Tag Archives: Schottland

Louise Doughty – Deckname Bird

Bis nach Island schickt die Autorin Louise Doughty ihre Heldin Heather Berriman, die als Spionin für den Britischen Sicherheitsdienst unter dem Deckname Bird tätig ist. Brisante Erkenntnisse sorgen dafür, dass sie untertauchen muss. Dafür muss sie vom Radar ihrer Arbeitgeber verschwinden – und vor allem überleben.


Heather Berriman ist eine unauffällige Frau. Anfang fünfzig versieht sie ihren Dienst im Verbindungsbüro 2.6 des britischen Geheimdienstes. Zusammen mit ihrem Vorgesetzten Kieron und den Kolleg*innen ist sie mit internen Ermittlungen befasst und soll die Verlässlichkeit der Geheimdienstmitarbeitenden überprüfen. Doch schon auf den ersten Seiten tritt Heather eine schnelle, aber keineswegs kopflose Flucht an. Sie begibt sich aus dem Verbindungsbüro in Birmingham und tritt eine Flucht an, die sie über Schottland und Norwegen bis nach Island führen soll. Doch was die Hintergründe für ihre plötzliche Flucht sind, das zeigt sich erst deutlich später in Louise Doughtys Text.

Mit Deckname Bird hat die Britin einen geradezu klassischen Spionageroman geschrieben, der die Welt der Geheimdienste und vor allem die Welt des Untertauchens und spurlosen Gangs durch die Welt zelebriert. Sonderlich innovativ ist der Stoff der Agentin auf der Flucht dabei natürlich nicht.

Eine Agentin auf der Flucht

Louise Doughty - Deckname Bird (Cover)

Dass Geheimdienstmitarbeiter untertauchen müssen und sich gegen ihre früheren Arbeitgeber und deren Überwachungsapparat zur Wehr setzen müssen, ist ja essenzielles Handwerk von Agenten und wird dementsprechend immer wieder in Romanen aufgegriffen. Drehbuchautor Anthony McCarten strickte aus der Idee des Untertauchens gar einen ganzen temporeichen Thriller, in dem er die Möglichkeiten heutiger Überwachungstechnik auslotete und damit nicht gerade dazu beitrug, die Skepsis angesichts dieser Technik zu verringern. Ganz so temporeich ist Doughtys Thriller nicht, der sich lieber auf andere Aspekte des Untertauchens konzentriert.

Bei ihr hat besitzt das Untertauchen nämlich keinerlei Glamour und Nervenkitzel, sondern ist harte Arbeit. Der Weg nach Schottland ist von Entbehrungen gekennzeichnet und bringt Doughtys Agentin in Kontakt mit Obdachlosen oder übergriffigen Männern. Stets mit der Angst nach Überwachern in ihrem Nacken treibt es die Frau von Versteck zu Versteck, wobei ganz basale Probleme wie Hunger oder die Probleme bei der Toilettenbenutzung verhandelt werden. Da geraten selbst toll eingefangene Schauplätze wie ein Cottage in Schottland, die Berge in Norwegen oder die überwältigende Schönheit der Natur Islands ins Hintertreffen.

Rauer und realitätsnäher als ihre Kollegen

Wer sich Hochglanz-Action und reinen Thrill mit Finten und ausgeklügelten Manövern erhofft, der ist bei Deckname Bird fehl am Platz. Das Untertauchen hier bedeutet Angst, Einsamkeit, Unsicherheit und Entbehrung, vor allem aber immer Arbeit. Damit ist Louise Doughtys Thriller deutlich rauer und realitätsnäher als die Thrillerprodukte eines John Le Carré oder Robert Ludlum.

Die Spannung ihres Romans zieht sich aus der Frage des Überlebens einer Heldin, die als Frau mittleren Alters zudem deutlich abweicht vom üblichen Casting solcher Spionageromane. Damit gelingt Louise Doughty ein Roman, der dann eben doch herausstechen kann aus dem Vielerlei anderer Bücher mit ähnlichem Plot.

Schade ist allein die an manchen Stellen recht nachlässige Übersetzung des Buchs. So gibt es „Nordlichter“ anstelle von Polarlichtern zu bestaunen, den Finger schmückt ein „Hochzeitsring“ anstelle eines Eherings oder jemand kennt die „Raffiniertheit“ von Heathers Vater anstelle von dessen Raffinesse (obgleich beide Formulierungen im Deutschen zulässig sind, sich letztere aber zumindest für mich idiomatischer und runder liest als die etwas gequält klingende Nominalisierung, die im Buch Anwendung gefunden hat).

