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Chris Whitaker – In den Farben des Dunkels

Eine Gefangenschaft von 307 Tagen und eine Suche, die Jahrzehnt dauern wird. Sie beschreibt der britische Autor Chris Whitaker in seinem neuen Roman In den Farben des Dunkels und liefert damit einen Roman ab, der unter die Kategorie Epos fällt.


Mit Chris Whitaker hat der Piper-Verlag einen wirklichen Überraschungserfolg eingekauft. So schaffte es sein deutsches Debüt Von hier an bis zum Anfang auf Anhieb in die Spiegel-Bestsellerliste und sammelte begeisterte Leser*innen und fast 7000 Rezensionen auf der Bewertungsseite eines großen Buchhändlers. ein

Vor zwei Jahren folgte dann Was auf das Ende folgt, bei dem das Echo dann allerdings verhaltener ausfiel. Das erklärte sich mit der nicht ganz so überzeugenden Qualität des Buchs, das eigentlich aus Whitakers literarischer Frühphase stammte. Erschienen war es im Original vor Von hier bis zum Anfang erschienen war, das seinen Durchbruch als Schriftsteller markierte – und das merkte man dem Buch auch an.

Ein neuer Roman aus der Feder Chris Whitakers

Nun gibt es mit In den Farben des Dunkels wieder einen frischen Roman aus der Feder Whitakers zu lesen. Mit diesem legt er die Messlatte seines eigenen Schreibens noch einmal ein ganze Stück höher. Wieder spielt der Roman des britischen Autors in den USA, wieder kehrt er in eine Kleinstadt zurück, die diesmal auf den Namen Monta Clare hört.

Chris Whitaker - In den Farben des Dunkels (Cover)

Dort lebt der junge Joseph Macauley, der von allen nur Patch gerufen wird. Da er nur ein Auge besitzt, verdeckt eine Augenklappe seine leere Augenhöhle, was nicht nur bei Betrachtern Assoziationen zu Piraten weckt. Auch Patch ist von diesen Outlaws der Meere begeistert und hat sich etwas davon für sein eigenes Verhalten abgeschaut. So stromert er auf eigene Faust durch die Umgebung der Kleinstadt und bemächtigt sich gerne auf illegale Weise fremder Besitztümer.

Bei einem dieser Ausflüge in den nahegelegenen Wald stolpert er zufällig in eine gefährliche Szene, als er den Schreien im Wald folgt. Er überrascht einen maskierten Mann, der Misty Meyer, Ballkönigin und Tochter gut betuchter Einwohner von Monta Clare, in einen Transporter zerren will. Mit einem echten Piraten ist so etwas allerdings nicht zu machen und so greift Patch in die Szene ein.

Misty Meyer kann so entkommen, doch nun befindet sich Patch in den Händen des Entführers. Ein Umstand, der 307 Tage lang dauern soll und erst durch seine Kindheitsfreundin Saint beendet werden soll. Denn diese erweist sich als hartnäckige und erfolgreiche Ermittlerin, die das Versteck und die Identität von Patchs Entführer auf eigene Faust aufklärt. Womit alles nun sein Ende haben könnte, ist allerdings nur der Beginn von Whitakers opulenter Geschichte.

Eine Entführung mit Folgen

Denn bei seinem Aufenthalt im dunklen Versteck des Entführers erhielt Patch Beistand von einem Mädchen namens Grace, das mit seinen Erzählungen und Geschichten dafür sorgte, dass Patch nicht den Verstand verlor. Als nun nach Saints Intervenieren das Versteck des Entführers auffliegt, fehlt sowohl vom Entführer als auch von Grace jede Spur. Existiert dieses Mädchen außerhalb von Patchs Erinnerungen überhaupt?

