Tag Archives: Schweiz

Mary Shelley – Frankenstein

Ein Sommer ohne Sonne im Jahr 1816, eine Fünferbande in einer Villa am Genfer See – und ein Dichterwettstreit, aus dem einer der wirkmächtigsten Schauer- oder besser Science Fiction-Romane aller Zeiten hervorgeht. Das ist Frankenstein von Mary Shelley, der literarische Urvater aller mahnenden Technikgläubigkeit – und zudem ein grandioser Roman über die Einsamkeit.


Es war ein Sommer, wie ihn sich sicherlich keiner der fünf Anwesenden in der Villa Diodati vorgestellt hatte. Denn statt Baden und Ausflügen am nahegelegenen Genfer See musste man den Großteil der Zeit im Anwesen selbst verbringen. Schuld war ein Vulkan namens Tambora, der ein Jahr zuvor auf der indonesischen Insel Sumbawa ausgebrochen war – mit Auswirkungen, die auf der ganzen Welt zu spüren waren. Ernten verdorrten, Kälte und Schnee dominierten, Menschen machten sich auf die Flucht vor dem Wetter und das sogenannte „Auswandererfieber“ befiel Menschen rund um den Globus.

Viele Ereignisse, die uns heute als Ergebnis der Klimakatastrophe begleiten, zeigten sich auch in diesem Sommer. Durch einige Stadtteile von Genf konnte man sich nur noch per Boot bewegen. In England sorgten Proteste ob der hohen Getreide- und folglich auch Brotpreise für ein neues Klassenbewusstsein und die Ausbildung der Arbeiterschicht. Und Goethe klagte ob des Wetters, das ihm in einem Gedicht vom 6. Juni 1816 zur Chiffre wurde, um den Tod zu seiner Frau Christiane zu verarbeiten. Dort heißt es: „Du versuchst, o Sonne, vergebens, / Durch die düstren Wolken zu scheinen! / Der ganze Gewinn meines Lebens / ist, ihren Verlust zu beweinen.“

Extremwetter am Genfer See 1816

Auch Mary Shelley, damals noch Mary Godwin, beobachtete das extreme Wetter und hielt in ihrem Tagebuch folgende Notizen fest:

Unglücklicherweise können wir uns nicht an jenem strahlenden Himmel erfreuen, der uns bei unserem ersten Besuch dieses Landes so freudig begrüßte. Beinahe unablässiger Regen bringt uns dazu, hauptsächlich zu Hause zu bleiben […]. Die Gewitterstürme, die uns heimsuchen, sind grandioser und furchterregender, als ich es je erlebt habe. Wir sehen, wie sie von der anderen Seite des Sees herannahen, beobachten die Blitze, die in verschiedenen Himmelsregionen zwischen den Wolken tanzen und in den zerklüfteten Formationen auf bewaldeten Anhöhen des Jura einschlagen, verdunkelt von drohenden schwebenden Wolken […].

Zitiert nach: Wolfgang Behringer: Tambora und das Jahr ohne Sommer, C. H. Beck 2018

Die Zeit vertrieben sich die Gäste der Villa Diodati, darunter neben Mary Shelley auch der berühmte Dichter Lord Byron und Percy Bysshe Shelley, der spätere Ehemann Marys, mit der Erzählung von Schauermärchen. Ein Dichterwettstreit, den die junge Mary gewinnen sollte, die im Alter von gerade einmal 19 Jahren jenes Werk namens Frankenstein schaffen sollte, das bis heute die Zeit überdauert, vielfach verfilmt und in unserer Zeit des technischen Fortschritts in seiner prophetischen Prägnanz geradezu bestechend.

Schauergeschichten unter Freunden

Liest man die Zeilen aus dem Tagebuch Mary Shelleys, dann fällt die hohe Kongruenz mit Stimmung und Motiven auf, die auch ihr 1818 zunächst anonym publiziertes Werk durchdringen.

Mary Shelley - Frankenstein (Cover)

Vor allem der Blitz ist es, der immer wieder auftaucht und dem jungen Victor Frankenstein in Form eines zerstörten Baumes erstmals eine Ahnung davon gibt, welche Macht in der Elektrizität steckt. Denn zuvor war der Blitz in den Baum in den Schweizer Alpen eingeschlagen – für den jungen nach Forschung dürstenden Mann eine erste Ahnung davon, welche Kraft in der Natur steckt, wenn sie entfesselt wird.

Später wird er in Ingolstadt an der Universität so vom wissensdurstigen Leser der Schriften von Albertus Magnus und anderer alter Denker zum Praktiker. Aus Leichenteilen wird er das Monster schaffen, das er einem Golem gleich zum Leben erweckt, dann aber im Moment des Erkennens vor seinem eigenen Werk flieht.

Dieser bekannte Kern der Erzählung wird aber von einem ebenso komplexen wie durchdachten Romangerüst ummantelt. Denn Shelleys Roman setzt an einem unerwarteten Ort ein, nämlich an Bord eines Expeditionsschiffs, das unterwegs ins ewige Eis ist. Von dort berichtet ein Polarforscher in Briefen von seiner Einsamkeit, die durch die Begegnung mit einem übergroßen Wesen im Eis und wenig später der Begegnung mit einem erschöpften Mann im ewigen Eis einsetzt. Dieser entpuppt sich als Viktor Frankenstein, der dann zur Erzählung seiner Lebensgeschichte anhebt, die von dessen Aufwachsen in der Schweiz, seinem Erkenntnisdurst, dem Studium in Ingolstadt und den Folgen seiner Tat erzählt, die ihn nun an diesen Ort im Eis geführt haben.

