

Dabei wirkt das Leben und die geschilderte Welt in André Hilles Roman wie eine Szenerie, die sich auch Juli Zeh in ihren boomenden Romanen über die ostdeutsche Provinz nicht besser ausgedacht haben könnte. Aufgewachsen in der DDR lebt der Erzähler zusammen mit seiner Frau Levje und den drei Kindern in einem Eigenheim auf dem Land, das von Äckern und Monotonie umgeben ist. Morgens radelt er seine beiden jüngeren Kinder Malik und Fritzi im Anhänger auf dem Rad in den Kindergarten, versucht sich danach an Momenten der Produktivität, die er für sein eigenes Schreiben und die Führung seiner eigenen Texterwerkstatt nutzen möchte.

Im Keller arbeitet der Holzspalter, um das Haus für die anstehenden Wintermonate mit Wärme zu versorgen. Im Wohnzimmer steht ein ausladender Tisch, unter dem Dach hat er sich seine eigene Bibliothek als Rückzugsraum eingerichtet. Alles erscheint wie ein hippes Klischee der aufs Land gezogenen Großstädter, wie man es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dutzendfach in ganz unterschiedlicher Qualität lesen kann.

Doch im Gegensatz zur Prosa Juli Zehs bleiben die Figuren bei André Hille keine Stellvertreterfiguren für gesellschaftliche Konflikte, die Verwerfungslinien zwischen Landbevölkerung und den Zugezogenen symbolisieren sollen. Was man in Jahreszeit der Steine finden kann ist Tiefe, Glaubwürdigkeit und damit auch ein Gefühl von Echtheit.

Ein Tag in Echtzeit

André Hille - Jahreszeit  der Steine (Cover)

Wie kommt es zu diesem Gefühl der Authentizität? Das hat mit der Erzählweise des Romans zu tun. Denn André Hille wagt eine extreme Nahaufnahme seines namenlosen Helden, den er einen Tag quasi in Echtzeit erleben lässt.

Wie in einem One-Cut-Video folgt sein Blick ständig dem Erleben und Denken seines Protagonisten einen ganzen Tag lang. Von der Früh bis zum Abend spannt Hille den Erzählbogen, der alles andere als spektakulär ist.

Sein Held erwacht zu den Klängen der ARD-Infonacht im Ohr, bereitet das Frühstück für die Familie vor, bringt die Kinder in die Schule und abends ins Bett, ist tagsüber viel mit seinen Gedanken und Erinnerungen befasst, ärgert sich über die Unordnung daheim und laboriert an minimalen Kränkungen im Zusammenleben mit seiner Frau, die sich trotzdem bereits zu einer veritablen Barriere zwischen ihnen aufgehäuft haben.

So weit so gut. Allerdings ist das hier Beschriebene doch wohl eher Alltag, den viele Paare und Familie in einer ähnlichen Konstellation tagtäglich erleben durften. Einen spannenden Roman macht solch eine schmucklose und austauschbare Rahmenhandlung sicherlich nicht aus.

Der doppelte Gundermann

Dass dem so ist, das hat mit der Figurentiefe zu tun, die André Hille durch die Beschreibung der Gedanken und Erfahrungswelt seines Helden erzielt. Denn die äußere Handlung alleine wäre kein Grund, diesen Roman als etwas Besonderes zu erachten. Erst durch den Gedankenfluss und die Assoziationen und Erinnerungen, die sein tägliches Tun auslösen, gewinnt der Roman an Qualität und Tiefe.

Dass dies so ist, kann man am besten mit dem Gundermann illustrieren, der in Jahreszeit der Steine in zweifacher Ausführung auftritt. So zitiert André Hille den Sänger, um mithilfe von dessen Poesie zugleich die Erlebniswelt als auch die die DDR-Hintergrund seines Helden zu illustrieren. Doch auch im Garten stößt er auf Gundermann, diesmal allerdings in pflanzlicher Form.

Beim Versuch, diesen aus dem Boden zu ziehen, droht sich Hilles Held in den Strängen zu verheddern und zu verlieren.Immer wieder sind es neue Stränge, die sein Zerren an der Pflanze zutage fördert und die sich der Entfernung aus dem Garten widersetzen. Schließlich offenbart sich in ganzes unterirdisches Rhizom, das sich vor ihm auftut. Ein Bild, das sich eindeutig auch auf die Gedankenwelt des Protagonisten selbst übertragen lässt.

Immer wieder liefert ihm der Alltag Möglichkeiten zum Nachdenken und Ergründen seiner eigenen Biografie und seiner Verhaltensweisen. Das Aufwachsen als Kind eines stark dem Alkohol zuneigenden Vaters, seine eigene Rastlosigkeit und die Versuche, dem väterlichen Erbe zu entkommen. Die Suche nach einem eigenen Weg als Vater zwischen Strenge und Akzeptanz der Individualität seiner Kinder, all das sind Gedanken, die ihn den Tag über begleiten und mit denen Hille nicht alleine ist in diesem literarischen Frühjahr.