Fazit

Das anstrengende und entbehrungsreiche Versteckspiel einer Frau vor ihrem ehemaligen Arbeitgeber wird bei Louise Doughty zu einer spannenden Angelegenheit. die durch ihre Realitätsnähe und die für derartige Thriller ungewöhnliche Heldin besteht. Diese Heather Berriman ist eben kein James Bond und kein George Smiley, die locker flanierend durch die Handlung des Buchs schreitet. Diese Heldin kämpft, zittert, leidet. In Sachen Ungebügeltheit in puncto Plot und Personal ist das eher an Mick Herrons Slow Horses dran als an weltläufigem Agentenkitzel.

Das macht aus Deckname Bird einen zeitgenössischen und realistischen Agententhriller, der eine eigene Note in das weite Feld dieser Art von Spannungsliteratur einbringt – und der mit einer sorgfältigeren Übersetzung vielleicht noch etwas mehr geglänzt hätte.


  • Louise Doughty – Deckname Bird
  • Aus dem Englischen von Astrid Arz
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47494-5 (Suhrkamp)
  • 390 Seiten. Preis: 18,00 €

Ewan Morrison – Überleben ist alles

Wem kann man noch glauben, wenn eine Pandemie die ganze Welt überzieht? Der Schotte Ewan Morrison lässt in seinem Buch Überleben ist alles ein pubertäres Mädchen zwischen der Weltsicht ihres verschwörungsgläubigen Vater und dem Misstrauen gegenüber ebenjener Perspektive taumeln. Herrscht da draußen wirklich eine allumfassende Pandemie oder hat sich die kleine Gemeinschaft, in die er seine Kinder gebracht hat, in einer eigenen Blase aus Paranoia eingeigelt? Sein Buch ist Familiendrama und Binnenschilderung einer Prepper-Community zugleich.


Die Coronapandemie der vergangenen Jahre hat eine verstärkte Risikovorsorge und ein wachsendes Bewusstsein für die Fragilität unserer Infrastruktur geschaffen. Während hierzulande alte Bunker auf ihren Funktionsgrad überprüft werden und reiche Menschen diese Rückzugsorte für sich entdecken (wovon zuletzt der Spanier Isaac Rosa in seinem Roman erzählte), erfreuen sich auf dem Buchmarkt literarische Illustrationen von Katastrophen wie etwa Marc Elsbergs Blackout großer Beliebtheit. Aufmerksam werden Äußerungen des Bundesamtes für Katastrophenschutz und Bevölkerungsschutz nachverfolgt – was an sich ja eine vernünftige und umsichtige Grundhaltung ist.

Was aber, wenn vernünftige Vorsorge und Risikomanagement ins Übertriebene kippt? Was, wenn die Angst vor einem potentiellen Stromausfall zur dominanten Angst und der Schutz davor zur Obsession wird? Dann ist man schnell im Prepper-Milieu, in dem sich auch der Vater von Haley in Ewan Morrisons Roman Überleben ist alles umtut.

Rückzug in die Berge Schottlands

Ewan Morrison - Überleben ist alles (Cover)

Er hat sich in einem abgelegenen Landstrich in Schottland einen gesicherten Rückzugsort geschaffen, wo er sich mit Mitstreiter*innen auf den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung vorbereitet und vielerlei Maßnahmen ergriffen hat, um überleben zu können, wenn der Rest der Menschheit von einem Virus befallen wird. Denn das die nächste Pandemie nur eine Frage der Zeit ist, das steht für ihn sicher fest, und so will er vorbereitet sein.

Was als sein Spleen durchgehen könnte und niemanden dort im bergigen Hinterland stören würde, wird allerdings schon auf den ersten Seiten des Romans zum Problem. Denn der in Scheidung lebende Mann entführt kurzerhand seine beiden Kinder, wie uns seine Tochter Haley schon auf den ersten Seiten erzählt, dargebracht im ironisierten Tonfall eines Ratgebers.

Plan A

Wie man die eigenen Kinder entführt

Willst du am Tag eins einer vermuteten Pandemie deiner Exfrau die eigenen Kinder entführen, benötigst du Folgendes:

  1. Ein robustes Geländefahrzeug, voll aufgetankt, mit Extra-Kraftstoffkanistern.
  2. Eine gut geplante und vorher getestete Route, auf der man sich schnellstmöglich aus dem Staub machen kann.
  3. Eine ausgefeilte Lügengeschichte, um vom eigentlichen Vorhaben abzulenken.
  4. Superpraktisch ist auch, die Entführung in die Nacht zu legen, in der die Kinder sowieso bei dir sind.