Ein Roman mit Matroschka-Struktur

Als letzte Schicht dieser Roman-Matroschka ist es das von Frankenstein erschaffene Monster, das in Frankensteins Erzählung wiederum von seinem Leben nach seiner Erweckung erzählt. Es beschreibt seine sich ausprägenden Sinne, sein Wahrnehmen und wird schließlich auch zur Offenbarung seines größten Leids, nämlich seiner Einsamkeit, der der Wunsch erwächst, Frankenstein möge ihm eine Partnerin schaffen, auf dass er sich mit dieser der Welt entziehen möge.

Immer wieder taucht in den drei miteinander verbundenen Erzählungen die Einsamkeit auf, die von menschenleeren Schauplätzen wie den Schweizer Alpen oder dem ewigen Eis bis hin zur Erkenntnis der Figuren selbst reicht, die sich nach Gefährt*innen und Partnerinnen verzehren. Eindrücklich versteht es Mary Shelley, in ihrem Roman diese große Unbehaustheit und die Sehnsucht nach Austausch und Begegnung zu schildern.

Klug montiert fügen sich die Bilder ineinander und verweisen immer aufeinander. Für eine neunzehnjährige Frau zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine bewundernswerte Leistung – die sich allerdings auch durch einen Blick in die Vita von Mary Shelley alias Mary Godwin plausibilisieren lässt. Denn obschon sehr jung, hatte sie im Jahr zuvor ein Kind geboren, das allerdings kurz nach der Geburt starb. Diese Verzweiflung und der unbedingte Wunsch, die Kräfte der Natur zu beeinflussen, findet sich auf allen Seiten dieses Romans.

Ein zusammengestückeltes Monster – und zusammengestückelte Motive

Wie die im Roman beschriebene Figur des zusammengestückelten Monsters ist auch dieser Roman dabei selbst Amalgam. Die biblische Schöpfungsgeschichte um Adam und Eva, die Sage des Golem, griechische Mythenwelt und Goethes Faust sind Motive, sie sich allesamt in Shelleys Roman wiederfinden. Und ebenso wie das aus seinen unterschiedlichen Teilen erschaffene Monster lebendig wird und ein Bewusstsein entwickelt, so gilt das auch für Shelleys Text, der aus Vorhandenem etwas ganz Neues schafft, das in seiner Beschreibungskraft und diagnostischen Schärfe bis heute seine Wirkung entfaltet.

Denn der Versuch des Menschen, mithilfe von Technik die Natur zu überwinden und Neues zu schaffen, das sich dann allerdings nicht mehr kontrollieren lässt, ist seit der industriellen Revolution ein Zeichen der Moderne. Egal ob Atombombe, Gentechnik oder nun die KI – stets ist der Mensch bestrebt, einen Schritt weiterzugehen, alles Menschenmögliche zu versuchen und wird – noch einmal mit Goethe gesprochen – die Geister, die er rief, nicht mehr los.

Dies macht aus Frankenstein eine Lektüre, die sowohl thematisch als auch literarische immer noch ihren Reiz entfaltet und der das Kunststück gelingt, trotz des Alters von 200 Jahren, scheinbar nicht zu altern, sondern immer aktueller und relevanter zu werden. Das alles macht diesen Roman zu einem Klassiker, dem auch heute noch möglichst viele Leserinnen und Leser zu wünschen sind.


  • Mary Shelley – Frankenstein oder Der moderne Prometheus
  • Aus dem Englischen von Ursula und Christian Grawe
  • Mit einem Nachwort von Christian Grawe
  • ISBN 978-3-15-020516-7 (Reclam)
  • 344 Seiten. Preis: 10,00 €
Diesen Beitrag teilen

Steffen Schroeder – Planck

oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor

Max Planck dürfte man vielleicht noch aus dem Physikunterricht oder als Namenspate der gleichnamigen Gesellschaft kennen, die Institute für physikalische Forschungen betreibt. Welche Dramatik sein Leben zur Zeit des Zweiten Weltkriegs barg, unter anderem davon erzählt Steffen Schroeder in seiner Geschichtsstunde Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor eindrucksvoll.


An der Musik kann man sich aufrichten, hat er seinen Kindern immer erklärt. Und an der Physik. Das mit der Musik haben sie sofort verstanden. Aber was er so liebt an der Physik, hat ihn Erwin als Kind einmal gefragt.

„Die Physik“, hat er geantwortet, „versucht, uns die Welt zu erklären. Was kann es Schöneres und Beruhigenderes geben?“

Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor, S. 308

Doch was ist, wenn die unumstößlichen Grundsätze und Regeln der Physik plötzlich nicht mehr zu gelten scheinen? Wenn sich sicher geglaubte Gewissheiten auflösen, die Rationalität nicht mehr zu greifen scheint und ein ganzes Land verrückt geworden zu sein scheint? Dem spürt Steffen Schroeder in seinem Roman nach, in dem er eine ganze Reihe von Naturwissenschaftler*innen zur Zeit des Nationalsozialismus porträtiert und zeigt, wie sich der Verlust von Sicherheit und Gewissheiten auf sie auswirkt.

