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Auf Murmeljagd

Gibt es einen schlechten Zeitpunkt, um ein Buch über die Schrecken des Dritten Reichs zu veröffentlichen? Offensichtlich ja, wie der Fall Ulrich Becher zeigt. Er entschied sich nämlich, sein Opus Magnum, den 700-seitigen Roman Murmeljagd, 1969 zu veröffentlichen. Ein Buch, das sich mit Flucht, Terror und Menschenjagd auseinandersetzt – das aber kaum jemand lesen wollte. Die 68er-Bewegung hatte ihre Wirkmacht noch nicht entfaltet, die Ohrfeige Kurt Georg Kiesingers durch Beate Klarsfeld lag gerade einmal ein Jahr zurück. Sich literarisch mit den Schrecken der Jahre 33-45 auseinanderzusetzen, das stand für die damalige Gesellschaft noch nicht wirklich auf dem Programm, die Phase der Exilliteratur war schon vorbei.

Und so blieb auch Ulrich Becher mit seinem Buch der Erfolg und die Aufmerksamkeit verwehrt. Ein Status, der sich bis heute nicht wirklich geändert hat. Ulrich Becher? Eher kennt man noch Johannes R. Becher, expressionistischer Dichter und Schöpfer der DDR-Nationalhymne. Aber Ulrich Becher? Dieser Name lässt wohl höchstens bei Germanisten und eingefleischten Literaturkenner*innen die Glocken läuten, wie auch Eva Menasse in ihrem Nachwort zur Neuauflage der Murmeljagd bemerkt.

Schon einmal wagte Schöffling im Jahr 2010 eine Neuauflage dieses apokryphen Klassikers. Nun, zehn Jahre später gibt es wieder einen Versuch, Bechers Buch dem geneigten Publikum nahezubringen. Diesmal publiziert der Verlag zudem auch noch die New Yorker Novellen, die zwanzig Jahre vor der Murmeljagd entstanden. Ähnlich wie im Falle Gabriele Tergits oder Jens Rehns versucht Schöffling auch hier eine Wiederentdeckung eines Buch, das in einer gerechten Welt ein Klassiker der deutschsprachigen Literatur geworden wäre – und das bei allen Schwächen, die dem Buch auch zweifelsohne innewohnen.

Albert Trebla wird gejagt

Held von Bechers monumentalen Roman ist der Jagdflieger Albert ***, der sich in seiner Funktion als Journalist den Palindromnamen Albert Trebla zugelegt hat. Im Ersten Weltkrieg diente er als Aufklärungsflieger. Bei einem seiner Einsätze kam er einem feindlichen Flugzeug zu nahe, sodass er einen Kopfschuss kassierte. Nach einem Lazarettaufenthalt hilft ihm nur noch Ephedrin, um den oftmals pochenden Schmerz der Stirn zu betäuben.

Ulrich Becher - Murmeljagd (Cover)

Jener Trebla hat dem Krieg abgeschworen, er ist zum linken Journalisten geworden. Doch nun, zwanzig Jahre nach seinem Abschuss über den Wolken, dräut der Zweite Weltkrieg am Horizont. Die Nazis haben die Macht übernommen, Säuberungswellen und Gleichschaltung bedrohen Menschen wie Trebla. Und so entkommt er mithilfe eines waghalsigen Skimanövers über Vorarlberg in die Schweiz. Den SS-Patrouillen entgeht er nur um Haaresbreite. Dort in der Schweiz wartet seine Frau Xane auf ihn.

Da er unter dem tückischen Heufieber leidet, ist eine Tarnung kein Problem. Er zieht sich als Hotelgast zur Heufieberkur ins Engadiner Oberland zwischen Pontresina und Sils Maria zurück. Dort, in der abgeschiedenen alpenländischen Bergwelt möchte er zur Ruhe kommen. Doch damit ist es nicht weit her. Denn das Engadin wird von einer Reihe merkwürdiger Selbstmorde erschüttert. Immer ist es Trebla, der sich in unmittelbarer Nähe der Suizidanten befand. Zudem begegnet Trebla merkwürdigen Hotelgästen, die sein Misstrauen wecken. Sind es wirklich harmlose Murmeltierjäger, die im ladinischen Gebirge umhersteigen? Oder ist Trebla selbst das Murmeltier, auf das Jagd gemacht wird?