Das alles hatte sich mein Dad ausgedacht, der auch der Autor eines eigenen, recht bombastisch mit ÜBERLEBEN betitelten Survival-Guides zur Pandemie ist.

Ewan Morrison – Überleben ist alles, S. 15

Im in manchen Phasen durchaus anstrengenden Erzählton der Teenagerin sind wir also mit dabei, wenn der Vater sie nun in den Norden der Insel verschleppt und sie dort vor dem Rest der Welt schützen will, die der ehemalige Journalist von einer Pandemie befallen glaubt. Aber könnte es nicht auch sein, schließlich hat sich wenige Jahre zuvor ja auch schon eine Pandemie namens Corona auf der ganzen Erde ausgebreitet, wie es zuvor nur Apokalyptiker für möglich hielten?

Wem und was glauben?

Aus dieser Unsicherheit, die aus der Abgeschiedenheit des Prepper-Compounds resultiert, zieht der Roman seine Spannung. Ist die Pandemie dort draußen nur Fantasie ihres Vaters oder stimmen die Belege, die der Vater im abgeschotteten Versteck seiner Tochter präsentiert? Beständig schwankt Haley in ihrer Beurteilung der Lage, was nicht einfacher wird, als ihre Mutter als realitätsnäherere Gegenpol zusätzlich im Rückzugsort auftaucht. Wem und was ist zu trauen, wem kann man Glauben schenken?

Zu allem Überfluss schlagen in diesem emotionalen und informatorischen Chaos auch noch die Hormone zu und führen vollends zum Overload. Denn der ebenfalls im Compound wohnende Sohn eines Verbündeten ihres Vaters weckt immer stärkere Gefühle in der rebellierenden Teenagertochter, die sich doch vielleicht auch anpassen muss, um in der Gemeinschaft zu überleben.

Fazit

Überleben ist alles ist ein Roman, der den zwiespältigen Geist des Preppertums sehr gut einfängt. Wo hört Vorsorge auf, wo beginnt der Wahn? Was ist noch gesundes Misstrauen, was schon Verschwörungsgläubigkeit und wie funktionieren die Dynamiken in einer von der Außenwelt abgekoppelten Blase? Ewan Morrison erkundet es in seinem Roman, der weniger durch eine handlungsgetriebene Spannung, als vielmehr durch die Schilderung der diffusen (Gefühls)Lage außerhalb des Lagers und innerhalb in der Gemeinschaft, Haleys Familie und ihr selbst überzeugt.

Ein Roman, der hoffen lässt, dass die nächste Pandemie noch auf sich warten lässt. Denn das Überleben in der hier geschilderten Variante, es scheint auch kein sonderlich erstrebenswerter Weg aus der Krise zu sein.


  • Ewan Morrison – Überleben ist alles
  • Aus dem Englischen von Karl-Heinz Ebnet
  • Herausgegeben von Thomas Wörtche
  • ISBN 978-3-518-47465-5 (Suhrkamp)
  • 438 Seiten. Preis: 18,00 €

Bram Stoker – Das Geheimnis der See

Ein geheimnisvoller Code, ein nicht minder geheimnisvoller Schatz, Geheimgänge, eine große Liebe und viel Pulverdampf. Das alles bietet Das Geheimnis der See, ein hierzulande weitgehend unbekannter Abenteuerroman des Dracula-Erfinders Bram Stokers. Dank des Übersetzers Alexander Pechmann und des Mare-Verlags lässt sich dieses Buch nun auch im Deutschen entdecken.


Man könnte schon ahnen, dass es nicht ganz mit rechten Dingen zugeht, wenn sich auf den ersten Seiten eines Buchs der Vorhang hebt und eine solche Szene wie die folgende preisgibt:

Ich war gerade erst in Cruden Bay angekommen, wo ich, wie jedes Jahr, meinen Urlaub verbrachte, und saß nach einem späten Frühstück auf einer niedrigen Mauer an der Böschung der Brücke, die über den Fluss Water of Cruden führte. Mir gegenüber, auf der anderen Straßenseite, im Schatten der einzigen kleinen Baumgruppe der Umgebung, stand eine große, hagere alte Frau, die mich immerzu aufmerksam anstarrte. Im nächsten Moment gingen ein Mann und zwei Frauen an mir vorbei. Mein Blick folgte ihnen unwillkürlich, und nachdem sie sich ein Stück weit entfernt hatten, glaubte ich zu sehen, dass die beiden Frauen nebeneinander einherschritten, während der Mann allein voranging und eine kleine schwarze Kiste auf der Schulter trug – ein Sarg.“