Die Physiker

Dabei bildet Max Planck als Titelheld den Hauptpart in Schroeders Geschichtsstunde. Beginnend im Oktober 1944 zeigt er den Nobelpreisträger im Exil. Nach den Bombenangriffen ist er zusammen mit seiner Frau Marga aufs Land nach Rogätz an der Elbe geflohen. Die Nazis erwarten sich von ihm als herausragenden Forscher ein öffentliches Bekenntnis zum Führer, doch Planck kann und will ihnen dieses Bekenntnis nicht geben.

Steffen Schroeder - Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor (Cover)

Ihn treibt der Gedanke um seinen Sohn Erwin um, der im Gefängnis in Berlin Tegel sitzt und seiner Hinrichtung harrt. Dieser hatte sich im Kreis der Verschwörer rund um Carl Friedrich Goerdeler engagiert und schon früh vor den Kriegsplänen Hitlers gewarnt. Als Intimus des früheren Reichskanzlers Kurt von Schleicher war Planck bei den Nazis eh schon nicht wohlgelitten und wurde unter Vorsitz von Roland Freisler vor dem „Volksgerichtshof“ schließlich zum Tode verurteilt.

Planck will seine Kontakte nutzen, um das Todesurteil gegen seinen Sohn in eine Gefängnisstrafe umzuwandeln. Währenddessen ist es Erwin Plancks Frau Nelly, die in der Charité unter Wilhelm Sauerbruch unermüdlich Kranke und Verletzte operiert und versorgt. Und auch in der neutralen Schweiz im sogenannten Burghölzli kümmert man sich in diesen letzten Tagen des Jahres 1944 um Versehrte – hierbei handelt es sich aber am psychisch beeinträchtigte Patient*innen, die dort in der heute unter dem Namen Psychiatrische Universitätsklinik Zürich bekannten Klinik mit teils drastischen Methoden „therapiert“ werden. Einer der Patienten: Eduard Einstein, Sohn des weltberühmten Physikers und Vater der Relativitätstheorie, der derweil in Princeton im Exil lebt und einst von Max Planck entdeckt wurde.

Widersprüche und der Verlust von Gewissheit

Um dieses Figurenensemble herum gruppiert Steffen Schroeder seine Erzählung, die die teils widersprüchlichen Figuren eindrucksvoll in Szene setzt. Einstein, der sich von seinen Frauen schnell eingeengt fühlt und in Affären stürzt und trotz aller physikalischen Hellsichtigkeit privat doch bemerkenswert verblendet ist, Sauerbruch, der als hochdekorierter Arzt von Berlin aus ins unterfränkische Amorbach reist und dabei die SS-Schergen am Wegesrand stehen lässt, Planck, dem aller Ruhm nicht nützt, um seinen Sohn aus der Haft der Nazis zu befreien und der sich zudem weigert, an der Entwicklung der „Deutschen Physik“ mitzuwirken.

Steffen Schroeders Buch ist pointiert in seiner Darstellung dieser Physiker, obschon sein Buch nicht davor gefeit ist, in manchen Erklärpassagen etwas zu theoretisch zu werden, etwa wenn er die Hintergründe zur Entdeckung der Röntgenstrahlen oder den Ebert’schen Badehosenskandal noch einmal nacherzählt.

Solche Wikipedia-artigen Exkurse bleiben aber in der Minderheit, weil sich Schroeder neben seinem Panoptikum der Physiker*innen von Lise Meitner bis zu Otto Hahn eben auch auf die Brüche im Leben seiner Hauptfiguren konzentriert. Die Verluste sämtlicher Gewissheiten und den krassen Widerspruch der Verlässlichkeit physischer Regeln und dem erratischen Treiben in den letzten Monaten des Kriegs, Steffen Schroeder arbeitet all das wunderbar heraus – vielleicht auch bedingt durch die eigene biografische Nähe zum Objekt seines Schreibens. Denn der Autor ist entfernt mit Max Planck verwandt und hat für seinen Roman viele zum Teil unbekannte Korrespondenzen und Schriftstücke des Physiknobelpreisträger gehoben und gesichtet.

So entsteht ein Buch, das neben viel Geschichtsstunde und Naturkunde eben auch Raum für die Dramen des Lebens lässt. Wie sich Erwin Planck noch einmal hinausträumt in die Welt, wie Einstein die Verfehlungen seines Lebens räsoniert oder Planck senior Rückschau auf Erreichtes und Verpasstes hält, das ist ausnehmend gut gemacht und geht nahe, ohne auf die emotionale Tränendrüse zu drücken.

Fazit

Steffen Schröder erzählt souverän und hochinteressant vom Verlust der Gewissheiten, vom Widerspruch physikalischer Sicherheiten und erlebtem Chaos und von Fehlern, vor denen nicht einmal ein Nobelpreis bewahren kann. All das verdichtet er auf die letzten Monate des Kriegs, wobei durch die Fokussierung auf sein Ensemble aus Figuren zu keinem Zeitpunkt Langeweile entsteht. Eine packende Geschichtsstunde, die die Zeit von Oktober 1944 bis zum Sieg der Alliierten in den persönlichen Biografien und Schicksalschlägen von Schroeders Naturwissenschaftler*innen noch einmal nacherlebbar werden lässt.