Engadiner Gestalten

Wie es sich anfühlt, wenn man aufgrund seiner politischen Einstellung zur unerwünschten Person und zur gejagten Figur wird, davon weiß Ulrich Becher eindrücklich zu berichten. Changierend zwischen bedrohlicher Stimmung und Komödiantentum, zwischen Tod und Kalauer durchlebt sein Trebla ein wahres Wechselbad der Gefühle. Zusammen mit seiner Frau begegnet er höchst skurrilen Gestalten, die Bechers Engadin bevölkern. Ein Cocker Spaniel-züchtender und dem Alkohol fröhlich zusprechender Landanwalt, genannt Avoccato Wau Wau. Ein ehemaliger irischer Jockey. Ein Berliner Schlossbesitzer, ein Arzt namens Dr. Pompejus Tardüser. Dieser Roman ist voller Figuren, die auf mysteriöse Art und Weise aus dem Leben scheiden oder bei denen lange nicht klar ist, was sie Trebla so wollen.

Dieser hetzt fiebrig durchs Engadin, immer mit Druck auf der Brust und der dräuenden Gefahr im Nacken. Dabei entstehen Szenen, die man nach dem Lesen nie wieder vergisst. So erzählt Becher vom brutalen Umgang der Schergen im KZ, vom Todesritt eines vormals weltbekannten Clowns in die Elektrozäune des KZ Dachaus oder dem brutalen Tod von Treblas bestem Freund, einem Wiener Arzt, durch jugendliche Nazischergen in einem Viehwaggon. Diese Bilder, die Becher in Murmeljagd zeichnet, sind von einer unfasslichen Wucht. Ihm gelingt in diesem Buch einer Meisterwerk der nuancierten Stimmungen, die von dramatischen Todesfällen bis zu schwarzem Humor reicht. Da stören auch die paar erzählerischen Volten, die das Buch beständig schlägt, nicht wirklich.

Und damit ist der wichtigste Punkt, der dieses Buch eigentlich kanonwürdig macht, noch gar nicht angesprochen. Es ist der Punkt der Sprache. Beziehungsweise der der Sprachgewalt. Denn Murmeljagd ist zuvorderst ein Sprachmeisterwerk im Guten wie im Schlechten. So ist die Erzählweise Bechers mit dem Adjektiv expressionistisch noch kaum erschlagen. Es ist ein Buch, das knallt, das explodiert, das sprüht, das fordert, oftmals auch überfordert und das zeigt, wozu Sprache im Stande ist.

Ein Meisterwerk der Sprache

Die größte Hürde dürften dabei schon die ersten Seiten sein, zumindest mir erging es so. Was da über die Seiten purzelt, könnte so manch eine*n veranlassen, das Buch wieder zuzuklappen und wegzulegen. Und das wäre ein Fehler. Denn Ulrich Becher zeigt hier über 700 Seiten, wie vielfältig Sprache ist, wie sie eine Geschichte bereichern und veredeln kann. Denn die Virtuosität des Meisterschülers von Georg Grozs ist unerhört. Eine Virtuosität, die manchmal auch nerven und überfordern kann, wie auf den ersten Seiten dieses Romans. Manchmal wirkt Becher wie ein naseweises kleines Kind, das alles zeigen will, was es kann. Da stecken Seiten voller Fix Laudon!, ausgeschriebener Ja-Jotts, Ka-Zetts und Ess Ess, die Charaktere geben sich häufig unterschiedlichste Kosenamen, sämtliche Dialekte werden ausgeschrieben, egal ob österreichisch, berlinerisch oder schweizerisch.