Bram Stoker – Das Geheimnis der See, S. 11

Hier ist er, jener Bram Stoker, der mit Dracula eine der stilprägenden Figuren des Horrorgenres schuf, die bis heute ihren Einfluss auf die Popkultur ausübt. Auch in seinem fünf Jahre nach dem Blutsauger-Meilenstein entstandenen Werk Das Geheimnis der See (1902) ist der Grusel vorhanden. Allerdings tritt er nach dem eindrücklichen Beginn des Romans hinter die „realistischere“ Erzählhaltung des übrigen Romans zurück. So ist die Szene mit dem Sarg der Auftakt zu weiteren morbiden Geschehnissen, die sich in Cruden Bay ereignen.

Grusel in Cruden Bay

Bram Stoker - Das Geheimnis der See (Cover)

Denn nicht nur, dass tatsächlich ein Kind stirbt, nachdem die Erwachsenen den kleinen Sarg durch das schottische Küstenstädtchen getragen haben. Ein weiterer Mann kommt kurz darauf in der Nacht zum sogenannten Lammas-Tag, dem 1. August, ums Leben. Bei diesem Tag handelt es sich im keltischen Brauchtum um den Tag, der den Übergang zum Herbst markiert. Auch jenen Toten sah Archibald Hunter noch kurz zuvor und ist nun ob seiner Visionen von den bevorstehenden Toden höchst irritiert.

Von einer mysteriösen Alten namens Gormala wird er eingeweiht, dass er ebenso wie sie selbst das zweite Gesicht hat und Tode vorausahnen und sehen kann. Bereits aufgewühlt durch jene Offenbarung wähnt er sich bei seiner dritten Begegnung mit in Todesgefahr schwebenden Frauen schon wieder in einer Vision, die sich dann aber als wahrhaft und konkret erweist.

So sind eine junge und eine ältere Dame in der unruhigen Strömung nahe der gefährlichen Meeresklippen von Cruden Bay in Gefahr geraten. Selbstlost rettet Archie die beiden Frauen aus der Gefahr – und schon kurz darauf ist es um ihn geschehen. Denn ebenso unverhofft wie die Begegnung kommt auch die Liebe, die sich zwischen ihm und der aus Amerika stammenden Marjory entspinnt.

Archibald Hunter, der Retter in der Not

Stoker vertut in seinem Roman nicht viel Zeit sondern geht in Das Geheimnis der See gleich in die Vollen. Von den Todesvisionen zur Errettung der Frauen zur Hochzeit mit Marjory vergeht hier nicht allzu viel Zeit und Seiten.

Um diese Geschichte herum montiert er noch eine weitere, fast schon an die Mantel und Degen-Romane eines Alexandre Dumas erinnernde Erzählung. Denn zufällig gelangt Archibald in den Besitz einer Eichenholzkiste mit Dokumenten. Diese sind mit einem Code verschlüsselt, der Archibald und Marjory auf die Spur eines Schatzes bringt, der auch mit Marjory selbst zu tun hat.

Denn die junge Frau schwebt in großer Gefahr. So versteckt sie sich eigentlich in Cruden Bay, weil es Entführer auf sie abgesehen haben. Der amerikanisch-spanische Krieg tobt im Hintergrund – und Marjory kommt eine entscheidende Rolle in der Auseinandersetzung, wie Stoker zeigt. Der Schatz, der Geheimcode, Archibalds Haus, alles hängt hier (nicht immer sehr glaubwürdig) miteinander zusammen. Das fällt aber nicht so sehr ins Gewicht, weil Stoker die Logiklöcher und Unwahrscheinlichkeiten mit einem hohen Tempo und immer neuen Erzähleinfällen kaschiert.

Die Entschlüsselung des Codes führt zur Höhle mit dem Schatz (die sich natürlich gleich in der Nähe von Cruden Bay verbirgt), Geheimgänge und Codes bringen Archibald und seine Frau auf die Spur von Entführern und schließlich darf auch die alte Seherin Gormala noch einmal einen Auftritt haben, um im Bombast-Finale vor der Küste Archibald mit übersinnlichen Kräften zur Rettung seiner Holden zu verhelfen.