Grübeleien von früh bis spät

Dabei neigt er zu starken Grübeleien, die den tatsächlichen Alltag fast zu überschatten drohen. So vertut er nahezu den gesamten kinderfreien Vormittag über die Betrachtung seiner Bibliothek und der schieren Frage, welcher von zwei Vornamen besser zu seinem Helden passt, den er in den Mittelpunkt eines Schreibprojekts gesetzt hat. Immer wieder ist er auf der Suche nach dem richtigen Moment, um zu schreiben oder um zu lesen oder in einer anderen Form produktiv sein.

Statt die Kränkungen mit seiner Frau anzusprechen, beschäftigt er sich lieber im Stillen mit diesen, wälzt sie hin und her und sorgt damit auch dafür, dass sich diese immer weiter aufschichten wie die Mauer aus Findelsteinen, die er um den Garten des Familienhauses gesetzt hat.

Überhaupt, die titelgebenden Steinen, die immer wieder als Leitmotiv im Buch auftauchen:

Trotzdem sind die Äcker voller Steine. Vor einiger Zeit, als wir auf der Suche nach Feldsteinen für unseren Garten waren, habe ich mich mit einem Bauern darüber unterhalten, der aus deinem Dorf mit dem bezeichnenden Namen Steinfeld stammt, in dem das Phänomen besonders verbreitet ist, und er lieferte eine neue Theorie: Die Steine werden durch die Fliehkräfte der Erdrotation nach außen getrieben, sagte er, Zentimeter für Zentimeter arbeiten sie sich durch die Erde, bis sie eines Tages an der Oberfläche auftauchen

André Hille – Die Jahreszeit der Steine, S. 85

Die Steine als Verborgenes, das an die Oberfläche drängt. Der Acker, der hier vom Schauplatz der Gassirunden mit Hund bis zum Ort für eine Rattenbeerdigung dient. Die Schutzmauer, die aus den Steinen gefügt war und das Haus vor äußeren Einflüssen abschirmen soll: vieles ist hier mehrfach aufgeladen und kann sowohl als auch als Abbild der Seele und der Verfassung seines Helden gelesen werden.

Ein beeindruckendes Buch

Meine Faszination für dieses Buch ist auch dadurch begründet, dass Hilles Held mit dem selbstreflexiven Denken und dem sprunghaften Erzählen mir selbst sehr nahe ist, obschon wir außerhalb einer gewissen Kulturbeflissenheit biographisch keine Berührungspunkte aufweisen und auch in Sachen Lebensweise so gut wie gar nichts gemein haben. Aber wie Hille es schafft, in die Gedankenwelt einzudringen, alles Zagen und Grübeln plausibel aus der Biografie und dem Werdegang seines Helden herzuleiten und wie er ein immer dichter werdendes Netz aus Gedanken und Alltagsbeschreibungen strickt, das trotz seines Alltäglichkeit zu keinem Zeitpunkt fade wird, das hat mich sehr beeindruckt und zu einer identifikatorischen Leseweise eingeladen.

Wie findet man seine Rolle als Mann und als Vater? Wie kann man sich von seinem Erbe emanzipieren? Und bis zu welchem Grad ist es sinnvoll, partnerschaftlich zur Symbiose zu verschwimmen und wann gibt man seine Individualität auf? All diese Überlegungen stecken nach meiner Lesart in Jahreszeit der Steine, das mich als mittelalter, männlicher Leser stark angesprochen hat, sicherlich aber nicht zu allen Leser*innen gleichsam stark sprechen dürfte.

Fazit

Um mir den Luxus eines rein subjektiven Werteurteils zu erlauben, zu dem mich dieses Hobbyprojekt hier befähigt: wie es André Hille in Jahreszeit der Steine gelingt, den unscheinbaren Alltag eines Familienvaters durch die vielgestaltigen Gedanken und Erinnerungsschleifen in seiner ganzen Individualität doch zu etwas so Universellem und Ansprechenden zu machen, das man sich immer wieder in der Lektüre wiederfindet und man die Grübeleien seines namenlosen Helden gerne begleitet, das hat mich wirklich beeindruckt. Ein starkes Buch, dessen Innerlichkeit und Gedankenfluss wunderbar mit der unspektakulären äußeren Handlung kontrastieren und das mit seinem narrativen Bogen eines einzelnen, chronologisch geschilderten Tages genau die richtige Form und Länge für die verhandelten Themen aufweist. Dieses Buch ist wirklich gelungen!


  • André Hille – Die Jahreszeit der Steine
  • ISBN 978-3-406-79991-4 (C. H. Beck)
  • 338 Seiten. Preis: 25,00 €
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Kerstin Brune – Die Jahres des Maulwurfs

Allzu große Kreativität muss sich die deutsche Gegenwartsliteratur nicht vorwerfen lassen. Berlin-Romane gibt es en masse, die Wendezeit wurde literarisch schon dutzenfach abgearbeitet, in jüngster Zeit geht der Trend zum Dorfroman – und auch Coming-of-Age-Geschichten boomen und finden sich dutzendfach in den Regalen von Buchhandlungen und Bibliotheken. Nun veröffentlich auch Kerstin Brune mit ihrem Debüt Die Jahres des Maulwurfs einen weiteren solchen Roman, der zugleich Kindheits-Erinnerung als auch Dorfroman ist. Thematisch alles andere als originell ist das Ganze aber sprachlich mit einer interessanten Note versehen.