Die Suche nach ihr wird zum Motor, der die Geschichte von Saint, Patch und Misty Meyer jahrelang antreiben wird. Denn durch die Entführung wurde der Grundstein für komplexes Miteinander gelegt, das das Leben der Kinder bis ins Erwachsenenalter hinein prägen wird. Mal sind sie sich näher, mal stehen sie sich diametral gegenüber, mal sind sie tausende von Kilometer voneinander entfernt – die Schicksalsgemeinschaft können sie aber nicht lösen.

Patch steigert sich in eine Obsession hinein und versucht mit den Mitteln der Kunst, der Erinnerung und der Kriminalität das Geheimnis um Grace zu lösen, während Saint auf der anderen Seite des Gesetzes den Spuren von Grace und ihrem Entführer nachgeht. Beide Wege bringen sie immer näher an den Entführer von einst heran – doch auch die Jahre vergehen rasant und verlangen von Saint, Patch und Misty einen hohen Tribut.

Ein Roman im Cinemascope-Format

Mit In den Farben des Dunkels dürfte Chris Whitaker die Begehrlichkeiten von vielen Filmagenturen geweckt haben. Denn sein Roman liest sich wie eine Vorlage für einen Kinoblockbuster oder mindestens eine Serie im Cinemascope-Format. Verschiedene Schauplätze in den USA, eine spannende Krimihandlung mit Anklängen an Entführungsdramen wie Raum , die mit einem großen Entwicklungsbogen einhergeht machen aus diesem Buch ein Epos in bester Tradition von Dennis Lehane und Co.

Wer Freude an Serien wie True Detective oder Stephen Kings Stand by me hatte, der dürfte sich bei Chris Whitaker gut aufgehoben fühlen.

Es ist derart unbändig viel Handlung und Zeit, Volten und Schicksal in diesem Buch enthalten, dass die Lektüre trotz der knapp 600 Seiten zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommen lässt. Immer wieder neue Fährten und Erkenntnisse begleiten Patchs und Saints Suche nach der Wahrheit – und das an dutzend Schauplätzen, von Florida bis einmal Missouri einmal quer durch die USA.

Diese hohen Schauwerte, der stimmige Plot und das ergreifende Schicksal von Whitakers Protagonisten machen aus In den Farben des Dunkels einen Roman, der in diesem Jahr in Sachen Unterhaltung schwerlich zu schlagen sein dürfte.


  • Chris Whitaker – In den Farben des Dunkels
  • Aus dem Englischen von Conny Lösch
  • ISBN 978-3-11-105308-0 (Piper)
  • 592 Seiten. Preis: 24,00 €
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Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr

Sommer, das ist auch immer Theater. Es zieht die Menschen nach draußen und auf den Freilichtbühnen des Landes werden Opern, Musicals und Theaterstücke gegeben. Auch in Erich Kästners Roman Der kleine Grenzverkehr ist das nicht anders. Hier verschlägt es einen jungen Schriftsteller nach Österreich, wo er zusammen mit einem Freund die legendären Salzburger Festspiele mitsamt ihrer nicht minder legendären Aufführung des Jedermann von Hugo von Hoffmannsthal als Höhepunkt besuchen will. Doch nicht nur auf der Bühne wird Theater gespielt – und dann ist da auch noch die lästige Problematik des Schlagbaums zwischen Österreich und Deutschland…


Es ist eine Grenzsituation noch vor Schengen, Freizügigkeit und dem Euro, die Erich Kästner in Der kleine Grenzverkehr wieder aufleben lässt. Sein in Form eines Tagebuchs erzählten Romans spielt im Jahr 1937 und erschien erstmalig ein Jahr darauf. Das ist insofern bemerkenswert, da 1938 der „Anschluss“ Österreichs an Deutschland unter den Nationalsozialisten vollzogen wurde.