  • Steffen Schroeder – Planck oder Als das Licht seine Leichtigkeit verlor
  • Büchergilde Gutenberg, Artikelnummer 174367
  • 320 Seiten. Preis: 21,00 €
Diesen Beitrag teilen

Christian Kracht – Eurotrash

Das Spiel mit den Erwartungen und der medialen Öffentlichkeit beherrscht wohl kein Autor momentan so gut wie Christian Kracht. Egal ob Imperium, Die Toten oder nun eben Eurotrash. Sobald ein neuer Roman des neben Martin Suter wohl bekanntesten Schweizer Autors erscheint, gibt es kein Halten mehr. Lobeshymnen, Verrisse, energisch geführte Debatten in allen großen Feuilletons. Bei seinem neuen Buch ist das nicht anders. Gehypt seit der Ankündigung von Eurotrash in der Vorschau des Kiepenheuer-Witsch-Verlags erreichte die Spannung nun Anfang März ihren Höhepunkt. Obwohl mit einer Sperrfrist versehen, brachen fast alle großen Medien diese Frist unisono. Kracht-Porträts, ein viel kommentiertes Interview und Rezensionen, die von himmelhoch jauchzend bis zum Vollverriss alles umfassten. Kurzzeitig konnte man wieder das nostalgische Gefühl von einer wirklichen Diskussion und Literaturpräsenz in der Öffentlichkeit bekommen, wie sie früher noch häufiger war.

Apropos früher: die Nostalgie schien in der ganzen Debatte auch eine große Rolle zu spielen. Schließlich handelt es sich bei Christian Kracht ja um einen der wichtigsten Vertreter der in den 90er-Jahre zur Blüte gelangten Popliteratur. Und während außer Benjamin von Stuckrad-Barre die meisten damals gefeierten Autor*innen eher aus der öffentlichn Aufmerksamkeit verschwunden sind (empfehlenswert in diesem Zusammenhang auch die Frühjahrs-Literaturbeilage der Augsburger Allgemeinen, die sich mit der Pop-Literatur beschäftigt), ist Kracht eben immer noch präsent. Und nun ist Eurotrash nicht irgendein neues Buch, sondern die Fortsetzung von Faserland, jenem Werk, das archetypisch für die 90er und die Gattung der Popliteratur ist. Oder zumindest steht es in Zusammenhang mit diesem vor 25 Jahren erschienenen Werk, wie uns der Autor denken machen will. Und das nicht nur in puncto Rechtschreibung, die sich längst überkommener Regeln beugt.

Das Ende von Faserland, der Beginn von Eurotrash

Das letzte Wort von Faserland ist zugleich der Anfang von Eurotrash. Und so hebt das Werk mit folgender Sentenz an:

Also, ich mußte wieder auf ein paar Tage nach Zürich. Meine Mutter wollte mich dringend sprechen. Sie hatte angerufen, ich solle doch bitte mal rasch kommen, es war ganz unheimlich gewesen. Und aus Nervosität darüber hatte ich mich das gesamte verlängerte Wochenende über so unwohl gefühlt, daß ich unter starker Verstopfung litt. Dazu muß ich sagen, daß ich vor einem Vierteljahrhundert eine Geschichte geschrieben hatte, die ich aus irgendeinem Grund, der mir nun leider nicht mehr einfällt, Faserland genannte hatte. Es endet in Zürich, sozusagen mitten auf dem Zürichsee, relativ traumatisch.

Christian Kracht – Faserland, S. 11

Und da ist es wieder, jenes aufsehenerregende Debüt namens Faserland, das der Erzähler hier schon im ersten Absatz nennt. Auch ansonsten enthalten diese ersten Sätze schon alles, was im Folgenden wichtig werden wird. Die Mutter als zentrale Figur des Romans, das Reisen, die Schweiz als Handlungsort, die Verdauungsprobleme. Alles ist angelegt in diesen wenigen Sätzen, die die Anknüpfungspunkte an Krachts Debüt herstellen. Doch ist Eurotrash die Fortsetzung von Faserland? Und ist der Erzähler hier überhaupt Christian Kracht, auch wenn er behauptet, Faserland geschrieben zu haben?

Wahrheit und Fiktion

Eurotrash ist ein vertracktes Spiel mit Wahrheit und Fiktion. So erzählt Kracht von seiner Mutter, mit der er sich auf einen Roadtrip durch die Schweiz begibt. Schnell wird noch ein Bankdepot aufgelöst, die Franken in einer billigen Plastiktüte deponiert und schon kann es losgehen. Die Mutter neigt zu boshaftem Witz, übermäßigem Alkoholkonsum und einer steten Rastlosigkeit. Das Porträt, das der Erzähler von dieser Frau zeichnet, ist alles andere als schmeichelhaft, um es vorsichtig auszudrücken. Und doch widmet Kracht dieses Buch explizit seiner Frau, Tochter, Schwester und eben Mutter.

Christian Kracht - Eurotrash (Cover)

Und auch ansonsten bedient sich Kracht munter an der eigenen Familienbiographie, de er aber immer wieder bricht und ins Groteske umbiegt. Er erzählt von den Verstrickungen seiner Vorfahren in den Nationalsozialismus, von Luxusverwahrlosung, vom Aufstieg des eigenen Vaters im Springerkonzern. Gleicht man das Erzählte mit der Realität ab, finden sich immer wieder Kongruenzen, dann aber auch wieder Fantasmen und Übertreibungen. Was ist wahr, was erdacht? Was gelogen, was gut erzählt? Ist Christian Kracht Christian Kracht, auch wenn er sich im Roman sogar selbst so nennt? Eurotrash führt aufs Glatteis und nimmt viel von der Lesefreude, wäre man nur auf die Überpüfung der Realien bedacht.