Die Felder und der Schreckliche Wald dahinter – das hatte ich gelernt – bildeten einen Bannkreis, der jeden Fluchtversuch unterband. Menschen und Dinge konnten nur über die einzige Hauptstraße, die durch den Torbogen im Anwesen des Großbauern Deiwel führte, hineingeschwemmt werden, während im Gegenzug nichts hinausdringen konnte. Was hineingelangte, was da war, blieb, wurde vom Ochsen getränkt, von Bauer Deiwel gefüttert und von seinem Sohn Dirk verprügelt.

Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs, S. 60

Der Ochse so heißt die Kneipe, die als Mittelpunkt des anonymen Dorfs und heimlicher Hauptdarsteller in Kerstin Brunes Debüt fungiert. Hierhin kehren die meisten Dorfbewohner*innen abends ein, wo am Tresen die Aufstellungen für das nächste Match des Fußballsenioren vorgenommen werden oder am Tisch der Träumenden die ermattete Melkerin im Schlummer niedersinkt. Versorgt vom Wirt Wanzé hat sich hier kurz vor der Wende eine feinjustierte Gemeindeordnung etabliert, in die die Erzählerin auf Initiative ihrer Freundin Tanja eindringt.

Bauern, Dorffeste und Reporterlegenden

Wunderliches spielt sich dort vor den Augen der beiden Mädchen ab. So gibt es neben dem amtlichen Bürgermeister und dem eigentlichen Dorfherren, dem Bauernpatron Deiwel, noch die Reporterlegende Dietrich P. Albrecht, die die Bewunderung der Dorfbewohner*innen genießt. Seine Reportagen aus der glamourösen Welt der Stars bringen ein wenig Welthaltigkeit in das Dorf. Albrecht weiß von den Stars der Schwarzwaldklinik genauso zu erzählen wie von der Bonner Republik, in der Albrecht mit Genscher und Konsorten per Du ist.

Auf dem platten, dünn besiedelten Land hatte der massige Reporter dem Dorf mit dem Gewicht seiner Geschichten und der Geschichten Bewohner einen Mittelpunkt geschaffen, um den alle kreisten, mehr als um den Marktplatz vor der Kirche.

Sein Gewicht hatte ein Tal in das Raumzeit-Gitter gedrückt, ein Gravitationsfeld geschaffen, der große Planet aus heißem Gas, von dem Tanja erzählt hatte. Bunt, laut, bierschwer. Er hatte den Dorfbewohnern Weltschmerz gegeben, um Alltagsschmerz zu lindern.

Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs, S. 412

Das bringt Abwechslung in den Alltag, der sich sonst in Dorffesten, Kirchenchor und seiner feststehenden sozialen Hackordnung erschöpft und bei der Meldungen wie das Gladbecker-Geiseldrama nicht nur metaphorisch unberührt durch den Fluss des Dorfes treiben und höchstens den Enten als Nistmaterial dienen.

Doch durch das plötzliche Auftauchen von Tanja im Leben der Erzählerin gerät diese bundesrepublikanische Vorwendezeit in den Hintergrund. Stattdessen dominieren für die beiden Mädchen aufregende Abenteuer, die meist durch Tanjas eigenwillige und unangepasste Art entstehen und bei denen ein toter Maulwurf namens Herr Klotho steter Begleiter der beiden Mädchen ist.

So schleppt Tanja das tote Tier stets mit sich herum, bricht in Häuserrohbauten ein und damit wichtige Verhaltensregeln oder geht mit der Erzählerin auf Entdeckungstouren oder tritt mit der Schulklasse gegen eine bulgarische Turnerinnenmannschaft an, die das Dorf besucht.

Gaby Dohm im Ochsen

Kerstin Brune - Die Jahres des Maulwurfs (Covers)

Das weiß Kerstin Brune in elegischen Buchpassagen zu schildern, die die Mittelpunkte der sieben Buchkapitel bilden. So schildert sie gerade minutiös die Schlacht bei Schnakenbrock, in dem die politisierten Grundschulkinder den Kampf gegen die Joghurtbecher-Schwemme des lokalen Milch-Großproduzenten führen wollen – und doch vorgeführt werden. Auch der Besuch von Schwester Christa – des Schwarzwaldklinik-Stars Gaby Dohm – wird von Brune mit einer Akribie inszeniert, die ebenso beeindruckend wie in meinem Fall leider auch ermüdend ist. Egal ob schiefgelaufene Eröffnung eines Dorfcafés oder Turn-Wettkampf zu Abba-Musik – Kerstin Brune setzt hier weniger auf einen durchgängigen Erzählbogen als auf groß geschilderte Einzelereignisse, an die sich die Ich-Erzählerin erinnert und um die herum der über 460 Seiten starke Roman gebaut ist.

Dabei ähnelt ihre Prosa und Erzählweise etwas der des ebenfalls bei Random House verlegten Sebastian Stuertz und dessen Debüt Das eiserne Herz des Charlie Berg. Doch neben der bekannten Dorf- und Kindheitsmotivik des Romans, der Brune wenig hinzuzufügen weiß, hat sie als Pluspunkt die Sprache auf ihrer Seite.