Dann gelingen Becher auch wieder Passagen, die man einfach nur bewundern kann, so etwa wie diese.

Der Berge Elefantengrau hatte mittlerweile einen Malventon angenommen, aber vom Berninapass herüber züngelte Homers „Rosenfinger der Frühe“. Spielten auf einem Firnzipfel Piz Palü, indes überm Rosatscheine formlose Ampel schwebte, der zur Sichel geschrumpfte Junimond verwischte hinter einer Federwolke, seit Tagen der erste überm Hochtal. Kein Kuhglockenklimpern, kein Vogelzwitschern, Verhallen zweier Schläge von der Pfarrkirche her, halb vier, eines schläfrig-heisern, fast grunzenden Hahnenschreis, der ohne Antwort blieb. Trotz des lästigen Tocketocke – ohne es wäre die Stille beispielslos geweisen – rührte ich mich nicht von der betonierten Stelle, als er herangetragen wurde, der unwirklich sachte Pfiff.

Becher, Ulrich: Murmeljagd, S. 581

In einer Zeit, in der viele Bücher in einer uniformen und austauschbaren Sprache geschrieben scheinen, ist Murmeljagd ein Buch, das zeigt, wie das auch aussehen könnte, mit spannender Sprache. Die Vielfalt, die in diesem Buch steckt, ergäbe genug Material für ein ganzes dutzend spannender Forschungsprojekte (an dieser Stelle sei auch auf das mehr als hilfreiche Online-Projekt zur Murmeljagd von Dieter Häner hingewiesen).

Neugier und Wille zu Bechers Stil ist vonnöten

Natürlich ist Ulrich Bechers Buch eines, das viele Leser*innen überfordern dürfte. So etwas wie Entspannung und Zerstreuung findet sich hier nicht, zu fordernd ist der Stil, zu düster das Thema. Auch erklärt sich so der Status des Buchs, den die Murmeljagd bis heute besitzt.

Wer sich aber auf dieses Wagnis der Jagd einlässt, bekommt es mit einem der außergewöhnlichsten Bücher der jüngeren deutschen Literatur zu tun. Und nicht zuletzt ist auch die Figur des Ulrich Bechers auch eine hochgradig faszinierende. Schließlich zählt er zur Garde der Exilautoren, er war der jüngste Schriftsteller, dessen Werke von den Nazis 1933 verbrannt wurden. Sein Leben und sein heute fast vergessenes Werk verdienten auf alle Fälle einer Wiederentdeckung.

Schön dass Schöffling nun noch einmal von Eva Menasse sekundiert einen Versuch für dieses Werk startet. Denn die Murmeljagd hat es verdient. Hier gilt auf alle Fälle: wer wagt, der gewinnt. Sieht auch die geschätzte Birgit Böllinger vom Blog Sätze & Schätze so.

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Simone Lappert – Wurfschatten

Simone Lappert sollte eigentlich schon im letzten Jahr hier auf dem Blog einen Platz bekommen. Damals las ich ihren Roman Der Sprung, der als Spitzentitel im Diogenes Verlag erschien. Doch zu einer Rezension kam es nicht, da mir ein Ansatzpunkt für die Besprechung fehlte. Schnell gelesen und relativ schnell wieder vergessen, in diese Kategorie fiel für mich das Buch. Nette Lektüre, ganz gut gemachte Unterhaltung mit einem kleinen Schwachpunkt, nicht mehr und nicht weniger.

Simone Lappert - Der Sprung (Cover)

Ein Buch, das sich im Buchhandel gut verkaufte, viele wohlmeinende Leser*innen und Buchhändler*innen für sich einnahm und als Empfehlungstitel zu einem veritablen Erfolg gelangen sollte. Nur in meinen Augen nichts, das einer vertieften Analyse hier auf dem Blog bedurfte.