Denn dieser rasant geschilderte Roadtrip im Taxi führt von Zürich nach Bern und Montreux, auf Berge, in Kommunen und in die Abgründe der eigenen Vergangenheit. Immer wieder sieht der Erzähler Kracht Nazis am Werk und erinnert damit stark an Bov Bjergs letztjährigen buchpreisnominierten Roman Serpentinen. Ist dort ein Vater mit seinem Sohn im Auto in der Berglandschaft der Schwäbischen Alb unterwegs, ist es hier eben der Sohn mit der Mutter in der Schweiz, die allerdings standesgemäß im Taxi reisen. Generell scheint in der (Schweizer) Gegenwartsliteratur der motorisierte innerfamiliäre Roadtrip zum probaten erzählerischen Mittel geworden zu sein. Man denke etwa auch nur an Tom Kummers Von schlechten Eltern.

Trügerische Sicherheiten

Doch weiter im Text mit Krachts Roman. Dieser beschränkt sich nicht nur auf die Erzählung dieses stellenweise fast surreal anmutenden Roadtrips. Auch in der Erzählung selbst sind einige kurze Erzählminiaturen eingebaut. Immer wieder verlangt seine Mutter zur Ablenkungen Geschichten, die ihr der Sohn erzählen soll, etwa dann, wenn beide in einer Seilbahn festsitzen. Dann fabuliert der Christian Kracht beispielsweise von einer ins Totalitäre gekippte Schweiz. Grotesk, manchmal nur hingeschludert sind diese Erzählungen, die eine weitere mögliche Ebene in Eurotrash hineinbringen. Nicht umsonst ist auch das Grab von Jorge Luis Borges im Roman von zentraler Bedeutung. Oftmals fühlt man sich auch hier in einem Spiegelkabinett der Realitäten und Wahrheiten.

Christian Kracht treibt ein hintergründiges Spiel mit uns Leser*innen und mit unseren Erwartungen. Und heizt damit wieder Spekulationen und Deutungen an – die dann im Feuilleton wieder aufgegriffen werden. So zeigt sich einmal mehr seine Raffinesse und seine Fähigkeiten im Spiel mit der Öffentlichkeit. Er beherrscht die Kunst, den Diskurs zu dominieren und sich dabei einer klaren Einordnung zu entziehen. Das ist eine wohltuender Gegenentwurf zu all den Autor*innen da draußen, die sich ständig selbst produzieren, ihr Schreiben erklären, jeglichen Mut zum Ambivalenten vermissen lassen.

Und auch die literarische Ebene von Eurotrash überzeugt neben all den Nebelkerzen, die Kracht so zündet. Der Blick des Erzählers ist genau, weicht auch vor Peinlichem oder Unschönem nicht zurück und treibt die Handlung rasant voran. Der Blick auf die Schweiz ist ganz eigen und changiert zwischen Heimat- und Antiheimatliteratur. Und auch die Frage nach Autofiktion oder reiner Fiktion verhandelt das Buch klug. Eines der wohl interessantesten Bücher in diesem Frühjahr, über das man vortrefflich streiten kann und das sich (genau wie sein Titel) einer eindeutigen Lesart gekonnt entzieht. Wahrlich geschickt gemacht von Christian Kracht!


  • Christian Kracht – Eurotrash
  • ISBN 978-3-462-05083-7 (KiWi)
  • 224 Seiten. Preis: 22,00 €
Diesen Beitrag teilen

Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622

„Eines der großen Tiere der Ebezner-Bank wurde ermordet“ , sagte man. Ein Mord in Verbier. Das hatte es noch nie gegeben!

Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622, S. 429

Man muss sich doch die Augen reiben bei der Lektüre von Joël Dickers neuem Roman Das Geheimnis von Zimmer 622. Ist das noch die beschauliche Schweiz, die Dicker hier schildert? Er erzählt vom Tarnen, Tricksen und Täuschen im Umfeld einer Schweizer Privatbank. Und fährt dabei eine gewaltige Menge an Budenzauber auf.


Irgendwann muss Joël Dicker genug gehabt haben von den USA als Schauplatz seiner Geschichten. Nachdem seine letzten drei Titel (Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert, Die Geschichte der Baltimores, Das Verschwinden der Stephanie Mailer) allesamt zu Bestsellern avancierten und Plätze in den Top20 der hiesigen Verkaufscharts erreichten, scheint Dicker Lust auf etwas Neues gehabt zu haben. Das betrifft sowohl die Erzählweise als auch den Schauplatz seines neuen Romans. Denn Das Geheimnis von Zimmer 622 spielt in den Schweizer Alpen zwischen Verbier und Genf.

Für seine Erzählung verwendet er dabei einen Kniff, der an Dickers ersten Bestseller erinnert. Wieder ermittelt hier ein Schriftsteller, der einem Rätsel auf den Grund gehen will. Der Unterschied zu Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert? Diesmal ist es Joël Dicker selbst, der als Ich-Erzähler ermittelt. Eine Konstruktion, die zuletzt auch etwa Anthony Horowitz für seine Krimis um den Ermittler Nathaniel Hawthorne wählte. Eine im Prinzip reizvolle Idee, die hier aber leider nicht so wirklich funktionierten mag.