Nicht wirklich glaubwürdig – aber unterhaltsam

Glaubwürdig ist das alles natürlich nur bedingt – aber dafür umso unterhaltsamer. Das Geheimnis der See ist doch reich an Schwächen, die das Buch nicht unbedingt zu einem vergessenen Meisterwerk machen. Einige recht unmotivierte Zufälle, viele verschiedene Elemente und Genres, die sich nicht immer ganz glatt verfugen, eine manchmal etwas konfuse Handlung, Liebeskitsch á la im Gleichklang schlagende Herzen oder wilder Exotismus ob der glutäugigen Spanier und gedungenen Amerikaner sind durchaus Schwächen.

Wer an historischen Abenteuerromanen wie Dumas‘ Der Graf von Montecristo oder Moonfleet von John Meade Falkner seine Freude hatte, den dürfte auch Das Geheimnis der See nicht enttäuschen. In vielen Kapiteln und noch mehr erzählerischen Volten treibt er seine Leser*innen durch das Buch, das von Alexander Pechmann nicht nur übersetzt, sondern auch mit einem Nachwort und weiterführenden Informationen versehen wurde. Gelungen arbeitet Pechmann interessante Aspekte an Stokers Werk heraus und erläutert darüber hinaus auch noch Wissenswertes, etwa zum Binärcode von Francis Bacon, der im Roman eine entscheidende Rolle spielt.

Fazit

So kann man mit diesem formschön gestalteten Band im Schuber ein Werk entdecken, dem man nicht Unrecht tut, wenn man es jetzt nicht ganz in den Bereich eines wiederentdeckten Klassikers rückt. Aber ein solider Abenteuerroman ist Das Geheimnis der See doch allemal. Nicht zuletzt für die bevorstehende Weihnachts- und damit auch Geschenksaison ist Bram Stokers Text ein Tipp, der Leser*innen klassischer Abenteuerroman sicher gut unterhalten dürfte. Und auch aus bibliophiler Perspektive haben sich Übersetzer und der herausgebende Mare-Verlag mehr als nur ein lobendes Wort für ihre Arbeit verdient!


  • Bram Stoker – Das Geheimnis der See
  • Aus dem Englischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann
  • ISBN 978-3-86648-704-8 (Mare)
  • 544 Seiten. Preis: 48,00 €

Sarah Moss – Sommerwasser

Sommerurlaub – das kann eine traumhafte Angelegenheit sein. Außer man reist nach Schottland, mietet sich eine Hütte und erlebt dann tagelangen Dauerregen. So ergeht es den Urlaubern, die Sarah Moss in ihrem neuen Roman Sommerwasser porträtiert und einmal mehr ihre genaue Beobachtungsgabe unter Beweis stellt.


Schottland ist wohl nicht das erste Reiseziel, das einem in den Sinn kommt, wenn es um Sommerurlaub im herkömmlichen Sinn geht. Durchschnittstemperaturen von 15 bis 17 Grad im Sommer und wechselhaftes Klima haben wohl eher für Wanderer und Outdoorfreunde ihren Reiz denn für Familien, deren Kinder gerne die Sommertage mit Baden und Aktivitäten am Strand verbringen. Und doch hat es einige Urlauber in den Norden Großbritanniens verschlagen, die dort in einer an einem See gelegenen Feriensiedlung ihre freien Tage verbringen und auf Entspannung und Abstand vom Alltag hoffen.

Dabei macht Schottland den Klischees von kaltem und regnerischen Wetter allerdings alle Ehre und beschert den Urlaubern jede Menge Sommerwasser. Kräftige Schauer sorgen in Sarah Moss‘ neuem Roman für viel Niedergeschlagenheit und Frust anstelle von unbeschwerten Sommertagen. So sind die Urlauber gezwungen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit der Malaise umzugehen. Und dann passiert im schottischen Dauerregen auch noch eine Katastrophe. Aber alles der Reihe nach.

Mütter, Ärzte, Teenager im schottischen Dauerregen

Die schottische Autorin beginnt ihren Reigen mit dem Versuch einer Mutter, der Enge der Holzhütten zu entfliehen, indem sie morgens zu einer Joggingrunde aufbricht, um sich etwas zu sortieren und die Gedanken fließen zu lassen. Der Dauerregen sorgt für viel Anspannung im familiären Verbund und so macht sich die Frau zu einer frühmorgendlichen Runde auf, bei der ihr Bewusstseinsstrom zu fließen beginnt. Durch ihre Wahrnehmungssplitter und Gedankenfetzen entstehen erste Eindrücke der Feriensiedlung, die für sie längst zum Hort von Frustration und angespannten Nerven geworden ist.