An meinen Kritikpunkt an Lapperts Buch fand ich mich nun erinnert, als ich im letzten Supplement der Zeit zur ausgefallenen Leipziger Buchmesse blätterte. Jens Jessen schrieb darin über den neuen Roman von Pascal Merciers namens Das Gewicht der Worte folgende Zeilen:

Glücklicherweise sind [die Figuren] allesamt polyglott und wechseln mühelos zwischen dem Italienischen, Französischen und Englischen (…). Das Einzige, was die Übersetzer, die Autoren und Verleger einschließlich ihrer wenigen branchenfremden Freunde niemals wechseln, ist der Modus ihrer Rede. Alle diese wunderbaren Menschen sind auf wunderbare Weise immer der gleichen Meinung. Sie benutzen auch die gleichen Wörter, um diese Meinung zu formulieren, sie haben die gleichen Empfindungen und das Entzücken, das die eine Figur angesichts einer bestimmten Durchsage in der Londoner U-Bahn fühlt, kann leicht viele Hundert Seiten später von einer anderen Figur genauso artikuliert werden. Das „Gewicht der Worte“ mag erheblich sein, ist aber jedenfalls nichts Individuelles.

Jessen, Jens: „Monumentale Biederkeit“ in Zeit Literatur No 12, März 2020

Vom Fehlen der Individualität

Dieses Fehlen von Individualität war es, das mich tatsächlich auch in Der Sprung störte. Darin erzählt Lappert aus der Sicht einer Vielzahl von Figuren von einer Frau, die auf dem Dachfirst eines Hauses steht und kurz vor dem Sprung zu stehen scheint. Dieses außergewöhnliche Ereignis beeinflusst das Leben aller Figuren, von denen Simone Lappert erzählt. Nur – all diese Figuren reden und denken gleich. Wie auch bei Mercier fehlt ihnen literarische Eigenständigkeit. Das Unterhaltungspotenzial dieses Romans wird dadurch kaum geschmälert, ich hätte mir hier allerdings mehr Ausgestaltung durch literarische Tiefe gewünscht.

Simone Lappert - Wurfschatten (Cover)

Nun liegt im Diogenes Wurfschatten vor. Es handelt sich hierbei allerdings um kein neues Buch der Schweizer Autorin. Vielmehr ist Wurfschatten das Debüt Lapperts, das vor sechs Jahren im Metrolit-Verlag erschien. Doch der Verlag ging insolvent und so schnappte sich Diogenes die Recht, um das Buch nun als Taschenbuch auf den Markt zu bringen.

In diesem Buch konzentriert sich Simone Lappert auf eine Figur, in deren Leben wir zu Gast sind. Es handelt sich um Adamine, genannt Ada. Als Schauspielerin schlägt sie sich mit einem Engagement bei einer Krimidinner-Revue namens Mord an Bord durch. Durch die Veruntreuung ihres Vermögens durch einen Regisseur befindet sich ihr Konto schwer in den Miesen. Auch ihr Mietverhältnis ist ebenso prekär, ständig ist sie mit der Zahlung für ihre Wohnung im Verzug, die sie mit zahlreichen Fischen bewohnt.

Die Fische vermitteln Ada Ruhe und spenden ihrer Seele Trost. Denn die Schauspielerin leidet unter diversen Angsstörungen und Panikattacken.

Ada hob ihren Arm unter der Decke hervor und zeigte auf ihre Tätowierung, (…) sie erzählte, dass sie Angst vor ihrem eigenen Körper hatte, Angst vor Erdbeben, vorm Ersticken, vorm Erschlagenwerden, Angst vor einer Herzattacke, Amokläufen, Spülmittelrest, vor Lebensmittelvergiftungen, Lungenkrebs, Autobahnen, vorm Fliegen, vor dem eigenen Gasherd, dem eigenen Föhn.