Volten der Geschichte

Kästner formuliert diesen Umstand in seinem Vorwort an die Leser der 1948 in Zürich erschienen Ausgabe wie folgt:

Als ich dieses kleine Buch, während der Salzburger Festspiele Anno 1937, im Kopf vorbereitete, waren Österreich und Deutschland durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken „auf ewig“ voneinander getrennt. Als das Büchlein im Jahr 1938 erschien, waren die beiden Länder gerade „auf ewig“ miteinander verbunden worden. Man hatte nun die gleichen Briefmarken und keinerlei Schranken mehr. Und das kleine Buch begab sich, um nicht beschlagnahmt zu werden, hastig außer Landes.

Habent sa fata libelli, wahrhaftig, Bücher haben auch ihre Schicksale. Jetzt, da das Buch in einer neuen Auflage herauskommen soll, sind Deutschland und Österreich wieder voneinander getrennt. Wie durch Grenzpfähle, Schlagbäume und unterschiedliche Briefmarken. Die neuere Geschichte steht, scheint mir, nicht aufseiten der Schriftsteller, sondern der Briefmarkensammler. Soweit das ein sanfter Vorwurf sein soll, gilt er beileibe nicht der Philatelie, sondern allenfalls der neueren Geschichte.

Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr, S. 7

Und während man sich nun, knapp neunzig Jahre seit dem ursprünglichen Erscheinen, wieder mehr oder minder frei von Kontrollen und Devisentausch zwischen den Nachbarländern bewegen kann, ist von der Durchlässigkeit der Grenze für Georg, den Helden von Kästners Roman, noch nichts zu spüren – im Gegenteil.

Über die Grenze nach Österreich

Mit einem schönen metafiktionalen Kniff gibt Kästner sein Werk dabei als Fundstück aus, das er ohne das Wissen seines Freundes publiziert habe. Einst habe es ihm sein Freund in die Hände gedrückt, und nun habe er sich entschieden, dieses Sommertagebuch zu veröffentlichen.

Erich Kästner - Der kleine Grenzverkehr (Cover)

Und so beginnt die Geschichte Georg Rentmeister, der von seinem Freund Karl eingeladen wird, zusammen mit ihm die Salzburger Festspiele zu besuchen. Für Karl steht ein Engagement als Bühnenbildner in Aussicht – und so wollen die beiden Freunde sich im August in der Stadt an der Salzach umtun und den vielen hochkarätigen Aufführungen unter freiem Himmel beiwohnen, wie Georg in dem Tagebuch schreibt.

Da ist nun nur das Problem der Devisen. Denn obschon er die Reise nach Österreich per Bahn angetreten hat, steht eine Auskunft der Devisenstelle noch aus. Genau (um)gerechnet bleiben ihm von seinen zehn Reichsmark täglich nur 33,3 Pfennige für den Aufenthalt in Salzburg – „Was zu wenig ist, ist zu wenig!“, wie Georg selbst in seinem Tagebuch notiert. Und so entscheidet er sich zu einem zweigeteilten Aufenthalt. Das Hotel bezieht er auf der deutschen Seite in Reichenhall, um dann täglich mit dem Autobus eine halbe Stunde und zwei Passkontrollen später in Salzburg einzutreffen, wo er mit seinem Freund die von ihren Kunstschätzen und Bauten geprägte Stadt durchstreift und dem sommerlichen Kulturgenuss huldigen möchte.

Doch da ist auch noch eine weibliche Bekanntschaft, die der permanent in Geldnöten steckende Georg macht. Der Genehmigungsvertrags seiner Devisen zieht sich weiterhin und so ist es ein Stubenmädchen namens Konstanze, das ihm unverhofft begegnet und das ihn aus der finanziellen Bredouille befreit.

Sommerliche Scharaden in Salzburg

Auf einem nahegelegenen Schloss würde sie arbeiten, so offenbart sie sich Georg, der nicht nur von ihrem Sparkassenbuch begeistert zeigt, sondern deren Äußeres den jungen Mann auch zum Schwärmen bringt. Rasant beginnt das Tête-a-tête der beiden, bei dem sich dann herausstellt, dass Konstanze Georg etwas vorspielt. Doch auch er spielt wenig später schon bei der sommerlichen Scharade, die Konstanze aufzieht, begeistert mit. So gibt es nicht nur auf den Bühnen der Stadt Irrungen und Wirrungen zu beobachten, sondern auch im Schloss spielt sich schon bald Heiter-Romantisches ab…

Der kleine Grenzverkehr ist ein Buch, bei dem nur wenig auf das hindeutet, was schon ein Jahr später über die beiden Länder und bald den ganzen Kontinent hereinbrechen sollte.