Frische Sprachbilder und Sprachkraft

Aus Brunes Buch spricht eine ganz eigene Sprachkraft, in der nicht nur Tanja durch originelle Sprachbilder und Sentenzen zu überzeugen weiß – gehirnlogisch! Brunes Dorfbewohner sprechen in ihren Dialogen Dialekt und immer wieder findet man Formulierungen, die den gängigen und vielfach abgenutzten Sprachbildern zuwiderlaufen und gerade dadurch irritieren und Aufmerksamkeit schaffen.

Das macht dieses Buch dann schlussendlich in meinen Augen auch am interessantesten, denn inhaltlich finde ich Die Jahre des Maulwurfs gerade in Anbetracht der Fülle an thematisch ähnlich gelagerten Büchern tatsächlich eher wenig originell und austauschbar, was man über Brunes Prosa selbst überhaupt nicht sagen kann.

Darüberhinaus lässt sich der Aspekt des unscharfen Blicks auf der Haben-Seite des Buchs verbuchen. Denn neben dem Maulwurf Herr Klotho ist auch die Erzählerin selbst mit einigen Dioptrien geschlagen, die sie stets eine Brille zu tragen zwingen. Der schlierige Blick aus den ungeputzten Gläsern ist auf die Erzählhaltung des Buchs übertragbar, bei der vieles nicht scharfgestellt wird oder konturlos bleibt. So ist auch Tanja, obgleich zweite Hauptdarstellerin, eine Figur, die sich in ihrer Geschichte und Quecksilbrigkeit nicht wirklich greifen lässt und die der Erzählerin auch im Rückblick viele Rätsel aufgibt.

Schön zudem die Klammer des Buchs, die für mich eine Hymne auf das Wirken als Lehrkraft ist (ein Beruf, dem Brune selbst als Pädagogin an einem Gymnasium nachgeht). Hier hat das Buch wirklich eine Kraft und Pointierheit, die ich mir auch in manchen der ausufernden Beschreibungspassagen gewünscht hätte.

Fazit

Ist man mit Kindheits- und Dorfromanen aus deutscher Feder nicht schon hoffnungslos übersättigt (wie ich es aktuell leider bin), dann bekommt man hier einen sprachlich frischen und originellen Roman, der den Kosmos eines Dorfes genau untersucht, in elegisch geschilderten Kindheitserinnerungen versinkt und der auch Gaby Dohm endlich einmal ausgiebig würdigt.


  • Kerstin Brune – Die Jahre des Maulwurfs
  • ISBN 978-3-328-60181-4 (Penguin)
  • 464 Seiten. Preis: 22,00 €
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Leander Fischer – Die Forelle

Was für ein Debüt! Knappe 800 Seiten dichtesten Textgewebes umfasst Leander Fischers Debüt Die Forelle. Es sind Seiten voller Sprachmacht, die die Kunst der Abschweifung und der Konzentration auf das Kleine feiern. Dem jungen Österreicher ist ein mehr als außergewöhnliches Buch gelungen. Nicht ohne Fehl und Tadel, aber von einer Gewagtheit und einem geradezu inkommensurablen sprachlichen und stilistischen Willen, der das Buch zu einem der außergewöhnlichsten in der deutschen Sprache macht, das dieses Jahr zu entdecken ist.


Bereits der Sturm und Drang-Dichter Dichter Christian Friedrich Daniel Schubart wusste um die Tücke, die das Forellenfischen bereithalten kann. In seinem, durch die Vertonung von Franz Schubert später zu Weltruhm gelangten Gedicht Die Forelle heißt es da:

Ein Fischer mit der Ruthe
Wol an dem Ufer stand,
Und sah’s mit kaltem Blute,
Wie sich das Fischlein wand.
So lang dem Wasser Helle,
So dacht’ ich, nicht gebricht,
So fängt er die Forelle
Mit seiner Angel nicht.

Schubart, Christian Friedrich Daniel: Die Forelle, Strophe 2

Die hohe Kunst des Forellenfischens ist es, die auch Ich-Erzähler Siegi Heehrmann in Fischers Buch erlernen möchte. Nachdem er einst im Mozarteum die Erste Geige spielen durfte, so hat es ihn nun mitsamt seiner Frau Lena und den beiden Kindern in die Provinz des Salzkammerguts verschlagen. Dort verdingt er sich mehr schlecht als Musiklehrer für die Saiteninstrumente. Die Dörfler schicken ihre Kinder zu ihm, damit sie das Spielen der Instrumente erlernen.

Siegi selbst möchte auch etwas erlernen, nämlich die Kunst des Fliegenfischens. Dort im Salzkammergut gibt es jede Menge fischreiche Seen und Flüsse, allen voran die Traun, die das Gebiet durchzieht. Und am wichtigsten: dort im Salzkammergut wohnt Ernstl, ein Nestor des Fliegenfischens. Menschen aus aller Welt suchten seine Nähe, um sich von ihm in diese hohe Kunst einführen zu lassen. Nun fristet Ernstl seinen Lebensabend dort im Salzkammergut und Siegi wird zu seinem Meisterschüler.