Und los, Füße trappeln, Herz und Lunge, überrascht, arbeiten. Kaltes Wasser auf bettwarmer Haut, und warum genau macht sie das nochmal? Die Ferienanlage liegt im Schlaf, Vorhänge zugezogen, Autos voller Regenperlen. Die Blockhütten, denkt sie wieder, sind eine dumme Idee, Amerika oder vielleicht Skandinavien entliehen, jedenfalls einem Land, in dem es seltener regnet als in Schottland, wann hat man irgendwo in Großbritannien schon Gebäude aus Holz gesehen? Torf, wennschon, hier oben, Stein, wenn man hat, der verrottet nicht. Sie sehen aber nicht skandinavisch aus – nicht dass sie schon mal da gewesen wäre, aber sie hat Fotos gesehen -, sie sehen alt aus, eine unattraktive Mischung aus weich werdenden Holzwänden und billigen Plastikfenstern, die Art Gartenschuppen, die man früher oder später abreißen muss.

Sarah Moss – Sommergäste, S. 12 f.

Vor der Tür der See voller Wasser, von oben der Regen, der nicht nur die Substanz der Häuser angreift. Im Folgenden beginnt Moss einen Reigen von frustrierten Urlaubsgästen und deren Gedanken, immer wieder unterteilt von kleinen Splittern Nature Writing, die die einzelnen Episoden unterteilen (übersetzt von Nicole Seifert).

Unterschiedliche Menschen, präzise beobachtet

Sarah Moss - Sommerwasser (Cover)

So springt die Autorin etwa zu einem pensionierten Arzt, der morgens die Joggingrunde der Mutter beobachtet. Von ihm geht es beispielsweise weiter zu seiner malenden Gattin. Ein junges Pärchen beim Liebesakt, eine ukrainische Familie, die mit ihren lauten Feierorgien die Nerven zusätzlich strapaziert oder ein Teenager, der angeödet von der Monotonie dort am See kurzerhand ein Boot schnappt, um auf dem See der Enge der Hütten zu entkommen. Zwar befindet sich unweit von der Feriensiedlung noch ein Pub, inklusive WLAN-Zugang, damit hat es sich dann aber auch in der schottischen Wildnis.

Immer wieder springt Sarah Moss von Hütte zu Hütte, blickt durch die Augen eines Feriengastes und beweist damit ihr großartiges Talent zur Beobachtungsgabe und Personenzeichnung – vom Kleinkind bis zum Senior, egal ob Mann oder Frau. Innerhalb weniger Seiten entstehen präzise Zeichnungen von Charakteren, in denen Moss auch erneut das Thema der Mutterschaft und aller Einschränkungen der eigenen Bedürfnisse, die damit einhergehen, aufgreift.

Sie zeigt wie schon in ihrem Debüt Schlaflos Mütter an der Belastungsgrenze, bedingt durch Dauerregen, Enge in der Unterkunft, Kinder, die sich nicht bewegen können und Männer, die es zwar gut meinen, aber nicht unbedingt Hilfen für die Frauen sind.

Fazit

So entsteht allmählich das Bild eines Urlaubs, den sich wohl fast alle Beteiligten anders vorgestellt hätten. Dauerregen, kleine Ferienhütten die Unmöglichkeit, sich für längere Zeit mal aus dem Weg zu gehen sorgen für das Gegenteil der Entspannung, die der Sommerurlaub für alle Beteiligten doch eigentlich hätte bereithalten sollen. Hier schlagen nicht nur Wellen an den See, pladdert der Regen auf Hausdächer – auch ganz unterschiedliche Bewusstseinsströme der Figuren ergießen sich hier und ergeben ein ganz besonderes Sommerwasser. Durch die präzisen Porträts entsteht ein Figurenreigen von einem Urlaub, wie man ihn sich eigentlich nicht wünscht, einmal mehr grandios eingefangen von Sarah Moss.