Originalcover der Ausgabe von "Der kleine Grenzverkehr" aus dem Jahr 1948
Cover der Ausgabe von „Der kleine Grenzverkehr“ aus dem Jahr 1948 mit Illustrationen von Kästners Freund Walter Trier

Während Karl in Berlin noch der Erlaubnis des Wehrkreiskommandos und der Passstelle bedarf, um überhaupt die vierwöchige Reise nach Österreich antreten zu dürfen, wird die Welt mit jedem Kilometer, den er der deutsch-österreichische Grenzregion näher kommt, leichter. Postkartenmotive von Heu erntenden Bauern auf den Bergen oder den Gassen Salzburgs versprühen Nostalgie und Idylle.

Zudem nimmt sich dieser im August spielende Roman auch nicht ernster, als er muss. Das Spiel mit dem fiktiven Tagebuch, die Scharaden um Georg und Konstanze, die Irrungen und Wirrungen – Kästners Sommerroman ist leicht und heiter – was insbesondere angesichts der Umstände, unter denen er entstanden ist, umso bemerkenswerter ist. Dass Kästner fünf Jahre vor dem Entstehen dieses Buchs mit ansehen musste, wie seine eigenen Bücher von den Nationalsozialisten verbrannt wurden, und in Folge dieses Ereignisse mit einem partiellen Schreibverbot belegt wurde, diese Erfahrungen zeichnen den Roman nicht, im Gegenteil.

Fazit

Der kleine Grenzverkehr feiert das Theater, die Scharade und die Liebe hingebungsvoll. Ebenso ist der Roman eine Hommage an Salzburg und seine Festspiele und die Welt der Berge. Auch fast neunzig Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen lässt dieser kurze und doch reichhaltige Romane auch angesichts der Umstände seiner Entstehung staunen. Eine wirkliche Empfehlung, und das nicht nur an Augusttagen!


  • Erich Kästner – Der kleine Grenzverkehr
  • ISBN 978-3-03882-015-4 (Atrium)
  • 146 Seiten. Preis: 12,00 €
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Sarah Moss – Sommerwasser

Sommerurlaub – das kann eine traumhafte Angelegenheit sein. Außer man reist nach Schottland, mietet sich eine Hütte und erlebt dann tagelangen Dauerregen. So ergeht es den Urlaubern, die Sarah Moss in ihrem neuen Roman Sommerwasser porträtiert und einmal mehr ihre genaue Beobachtungsgabe unter Beweis stellt.


Schottland ist wohl nicht das erste Reiseziel, das einem in den Sinn kommt, wenn es um Sommerurlaub im herkömmlichen Sinn geht. Durchschnittstemperaturen von 15 bis 17 Grad im Sommer und wechselhaftes Klima haben wohl eher für Wanderer und Outdoorfreunde ihren Reiz denn für Familien, deren Kinder gerne die Sommertage mit Baden und Aktivitäten am Strand verbringen. Und doch hat es einige Urlauber in den Norden Großbritanniens verschlagen, die dort in einer an einem See gelegenen Feriensiedlung ihre freien Tage verbringen und auf Entspannung und Abstand vom Alltag hoffen.

Dabei macht Schottland den Klischees von kaltem und regnerischen Wetter allerdings alle Ehre und beschert den Urlaubern jede Menge Sommerwasser. Kräftige Schauer sorgen in Sarah Moss‘ neuem Roman für viel Niedergeschlagenheit und Frust anstelle von unbeschwerten Sommertagen. So sind die Urlauber gezwungen, auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit der Malaise umzugehen. Und dann passiert im schottischen Dauerregen auch noch eine Katastrophe. Aber alles der Reihe nach.