Die hohe Kunst des Fliegenfischens

In der Traun und ihren zahlreichen Nebenflüssen tummeln sich die Forellen, die aber ein äußert gerissener Gegner sind. Um sie zu überlisten, braucht es einen kunstvoll gebundenen Köder. Langsam lernt Siegi die Kunst der perfekten Fliege. Egal ob Ritz D, Red Tac oder Charly Fly – will man die Forellen in den Flüssen erlegen, muss man sich der Kunst des Fliegebindens widmen. Und Siegi ist gewillt, sich ganz dieser Kunst hinzugeben. Wenn es ihn auch von allen anderen Dorfbewohnern, den schlagenden Mitgliedern des Fischereivereins oder von seiner eigenen Frau entfremdet. Die Jagd nach der Forelle erfordert völlige Hingabe – und Siegi Heehrmann ist bereit, diese Hingabe zu erbringen.

Wo fängt man bei der Besprechung eines solchen Kalibers von Buch an, wo hört man auf? Am besten mit einer Eingrenzung der Zielgruppe, die dieses Buch goutieren dürfte. Und damit verbunden auch mit einer Ausgrenzung.

Denn ziemlich klar ist, für wen sich dieses Buch nicht eignet. Menschen, die gerne auf den Punkt kommen, es kurz und bündig mögen, die Struktur und klar verfolgbare Erzählstränge schätzen. All sie sollten an dieser Stelle lieber die Lektüre dieser Rezension abbrechen und den soeben geöffneten Tab besser schließen. Denn an Die Forelle dürften sie keine Freude finden.

Dieses Buch ist nicht nur aufgrund seiner Laufzeit von knapp 800 Seiten geradezu maßlos. Barock, überbordend, vor Einfällen und stilistischen Inventionen sprudelnd ist die Prosa Fischers. Einen klaren Handlungsbogen konnte ich, von einigen wenigen äußeren Begebenheiten abgesehen nicht erkennen. Zwar tragen seine Kapitel sprechende Überschriften wie Siegi findet sich langsam mit dem Attentat auf sein Auto ab oder Nina findet sich in der ernstllosen Zeit gut zurecht. Damit ist dann aber auch oftmals der wirklichen Handlung Genüge getan und Fischer verfolgt unbeirrt sein abschweifendes Erzählen, das eines der Hauptmerkmale des Buchs ist.

Magischer Realismus im Salzkammergut

Leander Fischer beherrscht die hohe Kunst der Abschweifung virtuos. Da kann es schon einmal sein, dass Siegi beim Fischen mit einem Freund von einer Forelle unter Wasser gezogen wird und dann seitenweise durch das Wasser geschleift wird. Der kleine Wassermann trifft auf die Gewässer der Traun.

Oder Fischer verfolgt sprachmächtig den Flug eines Schleimklumpens, der beim Sprechen invertiert wird und in der Folge durch die Luft fliegt. Er erzählt von Fischern, Ködern, Schlachtern und Fischereiaufsichtsorganen und verliert sich dabei immer wieder in seinen Schilderungen.

Aus der normalen Handlung heraus verkettet er verschiedene Ereignisse, die er hingebungsvoll verfolgt und so seine eigentliche Geschichte immer mehr ad absurdum führt. Der 1992 geborene Österreicher kommt so erzählerisch vom Hölzchen aufs Stöckchen. Bestes Beispiel ist eine wilde Räuberpistole, die Siegi von einem fischenden Grafen erzählt wird.

Dieser befindet sich in Kanada auf einer Angeltour, als ihm ein Lachs vor die Angel schwimmt. Dieser Lachs wird dann allerdings von einem hungrigen Bären verspeist, ehe der Graf den Salmoniden für sich in Anspruch nehmen kann. Und so jagt der Graf dann den Bären, der den Lachs im Magen hat, der wiederum die Fliege des Grafen zwischen den Kiemen hat. Eine aberwitzige Geschichte, die sinnbildlich für das Erzählen Fischers steht.

Wer Freude an solchen barocken Fantastereien und Abschweifungen hat, der ist mit diesem Buch gut beraten. An vielen Stellen findet auch magischer Realismus in die Erzählung, etwa wenn die Perspektiven zwischen Fischer und Fisch verschwimmen. Auch springt Leander Fischer immer wieder in seiner erzählten Zeit (die nur an wenig Stellen wirklich konkret und klar wird) zurück bis in die Zeit des Nationalsozialismus. Die Verflechtungen der Vergangenheit mit der Gegenwart werden an vielen Stellen von Die Forelle herausgearbeitet.

Ein Heimatroman 2.0

So erschafft Fischer ein Werk, das ich als Heimatroman 2.0 bezeichnen würde. Er stellt sich den Abgründen der Vergangenheit und erzählt auch von den weniger pittoresken Seiten des Salzkammerguts. Innovativ bricht er tradierte Formen der Heimaterzählung auf, bedient diese dann an anderen Stellen aber auch wieder ungebrochen.