„Und wenn sie da ist, die Angst“ sagte sie, „dann zittert alles was ichsehe, alles verwackelt, es ist ein Selbstauslöser, den ich nicht steuern kann, ich weiß nicht einmal, wann das ales angefangen hat. Es ist, als hätte ich schon immer einen Wackelkontakt zur Welt“

Lappert, Simone: Wurfschatten, S. 231

Katastrophe oder Therapie, das ist hier die Frage

Da ihr Mietverhältnis ebenso prekär wie die Lage ihres Kontos ist, greift ihr Vermieter kurzerhand zu radikalen Mitteln. Er setzt ihr Juri vor die Nase. Dieser Juri ist der Enkel ihres Vermieters und soll sich nun die Wohnung mit ihr teilen. Ein Konzept, das ebenso scheitern wie heilsam für Ada sein könnte. Denn Juri ist ganz anders als Ada, deren Routine von ihren Ängsten diktiert wird.

Wie in einem Experiment beobachtet Simone Lappert und damit auch wir als Leser die Situation, die sie geschaffen hat. Wie reagieren die beidene Charaktere miteinander? Anziehung oder Abstoßung? Katastrophe oder Therapie? Das ist in Wurfschatten die Frage.

Ihre Figuren erobern sich immer wieder neue Räume, besetzen diese oder lernen mit Verlusten zu leben. Da werden Fische in Badewannen gesetzt, Kresse in sämtlichen Räumen der Wohnung gesät, Umzugskisten mit altem Plunder auf die Straße gestellt. Immer ist etwas in Bewegung, statisch wie Schatten sind hier weder Räume noch Beziehungen.

Ihre Erzählung kleidet Simone Lappert in eine Sprache, die zwar nicht durch Innovation oder herausragende Kreativität aufzufallen vermag. Für ihr Thema ist ihre Sprache allerdings angemessen, manchmal gelingen ihr innovative Vergleiche oder gut formulierte Beobachtungen, die dieses Debüt adeln.

Fazit

Wurfschatten ist ein Buch über Ängste und Möglichkeiten, diesen zu begegnen. Trotz des schweren Themas ist Wurfschatten nicht beschwerend, sondern durchaus auch heiter und schwebend erzählt. Sprachlich leicht überdurchschnittlich und mit einigen schlau gewählten Motiven erzählt das Buch von Ängsten und dem Bereitmachen für Neues. Ein gutes Debüt einer jungen Schweizer Stimme.

  • Simone Lappert – Wurfschatten
  • 240 Seiten, ISBN 978-3-257-24525-7
  • Preis: 12,00 € (D)
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Stefan Zweig – Der Amokläufer

Episode am Genfer See

Topalian&Milani hat es wieder gemacht. Der unabhängige Verlag aus Oberelchingen legt den nächsten herausragend gestaltete Novellenband aus dem Schaffen Stefan Zweigs vor. Ästhetischer Genuss und packendes Leseerlebnis in Einem.


Wer Stefan Zweig für einen überkommenen Schriftsteller hält, der uns heute nichts mehr zu sagen hat, der sieht sich schon im Vorwort des Buchs entschieden eines Besseren belehrt. Denn dieses Vorwort ist ein Vortrag namens Die geistige Einheit Europas, den Zweig am 27. August 1936 in Rio de Janeiro hielt. Darin äußerte sich der überzeugte Europäer mit folgenden Worten, die heute aktueller denn je erscheinen:

Die geistige Einheit unserer Welt?? Welch ein absurdes Thema! Spreche ich da nicht über ein Phantom? Existiert sie wirklich? Hat sie existiert? Wird sie je realisierbar sein?

Leider, ich gestehe es, ist nicht mehr sichtbar im gegenwärtigen Augenblick, diese moralische Einheit unserer Welt – im Gegenteil, selten war die Atmosphäre der Welt (insbesondere unseres alten Europas) so vergiftet von Misstrauen, Uneinigkeit und Angst. Mit Unruhe nimmt man jeden Morgen die Zeitung zur Hand, mit einem Seufzer der Erleichterung legt man sie nieder, wenn nichts besonders Gefährliches sich ereignet hat (…). Das Misstrauen gegen die Nachbarn ist heute bei vielen Völkern und gerade den kultiviertesten nach und nach zu einer theologischen Erscheinung geworden, überall schließen sich die Grenzen ängstlich ab (…).