Mütter, Ärzte, Teenager im schottischen Dauerregen

Die schottische Autorin beginnt ihren Reigen mit dem Versuch einer Mutter, der Enge der Holzhütten zu entfliehen, indem sie morgens zu einer Joggingrunde aufbricht, um sich etwas zu sortieren und die Gedanken fließen zu lassen. Der Dauerregen sorgt für viel Anspannung im familiären Verbund und so macht sich die Frau zu einer frühmorgendlichen Runde auf, bei der ihr Bewusstseinsstrom zu fließen beginnt. Durch ihre Wahrnehmungssplitter und Gedankenfetzen entstehen erste Eindrücke der Feriensiedlung, die für sie längst zum Hort von Frustration und angespannten Nerven geworden ist.

Und los, Füße trappeln, Herz und Lunge, überrascht, arbeiten. Kaltes Wasser auf bettwarmer Haut, und warum genau macht sie das nochmal? Die Ferienanlage liegt im Schlaf, Vorhänge zugezogen, Autos voller Regenperlen. Die Blockhütten, denkt sie wieder, sind eine dumme Idee, Amerika oder vielleicht Skandinavien entliehen, jedenfalls einem Land, in dem es seltener regnet als in Schottland, wann hat man irgendwo in Großbritannien schon Gebäude aus Holz gesehen? Torf, wennschon, hier oben, Stein, wenn man hat, der verrottet nicht. Sie sehen aber nicht skandinavisch aus – nicht dass sie schon mal da gewesen wäre, aber sie hat Fotos gesehen -, sie sehen alt aus, eine unattraktive Mischung aus weich werdenden Holzwänden und billigen Plastikfenstern, die Art Gartenschuppen, die man früher oder später abreißen muss.

Sarah Moss – Sommergäste, S. 12 f.

Vor der Tür der See voller Wasser, von oben der Regen, der nicht nur die Substanz der Häuser angreift. Im Folgenden beginnt Moss einen Reigen von frustrierten Urlaubsgästen und deren Gedanken, immer wieder unterteilt von kleinen Splittern Nature Writing, die die einzelnen Episoden unterteilen (übersetzt von Nicole Seifert).

Unterschiedliche Menschen, präzise beobachtet

Sarah Moss - Sommerwasser (Cover)

So springt die Autorin etwa zu einem pensionierten Arzt, der morgens die Joggingrunde der Mutter beobachtet. Von ihm geht es beispielsweise weiter zu seiner malenden Gattin. Ein junges Pärchen beim Liebesakt, eine ukrainische Familie, die mit ihren lauten Feierorgien die Nerven zusätzlich strapaziert oder ein Teenager, der angeödet von der Monotonie dort am See kurzerhand ein Boot schnappt, um auf dem See der Enge der Hütten zu entkommen. Zwar befindet sich unweit von der Feriensiedlung noch ein Pub, inklusive WLAN-Zugang, damit hat es sich dann aber auch in der schottischen Wildnis.

Immer wieder springt Sarah Moss von Hütte zu Hütte, blickt durch die Augen eines Feriengastes und beweist damit ihr großartiges Talent zur Beobachtungsgabe und Personenzeichnung – vom Kleinkind bis zum Senior, egal ob Mann oder Frau. Innerhalb weniger Seiten entstehen präzise Zeichnungen von Charakteren, in denen Moss auch erneut das Thema der Mutterschaft und aller Einschränkungen der eigenen Bedürfnisse, die damit einhergehen, aufgreift.

Sie zeigt wie schon in ihrem Debüt Schlaflos Mütter an der Belastungsgrenze, bedingt durch Dauerregen, Enge in der Unterkunft, Kinder, die sich nicht bewegen können und Männer, die es zwar gut meinen, aber nicht unbedingt Hilfen für die Frauen sind.