  • Sarah Moss – Sommergäste
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-293-00609-6 (Unionsverlag)
  • 192 Seiten. Preis: 24,00 €

Sarah Moss – Schlaflos

Insomnia – dieser Klassiker der Band Faithless könnte auch für Anna, die Heldin von Sarah Moss‚ Roman Schlaflos, das Lied der Wahl sein. Denn ähnlich wie es Maxi Jazz, der im vergangenen Jahr verstorbene Frontsänger der Band Faithless, in deren bekanntesten Song beklagt, fehlt auch Anna der Schlaf. Ihr Leben gleicht dem einer Insomnie-Patientin, aufgerieben zwischen der Mutterrolle und akademischen Ambitionen. Und dann sind da noch diese Knochenfunde im eigenen Garten…


Eigentlich sollte man meinen, dass der Lebensmittelpunkt von Anna und ihrer Familie qua Lage fast wie von selbst für Entspannung und Konzentration sorgt. Denn zusammen mit ihren Kindern Timothy und Raphael sowie ihrem Mann Giles lebt Anna auf Colsay, einer kleinen Insel auf den Hebriden vor der Küste Schottlands.

Es ist eine raue Insel mit kärglicher Natur, auf der die Familie im Haus von Giles‘ Vorfahren, den Cassinghams, ihren gegenwärtigen Wohnsitz bezogen hat. Ein paar verlassene Hütten, Steilklippen und ein Ferienhaus, das die Familie aktuell renoviert, um darin bald Gäste begrüßen zu können. Mehr gibt es auf der Insel nicht zu sehen, in deren Geschichte wir zusammen mit Anna im Lauf des knapp 500 Seiten starken Romans eintauchen.

Ein Fund im Garten

Auslöser für die vertiefte Beschäftigung mit der Insel und der Familie ihres Ehemanns sind Arbeiten im anzulegenden Garten der Familie. Eigentlich wollte Anna zusammen mit den Kindern Obstbäume pflanzen, doch ein Spatenstich ihres Sohnes Raph fördert etwas ganz andere zutage.

Er stand auf. „Das ist kein Kaninchen, Mami. Es gibt hier keine, weißt du nicht mehr? Hat Papa gesagt. Und keine Mäuse.“

„Könnte auch ein Dachs sein. Oder vielleicht hatte hier mal jemand eine Katze. Papa wird es wissen. Hol ihn einfach, ja?

Er sah sich nach mir um, als er über die Wiese lief. Ich wartete, bis die Hintertür zu war, und wischte dann mit den Fingern die Erde von der Decke. Sie war aus Wolle, gestrickt, mit braunen Flecken. Ich kratzte am Erdreich, oberhalb von Raphaels Spatenstich, und dort, wo ich es erwartet hatte, war die eierschalenfarbene Rundung eines sehr kleinen menschlichen Schädels.

Sarah Moss – Schlaflos, S. 71

Der Fund von Babyknochen im Garten ändert alles. Denn nach der Entdeckung alarmieren Giles und Anna die lokalen Behörden der Highlands und Islands-Polizei, für die allerdings Anna als die unmittelbare Tatverdächtige festzustehen scheint. Ihre stellenweise Überforderung im Umgang mit den Kindern, das einsame Leben dort auf Colsay, all das spricht in den Augen der auftretenden Polizisten gegen Anna, die mit regelmäßigen Besuchen auf der Insel den geregelten Takt dort durcheinanderbringen.

Schlaflos in Colsay

Dabei ist verträgt das Leben von Anna überhaupt keine weitere Unruhe. Denn der Plan hinter dem Umzug auf die Hebrideninsel war eigentlich die Finalisierung von Annas geplanter Publikation über den historischen Widerspruch zwischen der Feier der Kinder und der Kindheit sowie der zeitgleichen Zunahme von Waisenhäusern und Gefängnissen. Die Arbeiten im Archiv sind abgeschlossen und nun sollte eigentlich die Schreibarbeit und der Feinschliff ihrer These im Vordergrund stehen.

Sarah Moss - Schlaflos (Cover)

Doch damit ist es nicht weit her, denn statt Arbeit an der eigenen Karriere, droht Anna an ihrer Rolle als Mutter zu verzweifeln. Ihr Mann ist so gut wie absent im Zuhause, stattdessen konzentriert er sich auf seine wissenschaftliche Arbeit, nämlich die Beobachtung der auf der Insel brütenden Papageientaucher. Während sich Raphael mit Vorliebe in apokalyptischer Themen wie den Untergang von Zivilisationen und dem Ende der Menschheit stürzt und die Nerven seiner Mutter mit technischen Fragen und Utopien strapaziert, ist es der jüngere Moth, der den strapazierten Geduldsfaden dann ein ums andere Mal zum Reißen bringt.