Ergebnis ist ein Buch, das sich einer klaren thematischen Einordnung ebenso bewusst entzieht wie einer genauen zeitlichen Einordnung oder einer Genrezuteilung. Dieser Text zieht gerade aus seiner Wandelbarkeit, seinem Verwischen der verschiedenen Srachen- und Handlungsbenen seinen Reiz. Ein Merkmal, das auch die Jury des Bachmannpreises 2019 beschäftigte, der Fischer einen Auszug aus dem Anfang seines Romans präsentierte und damit auch den Publikumspreis beim Wettlesen gewann.

Sprachmächtig fabuliert Fischer, zeigt sich unglaublich wenig und benennungsstark, weiß von Ködern wie Ritz D oder Red Tac, Vorfach, fängigen Stellen, Gumpen und Katarakten zu erzählen. Die Varianz, die seine Prosa besitzt, ist mehr als bewundernswert und zählt zu dem Beeindruckendsten, das ich dieses Jahr lesen durfte. Von endlosen Bandwurmsätzen über reine Monologe oder Austriazismen bis hin zu Ein-Wort-Sätzen, Neologismen und Passagen, die eine ganz eigene Syntax und Orthografie entwickeln – es ist alles drin in dieser Forelle.

Ein unangepasstes und unberechenbares Buch

Das ist äußerst beeindruckend, manchmal auch etwas manieriert und zu viel des Guten. Manchmal wäre zweifelsohne etwas weniger mehr gewesen. Weniger Abschweifung, weniger Sprachfuchserei, mehr Orientierungspunkte, Straffungen, klarere Personenzeichnungen oder gar Handlung. Perfekt ist das alles sicherlich noch nicht. Aber vor seiner ganzen Ambition, dem zur Schau gestellten Talent, der Unangepasstheit und der rauschenden Sprachmacht muss man doch den Hut ziehen. Diese Forelle ist ein wirkliches Meisterstück. Hier betritt ein Autor nicht zaghaft die literarische Bühne, nein, er tritt eine Tür mit lautem Getöse ein.

Freilich: auf dem Buchmarkt mit seinen Konventionen und passgenau zugeschnittenen Angeboten für die Zielgruppen dürfte es dieses unberechenbare Buch schwer haben. Umso schöner allerdings, dass auch die Jury des Österreichischen Buchpreises die Qualität dieses außergewöhnlichen Buchs erkannt hat und Leander Fischer den Preis für das beste Debüt des Jahres zugesprochen hat. Das ist mehr als verdient. Und wer den Mut aufbringt, in diesen wilden Erzählstrudel hineinzutauchen, der kann auch nicht anders als der Jury zuzustimmen.

Weitere Meinungen zu Fischers Debüt gibt es bei Neues Deutschland, dem Standard und der FAZ.


  • Leander Fischer – Die Forelle
  • ISBN 978-3-8353-3730-5 (Wallstein)
  • 782 Seiten. Preis: 28,00 €

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Mit Wildschweinen durchs Spiegelkabinett

Kai Wieland – Zeit der Wildschweine

Der Chronist der Provinz ist wieder zurück. Nach Amerika legt Kai Wieland nun eine erneute Erkundung des schwäbischen Landschaften und Seelen vor. Er erzählt in Zeit der Wildschweine von Spiegelbildern, Lost Places, Christopher Nolan und der Provinz. Zugleich weitet er seinen eigenen erzählerischen Kosmos und erschafft ein clever konstruiertes Spiegelkabinett.

Zwei Männer in der Normandie

Der neunundvierzigste Breitengrad ist nie ein sonderlich musikalischer gewesen, schon gar nicht in unseren Gefilden. Die Landschaft hier inspiriert eher zur Sachlichkeit als zum Pathos, und Sprache ist dafür besser geeignet als Musik (…). Mit ihren Tälern, den Hügeln, den Streuobstwiesen ist es eine gute Landschaft, um auf dem Boden zu bleiben – leicht zu mögen, schwer zu verherrlichen, eine gute Landschaft, um sich nach den großen Brüdern zu sehnen, den höheren Bergen, tieferen Schluchten und wilderen Wäldern. Die Straßen sind weder aus Milch und Honig noch aus bitteren Tränen, sondern aus Asphalt und im besten Sinne leidenschaftslos, sie durchziehen das Land ohne innere Dramaturgie, und sie führen nicht nach Rom oder ins Abenteuer, sondern auf die Alb oder zu Aldi. Tagsüber sei es kinderleicht, die Dinge nüchtern und unsentimental zu sehen, meine Hemingway. Nachts sei das eine ganz andere Geschichte.

Hemingway war nie im Schwabenland.

Wieland, Kai: Zeit der Wildschweine, S. 152

Nein, Hemingway war nie im Schwabenland. Aber in der Normandie weilte der erlebnisversessene Großautor dem D-Day bei. Ebenso wie Hemingway zog es auch den Fotografen Robert Capa in diesen Landstrich. Denn wenn Geschichte geschrieben wurde, waren diese beiden Männer nicht fern.