Ein Mord in Verbier

Die Rahmenhandlung ist dabei schnell erzählt. Nach dem Ende einer Liason möchte Joël Dicker in einem edlen Alpenhotel im Schweizer Verbier Ablenkung finden. Doch mit dieser ist es nicht weit her. Denn kurz nach seiner Ankunft im Zimmer 623 muss er feststellen, dass es zwar ein Zimmer 621 und 621a gibt, allerdings keines, das die Nummer 622 trägt. Eine Mitbewohnerin im Hotel, die um Dickers schriftstellerischen Meriten weiß, versucht ihn in der Folge zu motivieren, hinter das Geheimnis von Zimmer 622 zu kommen. Und tatsächlich: schon bald erfahren die beiden, dass sich in jenem Zimmer ein Mord ereignet hat. Doch wer starb und warum wurde er umgebracht? Darüber fabuliert Dicker im Binnenteil der Erzählung.

Joel Dicker - Das Geheimnins von Zimmer 622 (Cover)

Er erzählt vom Schweizer Bankerben Macaire Ebenzer, dem eigentlich die Nachfolge im gleichnamigen Bankhaus (dem renommiertesten der Schweiz, so munkelt man) zugestanden hätte. Doch aufgrund einer früheren Verfehlung hat sein Vater eine besondere Art der Nachfolgeregelung ersonnen. Der Bankrat soll entscheiden. Und in diesem hat der Banker Lew Lewowitsch die Nase vorne. Jener Lewowitsch ist allerdings auch mit Macaires Gattin Anastasia verbandelt, mit der ihn eine lange Affäre verbindet.

Joël Dicker weiß, wie man eine Geschichte erzählt. Sein in den Vorgängerbüchern erprobtes Erzählkonzept der verschachtelten Erzählkonstruktion findet auch hier abermals Anwendung. So wechselt er zwischen der Rahmenhandlung um Joël Dickers Spurensuche und das Geschehen rund um das Bankhaus Ebenzer hin und her. Das ist unterhaltsam gemacht, ermüdet aber mit zunehmender Dauer des Buchs.

Immer und immer wieder wird eine Rückblende eingeschoben. Jede Figur hat ihre Geheimnisse, die stets durch eine oder mehrere Rückblenden erzählt werden. Dicker springt dabei unzählige Male in der Zeit zurück und hat sichtlich Mühe, die Geschehnisse , die zu dem Mord in Zimmer 622 führten, ausreichend sparsam dosiert in die Rahmenhandlung einzubauen.

Viel unglaubwürdiger Budenzauber

So muss er viel Aufwand treiben, um die Identität der Leiche und des Mörders in den zwischengeschalteten Sequenzen geheimzuhalten, ehe sich seine Binnenerzählung der Rahmenhandlung annähert. So ganz funktionieren mag es nicht, besonders mit zunehmender Lauflänge. Immer wieder muss Dicker Budenzauber um Budenzauber abbrennen, um das Geschehen halbwegs plausibel zu machen. Und je mehr Budenzauber er abbrennt, umso absurder wird dieses Buch.

Dies zeigt sich auch in den Figuren. Das Geheimnis von Zimmer 622 ist leider samt und sonders von Karikaturen bevölkert. Der täppische und nicht allzu helle Bankerbe, seine fremdgehende Frau, der weltläufige russische Topbanker, die grausame russische Mutter, die ihre beiden Töchter um jeden Preis in die europäische Hautevolée einheiraten will. Die an den Türen lauschende Putzfrau, die neugierige Sekretärin, der Dämlack-Cousin. Glaubwürdig ist in diesem Buch leider kaum etwas. Abgesehen davon, dass Dickers Verbier und Genf hier eher Chicago als wirklichen Schweizer Städten ähneln, sind auch die Figuren hanebüchen konstruiert.

Die Figuren sind mehr als unglaubwürdig. Ein Schweizer Bankerbe, so dämlich, tölpelhaft und weinerlich wie der völlig überzeichnete Macaire Ebenzer? Ein Bankier, der für eine geheime Organisation der Schweizer Regierung spioniert und Top-Secret-Aufträge erfüllt, derweil aber nicht mitbekommt, wie ihm seine Frau mit dem Konkurrenten Hörner aufsetzt? Und auch wenn Joël Dicker am Ende dieses voluminösen Buchs eine Erklärung hierfür liefert – glaubwürdiger wird dadurch gar nichts, im Gegenteil.

Überzeichnete und cartooneske Figuren

Ständig reißen diese Figuren in diesem Buch die Augen auf, wimmern, zetern oder sind bass erstaunt. Genauso albern wie ihre Namen (Sinior Tarnogol, Lew Lewowitsch, Macaire Ebenzer) ist auch ihr Handel. Das ist ein ums andere Mal hart an der Grenze des Erträglichen – und so manches Mal in seiner stilistischen Unbeholfenheit einfach jenseits von Gut und Böse.

„Scheiße“, raunte er [Macaire] Anastasia zu, „da ist Lewowitsch. Was treibt der denn hier?“

Anastasia hob den Blick und sah ihren Geliebten, und ehe sie es verhindern konnte, ging ein strahlendes Lächeln über ihr Gesicht. Ihr Herz schlug heftiger denn je. Sie war nur noch verliebter. Sie himmelte ihn an, er war schöner, aufrechter, mächtiger als all diese Männer um ihn herum, aus denen er herausstach. Sie fühlte sich lebendiger in seiner Gegenwart. Plötzlich sah sie ihn wieder so vor sich wie vor sechzehn Jahren, am Wochenende ihrer ersten Begegnung.

Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622, S. 208

Konnte mich Dicker mit diesen schon zuvor manchmal recht einfach gezeichneten Figuren im amerikanischen Umfeld noch überzeugen – auf Schweizer Boden wirkt das leider nur noch künstlich und cartoonesk. So bleibt trotz des routiniert konstruierten Erzählwerks ein Buch, das aufgrund seiner Überzeichnung und teilweise stilistischen Holprigkeiten nicht überzeugen kann.


  • Joël Dicker – Das Geheimnis von Zimmer 622
  • Aus dem Französischen von Michaele Meßner und Amelie Thoma
  • ISBN 978-3-492-07090-4 (Piper)
  • 624 Seiten. Preis: 25,00 €

Ergänzende Informationen zum übrigen Werk von Joël Dicker

Wer sich trotz dieses wirklich grottigen Unterhaltungsroman weiter mit den Werken Joël Dickers beschäftigen möchte, dem seien seine früheren Bücher empfohlen, die allesamt in den USA spielen. Wohl am besten (und auch in Form einer Serie adaptiert) ist das deutschsprachige Debüt von Joël Dicker: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert. Ein süffiger Roman über einen Schriftsteller in der Kreativitätskrise, der über seinen eigenen Mentor zu recherchieren beginnt, nachdem auf dessen Grundstück die Leiche eines vor Jahrzehnten verschwundenen Mädchens auftaucht. Schon hier kommt die verschachtelte Erzählweise des Autors zum ersten Mal zum Tragen, da hier ja ein Schriftsteller von einem Schriftsteller erzählt, der über einen Schriftsteller recherchiert. Was in der Theorie kompiziert klingen mag, entpuppt sich dann als spannendes und unterhaltsam komponiertes Werk, das mich für Dicker sehr einnahm.

Continue reading
Diesen Beitrag teilen

Charles Lewinsky – Der Halbbart

Von der Verführbarkeit der Massen, von Kriegstraumata und vom Leben in der Schweiz im 14. Jahrhundert erzählt Charles Lewinsky in seinem neuen Roman Der Halbbart. Ein gelungener historischer Roman mit einer ebenso gelungenen Erzählperspektive, nämlich der eines kleinen Kindes, das das Geschichtenerzählen liebt.


Man mag Martin Ebel nicht widersprechen, wenn er in seinem Zitat auf dem Buchrücken Charles Lewinsky den vielseitigsten Schweizer Schriftsteller nennt. Denn der 1946 geborene Autor macht sich tatsächlich die Mühe, für seine Bücher immer eine eigene Sprache zu entwickeln. So war es in seinem letzten Roman Der Stotterer beispielsweise eine stark von der Bibel beeinflusste Prosa, die in Form eines Brief- und Bekenntnisromans dargeboten wurde.

Und auch seine Plots kreisen meist um verschiedene Themen. So erzählte er in Melnitz eine jüdische Familiensaga (die im kommenden Jahr ebenfalls bei Diogenes noch einmal neu aufgelegt wird), beschrieb in Gerron die fiktive Biographie eines jüdischen Filmstars oder in Kastelau die Geschichte eines Filmdrehs zur Zeit des Dritten Reichs.

Zurück ins 13. Jahrhundert

Nun hat er sich in Der Halbbart einer völlig neuen Thematik zugewandt. Er erzählt einen historischen Roman, der weit zurückspringt in die Geschichte der Schweiz, genauer gesagt ins 14. Jahrhundert. Den Hintergrund des Romans bildet der sogenannte Marchenstreit. Beginnend um 1100 stritten hier die Mönche des Klosters Einsiedeln, bzw. deren Schutzherren und die Bevölkerung des Örtchens Schwyz um die Vorherrschaft . Der Konflikt zwischen den Parteien schwelte schon Jahrzehnte und hatte schon verschiedene Höhepunkte wie Exkommunikation, Drohbanne und Streitschlichtungen erreicht, ehe wir mit Sebi mitten hinein in den Konflikt geworfen werden.

Charles Lewinsky - Der Halbbart (Cover)

Dieser wächst zusammen mit seinen Brüdern Poli und Geni vaterlos in einem kleiner Schweizer Weiler heran. Von seiner Umgebung wird er aufgrund seiner schwächlichen Konstitution nur als Finöggel belächelt. Der Dorfbenjamin unterstützt den Totengräber und muss schon bald festellen, dass der Tod allgegenwärtig ist. Seine Mutter verstirbt und so wird er als Waise von seinen Brüdern ins Kloster geschickt. Sebi, eigentlich Eusebius, erlebt so die Klostergemeinschaft, der er nur wenig abgewinnen kann. Er verlässt die Brüder bald, um in sein Heimatdorf zurückzukehren.

Bei allen Turbulenzen, die sein Leben für ihn bereithält, findet Sebi im Halbbart eine Art väterlichen Freund. Dieser Halbbart ist ebenfalls ein Außenseiter im Dorf. Dem Scheiterhaufen entkam er einst nur knapp, seitdem zieren entstellende Brandnarben und eben nur ein halber Bart sein Gesicht. Der Halbbart stellt sich als sehr intelligenter Mann heraus, ein Forscher, ein an der Heilkraft der Natur interessierter Mensch. Auch wenn die Epoche der Aufklärung noch weit entfernt ist – im Halbbart lässt sie sich schon vorausahnen. Für Sebi bedeutet der Halbbart Orientierung im Leben und die Gewissheit, dass er seinen eigenen Weg gehen darf, fernab der Erwartungen anderer an ihn.