Denn das betreuungsintensive Kind braucht ständig Aufmerksamkeit, kann nachts nicht schlafen und verlangt ständig nach der Rezitation des Grüffelo, was in der enervierenden Absehbarkeit der allumfassenden Bedürfnisse ihres Kindes Anna an den Rand der Verzweiflung bringen – und oftmals sogar weit darüber hinaus, mit entsprechenden Konsequenzen.

Liebe ist nicht genug, wenn es um Kinder geht. So einfach ist das wohl.

Sara Moss – Schlaflos, S. 171

Überforderungen einer Mutter

Schlaflos ist ein Buch, das von der Überforderung als Mutter handelt und beispielsweise wie auch Elena Ferrantes Frau im Dunkeln der negativen Seite der Mutterschaft – beziehungsweise aufs Schlagwort verkürzt dem Thema Regretting Motherhood literarischen Raum gibt.

Das beständige Einfordern von Nähe durch das jüngere Kind, die schon fast autistische Konzentration des Älteren auf die Endlichkeit der eigenen Existenz, noch dazu die mangelnde Unterstützung ihres Mannes, dessen Mithilfe im Haushalt und der Betreuung der eigenen Kinder sie energisch einfordern oder gegen Sex ertauschen muss. Und über allem liegt die Hoffnung auf erholsamen Schlaf, der aber nur eine Wunschvorstellung bleiben wird.

All das schildert Sarah Moss ungeschönt und ehrlich durch die Augen ihrer Ich-Erzählerin Anna, die aber trotz aller Überforderung auch immer noch zu Ironie in der Lage ist, etwa wenn sie bei der Konzeption ihres Buchs trocken feststellt, dass sie in der Danksagung auch ihrem Mann Giles danken muss, auch wenn sie noch nicht weiß, wofür eigentlich.

Diese Kämpfe an verschiedenen Fronten werden durch den Schauplatz der menschenleeren Insel noch einmal verstärkt. Und wenn dann einmal weitere Figuren dort auf Colsay auftauchen, dann sind es in der ersten Hälfte des Romans doch nur Männer, die Anna erzählen, was sie in Bezug auf die Erziehung ihrer Kinder falschmacht.

Historische Parallelen

Sarah Moss ergänzt diese Erzählung um Briefe, die immer wieder die Handlung in der Gegenwart unterbrechen. In diesen Briefen schreibt eine May Moberley über ihre Zeit auf der Insel Colsay in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert, die sich mit dem Voranschreiten des Romans langsam zu einem Handlungsbogen verdrehen. Denn die Themen der Kindersterblichkeit und Vernachlässigung sind nicht nur theoretische Themen, mit denen sich Anna in ihrer Zeit in Oxford beschäftigte, ehe die Familiengründung sämtliche akademische Ambitionen in weite Ferne rücken ließ. Auch ganz praktisch vor Ort ist dieses Thema mit ihr und der Familie ihres Mann verknüpft, wovon Sarah Moss durchaus kunstvoll erzählt.

Das ist schlüssig konzipiert und erzählt – und wirft über die erzählte Gegenwart hinaus einen Blick auf überforderte Mütter, die Umstände ihrer Überforderung und das Schicksal, das sich nicht nur in englischen Kinderheimen á la Dickens sondern eben auch in abgelegenen Orten wie den Hebriden oder Färöern dutzendfach abspielte.

Ihr gelingt es in Schlaflos, das Wirken eines Kontinuums zu beschreiben, das Frauen die Emanzipation ihrer vorgesehenen Rolle in Gesellschaft oder wissenschaftlichem Betrieb erschwert und das auch Gleichberechtigung als Utopie ausweist, um die man zwar kämpfen kann, die aber weder im 19. noch im 21. Jahrhundert Realität ist – zumindest für die Frauen in diesem Roman.

Dass das Buch darüber nicht einfach bitter und niederschmetternd wird, sondern durchaus auch so etwas wie Ironie und gekonnten Fatalismus aufblitzen lässt, das zählt zu den Qualitäten dieses von Nicole Seifert ins Deutsche übertragenen Textes und den Qualitäten seiner Autorin, der ein ehrliches Buch über die Seiten der Mutterschaft gelingt, über die man sonst eher wenig liest.


  • Sarah Moss – Schlaflos
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-293-20927-5 (Unionsverlag)
  • 496 Seiten. Preis: 15,00 €