Über siebzig Jahre später zieht es wieder einen Fotografen und einen Schriftsteller in die Normandie. Der Auftrag ist diesmal allerdings ein weitaus unspektakulärer. Leon, so der Ich-Erzähler des Romans, soll für einen Reiseführer zwei Lost Places dokumentieren. Vor langer Zeit wurden die Küstenstädtchen Saroncourt und Nortzeele aufgegeben und liegen nun brach. Da die Erkundung dieser ausgestorbenen Orte boomt, möchte auch Leons Auftraggeber, ein Verlag für Reiseführer, auf den Zug aufspringen. Der zuständige Redakteur schickt Leon auf die Mission in den Norden Frankreichs.

Ein Buch der Gegensätze und Spiegelbilder

Doch Leon macht sich nicht alleine auf den Weg zu den Lost Places. Ihn begleitet Janko, den er beim Boxen kennengelernt hat. Wie Leon ist auch Janko ein Filmfreund und schwärmt für das Kino (David Lean, David Lynch, David Fincher, so die Trias, auf die Trias, auf die man sich beim abendlichen Pubbesuch nach dem Boxtraining verständigt). Die Suche nach dem Motiv, das ihn berühmtmachen wird, treibt Janko an.

Kai Wieland - Zeit der Wildschweine (Cover)

Diese beiden gegensätzlichen Männer machen sich in Wielands Buch nun auf nach Frankreich. Und entdecken Unverhofftes, entfremden sich und bilden doch ein funktionierendes Gegensatzpaar. Da der impulsive Janko mit einer bewegten Biografie, dort Leon, schwäbisch sozialisiert und nun im eigenen Elternhaus wohnend. Zwei Männer, die nicht die einzigen Gegensätze im Buch bleiben werden.

Kai Wieland kontrastiert den Erzählstrang um die beiden Männer auf der Suche nach den Lost Places mit einer zweiten Ebene. Diese erzählt von Leon, der mit seinem Vater einen Haustausch wagt. Dieser zieht in Leons Wohnung, im Gegenzug übernimmt er das Elternhaus. Während Leon verlassene Orte in der Normandie zu finden sucht, verfällt das eigene Zuhause zusehends. Denn das Gefühl nach Heimat, es mag sich nicht so wirklich einstellen bei Leon. Warum dem so ist, das erfahren wir erst später im Buch.

Raffinierte Kompositionen von Kai Wieland

Kai Wieland interessiert sich in Zeit der Wildschweine für Gegensätze. Das beginnt bei der Dichotomie des eigenen Zuhauses und der Lost Places, setzt sich in den Hauptfiguren von Janko und Leon fort und reicht bis zur abstrakten Weiterentwicklungen des Gegensatzes Fotografie-Kunst (welche Wieland durch die Geschichte Hemingways und Capa aufgreift). Es ist kein Zufall, dass diese Geschichte voller Spiegel steckt. Mal kommunizieren die beiden Männer zum Missfallen Jankos in der Sportumkleide darüber. Dann finden sie welche in den verlassenen Häusern Saroncourts. Auch in Form eines Schachspiels spiegeln sich Seiten – oder es tauchen versteckte Anspielungen bis hin zur Gattung des Spiegelkarpfens auf.

Achtet man auf diese Bilder und die oft versteckten Anspielungen, dann entfaltet sich die ganze Raffinesse, die in Zeit der Wildschweine steckt, gleich noch einmal mehr. Wieland baut hier nicht nur einzelne Spiegel auf, er bastelt ein ganzes Spiegelkabinett, das die Leser*innen anlockt, sie mit widersprüchlichen oder unzuverlässigen Figuren konfrontiert und dazu einlädt, dieses Buch nicht nur einmal zu lesen (ich nahm diese Einladung dankbar an und wagte noch einen zweiten Durchgang, der wiederum einige neue Aspekte freilegte).

Wort oder Bild?

Zeit der Wildschweine ist auch ein Buch über die Kraft des Kinos, den Reiz des Films und die Frage, in welchen Punkten dieser der Literatur überlegen ist. Die Zitate und Referenzen zu Meilensteinen der britischen und amerikanischen Filmkunst sind unübersehbar. Besonders David Finchers Fight Club und Christopher Nolans Filme, allen voran Dunkirk, spielen im Buch eine wichtige Rolle. Der Cineast Leon selbst muss sich der Frage stellen, was für ihn mehr bedeutet: das Bild oder das Wort. Auch wieder eines dieser Spiegelbilder, das Wieland hier ergründet.

Dass das Buch darüber hinaus in einem ganz eigenen Ton geschrieben ist, der auf einen frischen und kreativen Sprachzugriff setzt, das wertet das Buch zusätzlich auf. Wieland ist wirklich ein Talent, dessen schriftstellerische Entwicklung zum Spannendsten gehört, das sich nicht nur in der süddeutschen Literatur gerade beobachten lässt.

Fazit

Zeit der Wildschweine ist ein raffiniert gebautes Werk. Ein wahres Spiegelkabinett, das immer wieder neue mögliche Betrachtungsweisen ermöglicht. Eine Verneigung vor dem Film und eine gelungene Erweiterung des Wieland’schen Erzählkosmos, der sich mit seinen Themen der Provinz, der genauen Auslotung von Charakteren und sprachlicher Abenteuerlust und Präzision aber treu bleibt. Eine unbedingte Empfehlung, dessen eigentliche Qualitäten sich bei einem zweiten oder dritten Lesen erst in ihrer ganzen Fülle offenbaren. Große Literatur von diesem schwäbischen William Faulkner, wie ihn Denis Scheck nannte. Man mag ihm nicht widersprechen.