Von Kriegstraumata und der Verführbarkeit der Massen

Mit dem Ich-Erzähler Sebi hat Charles Lewinsky eine kluge Erzählentscheidung getroffen. Denn die Themen, von denen Lewinsky hier erzählen will, werden durch den kindlichen, aber nicht unklugen Blick Sebis verstärkt und entfalten eine ganz eine Wirkung.

So erzählt uns Sebi davon, wie sein Onkel Alisi nach seinem Kriegsdienst in Italien als Söldner zurück nach Hause kehrt. Ohne, dass es Sebi groß aussprechen muss, wird offenbar, wie die Kriegstraumata in den Landsknechten fortwirken, und welche Auswirkungen die nicht aufgearbeiteten Kriegserlebnisse der Krieger für die Dorfbevölkerung haben. Über die Geschichte des Halbbarts fließt auch das Thema der Verführbarkeit der Massen und die Wankelmütigkeit der Menschen in das Buch ein. Wenn der Halbbart Sebi seine Geschichte erzählt, wie er verbrannt werden sollte, am Pranger der Lächerlichkeit preisgegeben wurde oder im Lauf des Buchs vor Gericht landet, dann ist das gerade durch die naive Erzählweise Sebis besonders wirkmächtig.

Dieser Effekt, den schon Günter Grass für seinen Erzähler Oskar Mazerath in Die Blechtrommel zu nutzen wusste, er funktioniert auch hier wieder.

Sebis Blick auf die Welt ist ein origineller, der aber auch das soziale Leben im Dorf und die Psychologie der Menschen gnadenlos demaskiert. Wenn uns Sebi etwa erzählt, wie er Zeuge an einem Überfall der Dorfbewohner auf das Kloster Einsiedeln ist, dann hat das eine Wucht und zeigt das vermeintlich ferne, dunkle Mittelalter hier dann wieder plötzlich ganz nah. Nicht nur dieses Pogrom oder die Suggestion der Massen ist ein Thema, das trotz des zeitlichen Kontextes im Buch durch die Erzählkunst Lewinskys fast zeitlos wirkt.

Die Kunst der Sprache

Apropos Erzählkunst: man kann Charles Lewinsky für seine Bemühung um sprachliche Originalität nur Respekt zollen. Denn weg vom Stotterer im letzten Buch gibt es hier schon wieder eine originelle Erzählstimme zu bewundern. Der Sound in Der Halbbart ist von der kindlichen Erzählperspektive geprägt, die sehr stimmig ist. So stellt Sebi beispielsweise fest, dass seine Mitmenschen bei Rührung oder Trauer plötzlich „Augenwasser“ haben.

Auch ist die Sprache von Helvetismen durchsetzt, die eine Erinnerung an die damalige Sprache wecken. Man muss sich auf diese Erzählweise einlassen, die eng am mündlichen Erzählen orientiert ist. Spätestens nach ein paar Dutzend Seiten hat sich aber der erzählerische Reiz entfaltet und entwickelt auch großen Witz, etwa wenn Sebi mit ganz eigenen Sprichwörtern die Realität ins Auge fasst:

Außerdem, das hat sich dann später herausgestellt, war ihr Plan nicht wirklich geheim geblieben; daran waren sie selber schuld, weil sie das Maul nicht hatten halten können. Mir hat ja auch keiner was gesagt, und ich hab trotzdem von dem Überfall gewusst; wenn alle Hühner gleichzeitig anfangen zu gackern, fragt sich auch der dümmste Bauer, was da wohl für Eier gelegt werden.

Lewinsky, Charles: Der Halbbart, S. 440

Eine Hymne auf das Erzählen

Generell ist das Erzählen ein großes Thema des Buchs, sowohl in der Erzählform als auch in Figuren und Handlung. Eine dieser zentralen Figuren etwa ist das Teufels-Anneli, die in den dunklen Wintermonaten übers Land zieht, um in den Häusern der Dorfbewohner gegen Kost und Logis zu erzählen. Sebi selbst wird später zu ihrem Lehrburschen und präsentiert am Ende des Buchs sein erzählerisches Meisterstück, das den Ausgang der Legende um die Schlacht am Morgarten bildet. Und so ist die Bemerkung im Klappentext auch nicht falsch, wenn diese behauptet, dass Lewinsky davon erzählt, wie aus Geschichten Geschichte wird.

Und auch Charles Lewinsky selbst beweist in Der Halbbart einmal mehr seine Klasse als Geschichtenerzähler. Wie er das Leben im Dorf schildert, wie er Sebi zum Leben erweckt und wie er fabulierfreudig seinen Erzählbogen über fast 700 Seiten spannt, ohne ihn reißen zu lassen, das zeugt von hoher Kunst.

Fazit

Dass die Jury Charles Lewinsky für den Deutschen Buchpreis nominiert hat, ist mehr als nachvollziehbar. Ähnlich wie in Christine Wunnickes Die Dame mit der bemalten Hand ist auch hier ein Buch zu entdecken, dass einen ganz eigenen Zugriff auf historisches Erzählen bietet. Fernab aller erzählerischer Dutzendware gelingt Charles Lewinsky ein originelles Buch. Eines, bei dem Erzählperspektive und Themen überzeugen. Eine Hommage ans Geschichtenerzählen und ein wirklich starker (historischer) Roman.


  • Charles Lewinsky – Der Halbbart
  • ISBN 978-3-257-07136-8 (Diogenes)
  • 688 Seiten. Preis: 26,00 €

Diesen Beitrag teilen