Zwei, Stefan: Die geistige Einheit Europas in Zweig, Stefan: Der Aokläufer, S. 5

Man könnte meinen, Stefan Zweig würde heute die Separationsbewegungen, den Brexit, den Rechtsdrift und das Erstarken des Populismus auf dem europäischen Kontinent zusammenfassen und beschreiben. Dabei sind seine leider immer noch gültigen Worte doch schon über 80 Jahre alt.

Ein hellsichtiger Analyst

Zweig erwies sich ja stets als sehr hellsichtiger Analystik von Zeit und Gesellschaft. Seine Erzählungen und vor allem seine Autobiografie Die Welt von gestern zeugen davon. Häufig durchzieht ein Gefühl von unwiderbringlichem Verlust, Melancholie und Nostalgie seine Erzählungen, die man auch als präzise politische Kommentare lesen kann.

Sinnig von Herausgeber Florian L. Arnold zusammengestellt sind die im Buch vereinten Novellen Der Amokläufer und Episode am Genfer See. Sie rücken beide Menschen ins Zentrum, die auf der Flucht sind. Mal sind es erlebte Geschichten, die sie nicht loslassen, mal der Krieg, der sie vor sich hertreibt. In klarer, eleganter Sprache setzt Zweig die beiden unterschiedlichen Erzählungen in Szene.

So dreht sich die Geschichte in Der Amokläufer um einen Arzt, der einem anderen Schiffspassagier auf einer Überfahrt seine Geschichte erzählt. Und in Episode am Genfer See ist man Gast in einem kleinen Dorf an ebenjenem Genfer See. Fischer entdecken eines Morgens auf einem Floß einen verwilderten Mann, dessen Geschichte unter den Dorfbewohnern Diskussionen auslöst. Wie mit dem offensichtlichen Flüchtling verfahren? Humanität walten lassen oder amtliche Wege beschreiten? Ähnlich wie unsere Gesellschaft heute scheint auch das Dorf mit dem Schicksal eines Geflüchteten nicht wirklich umgehen zu können

Doch nicht nur die Erzählungen sind große Kunst – auch die Gesamtgestaltung dieses Bandes ist es. Der Weg, der mit dem ersten Novellenband eingeschlagen wurde, wird hier konsequent weitergegangen. Diesmal stammen die Illustrationen von Michael Hahn, der für die beiden Erzählungen zwei ganz unterschiedliche Stile gefunden hat.

Zudem ist das Buch neben den beiden vorangesetzten kurzen Texte Zweigs auch mit mit schönem Vorsatzpapier, einem Nachwort von Herausgeber Arnold und einem Quellenverzeichnis versehen. So geht vorbildliche editorische Arbeit, die das Bibliophile nicht vergisst.

Ein echter Band für Zweig-Liebhaber und für Freunde gut gestalteter Bücher. Zeitlose Prosa in hervorragender Gestaltung!

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Martin Suter – Elefant

Ein Elefant im Schweizer Land

Elefanten werden in der Schweiz gemeinhin ja eher wenig gesichtet. Die Erscheinung, die nun der Obdachlose Schoch in seiner Höhle am Ufer der Limmat hat, ist aber mehr als außergewöhnlich: ein kleiner rosa Elefant steht plötzlich in seiner Behausung und dieser leuchtet obendrein auch noch in der Nacht. Auch der Verzicht auf den obligatorischen Fusel hilft da nicht weiter – der Elefant will einfach nicht verschwinden. Wie dieser rosa Miniaturelefant in Schochs Höhle fand, davon erzählt der neue Roman des Schweizer Romanciers Martin Suter.

Auslöser für die Ereignisse, die Schochs Leben und auch das vieler weiterer Charaktere nachhaltig verändern, sind die Genversuche des Schweizer Genforschers Roux. Dieser will für einen Auftraggeber aus Fernost die Idee der Glowing Animals auf die Spitze treiben. Glowing Animals sind Tiere, die mithilfe der Biolumineszenz im Dunkeln leuchten. 2008 erhielten Wissenschaftler aus Japan und den USA den Nobelpreis für ihre Forschungen, bei denen sie die natürliche Biolumineszenz auf Tiere wie etwa Schafe und Katzen übertrugen.