Weitere Meinungen zu Wielands Buch gibt es bei Sound & Books und Letteratura.


  • Kai Wieland – Zeit der Wildschweine
  • ISBN: 978-3-608-98225-1 (Klett-Cotta)
  • 271 Seiten, 20,00 €
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Lukas Rietzschel – Mit der Faust in die Welt schlagen

Der Osten Deutschlands. Abgehängte, Landflucht, AFD und Pegida-Kernland. So die Buzzwords der Medien, wenn es um die ostdeutschen Bundesländer geht. Der Debütautor Lukas Rietzschel, selbst aus Ostsachen stammend, wagt sich nun literarisch weit hinein in dieses Gebiet und erzählt von der Provinz und ihren Bewohnern.

Dies tut er mithilfe zweier Brüder, die die erzählerische Grundachse seines Romans Mit der Faust in die Welt schlagen bilden. Von ihrer Kindheit an begleitet er Philipp und Tobias, die mit ihrer Familie in Neschwitz an der Grenze zu Polen aufwachsen.

Lukas Rietzschel - Mit der Faust in die Welt schlagen (Cover)

Dort verwirklichen ihre Eltern ihren Traum vom Eigenheim und bauen in die Provinz ein Haus. Doch der Traum von Eigenständigkeit und Angekommensein erweist sich als brüchig. Da ist schon zum einen die Familie selbst, deren Zusammenhalt äußerst fragil ist. Der Großvater tritt immer auf das Gaspedal, wenn Philipp und Tobias mit ihren Großeltern die Flüchtlingswohnheime in Hoyerswerda passieren. Und auch ansonsten schweigt man sich über so manches aus.

Und zum anderen ist da das Umfeld  So etwas wie große Perspektiven gibt es nicht. Namhafte Firmen, Karrieremöglichkeiten? Alles Fehlanzeige. Lieber schimpft man auf die Sorben oder die Zecken, die man als Feindbilder ausgemacht hat.

Bonjour Tristesse

Und so gleiten Tobias und Philipp auch schon in der Schule in einen verhängnisvollen Kreislauf ab, der durch einzelne Klassenkameraden und Freude bedenklich angestachelt wird. Fremdenhass, Gewalt und Nullbock-Mentalität sind die Folgen.

Bestes Symbol für dieses Gefühl der Frustration und Stagnation ist dabei der Schulhof, den die beiden Jungen frequentieren. Blicken sie zunächst als Schüler noch respektvoll bis neidisch auf die halbwüchsigen Schulabgänger, die trotz der schon zurückliegenden Schulzeit noch immer mit ihren Mofas jeden Tag zum Pausenhof kommen. Jeden Tag tauchen diese auf, um besonders den Mädchen ihre Aufwartung zu machen. Am Ende des Romans ist es Philipp selbst, der auf seiner Maschine als Ritual wieder oder immer noch – das kann man sehen wie man will – den Pausenhof frequentiert. Entwicklung und Perspektive sehen anders aus.

Dieses In-Worte-Fassen des Alltags, das macht Mit der Faust in die Welt schlagen aus. Präzise zeichnet der 24-jährige Rietzschel nach, wie aus die großen Träume platzen und langsam der Hoffnungslosigkeit Platz machen. Dass diese dann in Mutproben ihr Ventil finden, die nahezu nahtlos in  fremdenfeindlichen Aktionen übergehen, das wirkt hier in seinem Roman nur konsequent.

Über mehrere Jahre beobachtet er die Brüder und ihr Umfeld, zeigt wie Beziehungen in die Brüche gehen, Hoffnungen platzen und der Frust immer größer wird über dieses Gefühl des Abgehängt-Seins.

Im Osten nichts Neues

Recht viel Neues kann Rietzschel seinem Thema dabei aber nicht abgewinnen. Die latente Fremdenfeindlichkeit, die Perspektivlosigkeit und die Wut – die kennt man ja bereits hinlänglich aus Reportagen und Berichten aus dem Osten. Spätestens nach jeder Wahl in den neuen Bundesländern, die der AFD Stimmgewinne bringt, wird die Ursachenforschung betrieben, die auch Lukas Rietzschel hier vollbringt – jeweils mit ähnlichen Ergebnissen.

Als Erklärung für den Rechtsdrift und als Analyse der gesellschaftlichen Verwerfungen taugt Mit der Faust in die Welt schlagen insofern nur bedingt – auch wenn viele Medien und Blogs aus Rietzschels Buch gerne mehr als das machen würden, als was er eigentlich geschrieben hat.

Ist das Buch dennoch lesenswert? In meinen Augen ja, denn hier zeigt sich ein junger Erzähler, der genau hinschaut und sich als Chronist ostdeutscher Befindlichkeiten bewährt und der mit reduzierten sprachlichen Mitteln die Geschichte des Heranwachsens zweier Brüder schildert. Ein Talent, das man weiterhin im Blick haben sollte!

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