Roux will nun einen die Grenzen des Machbaren verschieben, indem er einen Miniaturelefanten züchtet, der zudem im Dunkeln leuchtet und damit die Forschung revolutioniert. Das soll dem Forscher endlich den wissenschaftlichen Ruhm einbringen, der ihm bislang immer verwehrt blieb. Doch derartig kühne Pläne rufen natürlich auch Gegner auf den Plan.

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Martin Suter – Montecristo

Too big to fail

Mit bewundernswerter Regelmäßigkeit veröffentlicht Martin Suter von Jahr zu Jahr einen Roman. Nach seinem letzten Standalone „Die Zeit, die Zeit“ widmete er sich der Reihe um den verarmten Adeligen Allmen, ehe es nun 2015 wieder so weit ist und ein neuer Titel erscheint. „Montecristo“ heißt das Werk und erzählt vom gescheiterten Filmschaffenden Jonas Brand. Diesen treibt immer noch sein titelgebendes Filmprojekt um, das Dumas epischen Racheroman „Der Graf von Montecristo“ in die Jetztzeit transportieren sollte.

Zwei Geldscheine und ein Toter

Doch kein Filmförderer interessiert sich für Brands Ideen und so muss er sich als Videojournalist für ein Klatschmagazin verdingen, ein Job der ihm eigentlich zuwider ist. Doch da ihm dieser Job sein täglich Brot sichert und Brand über einen gewissen passiven Charakter verfügt hat er im Grund die großen Hoffnungen auf eine Filmkarriere begraben. Doch inmitten seines arrivierten Lebens fallen ihm zwei Ereignisse vor die Füße, die angetan sind, sein Leben komplett umzukrempeln.

Im abendlichen Pendelverkehr im ICE kommt es zu einem Personenschaden, offensichtlich ein Suizid. Als Reporter geschult begreift Brand seine Chance, aus dem Ereignis eine große Reportage zu stricken. Darüber hinaus findet Brand bei sich zu Hause zwei Frankenscheine mit identischen Seriennummern. Ein unmögliches Ereignis, das den Personenschaden im ICE in anderem Licht erscheinen lässt, als beide Spuren ins Bankermilieu führen.

Das mörderische Treiben der Banken

Prophetischer könnte Suters „Montecristo“ nicht sein. Just kurz nach der Abkopplung des Schweizer Frankens vom Euro und in den Nachwehen der Bankenkrise schickt der Schweizer Starautor seinen eigentlich gescheiterten Journalisten auf eine Entdeckertour in die Welt der Hochfinanz, bei der er sich im Dschungel von Derivaten, Notendrucken und der ganz großen Politik behaupten muss. Suter hat sich gut in sein Sujet eingearbeitet und präsentiert ein Buch, das trotz aller Fakten und manchmal schwierigen Fachtermini niemals schwer daherkommt.

Die Spur des Geldes

„Montecristo“ ist ein Banken- und Verschwörungsroman, ein elegant geschriebener Thriller, der in die Welt der Hochfinanz entführt. Suter zeichnet ein genaues Bild einer Finanzwelt, die too big to fail ist und daher auch alles aufbieten muss, um den zu investigativen Reporter Jonas Brand zu stoppen. So ist „Montecristo“ trotz aller Unterhaltung auch ein nachdenkliches und kritisches Buch, das zeigt, welche enorme Rolle das Geld als Schmiermittel der Gesellschaft spielt und zu welchen Schritten dies führen kann, wenn bestimmte Aktionen aus dem Ruder laufen. Insgesamt ein höchst lesenswertes und aktuelles Buch – wie eigentlich immer bei Martin Suter -, das zu den Highlights in diesem Frühjahr zählt!

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