Fazit

So entsteht allmählich das Bild eines Urlaubs, den sich wohl fast alle Beteiligten anders vorgestellt hätten. Dauerregen, kleine Ferienhütten die Unmöglichkeit, sich für längere Zeit mal aus dem Weg zu gehen sorgen für das Gegenteil der Entspannung, die der Sommerurlaub für alle Beteiligten doch eigentlich hätte bereithalten sollen. Hier schlagen nicht nur Wellen an den See, pladdert der Regen auf Hausdächer – auch ganz unterschiedliche Bewusstseinsströme der Figuren ergießen sich hier und ergeben ein ganz besonderes Sommerwasser. Durch die präzisen Porträts entsteht ein Figurenreigen von einem Urlaub, wie man ihn sich eigentlich nicht wünscht, einmal mehr grandios eingefangen von Sarah Moss.


  • Sarah Moss – Sommergäste
  • Aus dem Englischen von Nicole Seifert
  • ISBN 978-3-293-00609-6 (Unionsverlag)
  • 192 Seiten. Preis: 24,00 €
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R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer

Eine mittelständische englische Familie fährt in den Urlaub ans Meer. Aus dieser einfachen Ausgangslage macht R. C. Sherriff einen berührenden Roman, der vom Glück des unbeschwerten Sommerurlaubs erzählt, der zugleich aber auch vom Wissen um die Vergänglichkeit des Urlaubs im Kleinen und die des Lebens im Großen kündet. Große Literatur – und eine echte Wiederentdeckung!


Mit dem Sommerurlaub ist es ja so eine Sache. Liegt er noch vor einem, scheint der Sommer unendlich lang, die Tage glutheiß, das Jahr auf seinem Höhepunkt und der Herbst noch ganz weit weg. Kehrt man dann Ende August oder im September wieder in den normalen Alltagstrott zurück, so mehren sich die Zeichen, dass die schönsten warmen Tage des Jahres hinter einem liegen.

Es wird abends wieder früher dunkel, die Sonne hat ihre Kraft verloren und an manchen Orten zeigen sich schon wieder die ersten Nebelfelder, die die Gedanken an die kommenden kalten Tage ins Bewusstsein rufen. Der Sommerurlaub, er trägt neben aller scheinbaren Ewigkeit eben auch das Wissen um die Endlichkeit der Sommeridylle in sich.

Auch R. C. Sherriff weiß um die Vergänglichkeit, die allem Sommern eingeschrieben ist. Bei ihm ist es die mittelständische Familie Stevens, die einen unbeschwerten Sommer an der Südküste Englands erleben möchte. Dabei ist aber auch sie trotz aller Sehnsucht nach Idylle und dem Bemühen um die Bewahrung derselben auch vor Enttäuschungen und dem Vergehen der Zeit nicht gefeit.

Noch einmal gemeinsam auf nach Bognor

R. C. Sherriff - Zwei Wochen am Meer (Cover)

So sind die beiden älteren Kinder eigentlich schon zu alt für einen gemeinsamen Familienurlaub am Meer und haben andere Prioritäten, als so wie all die Jahre zuvor wieder mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder die Ferien an der Südküste in Bognor zu verbringen. Und doch soll es nun im September noch einmal wie früher sein, so wünschen es sich die Eltern. Man teilt sich in einer angestammten Pension Zimmer, kennt seine Vermieterin ebenso wie den Strand in- und auswendig und hat in jahrelanger Verfeinerung eine Art To Do-Liste erarbeitet, die die Familie nun am Vortag des Urlaubs Stück für Stück abarbeitet. Von der Nahrung für die Katze bis zur Übergabe des Schlüssels ihres Vorstadthäuschens will alles bedacht sein.

Mit einem Kofferträger geht es zur U-Bahn, man steigt in Clapham Junction ein, versucht sich mit Tricks ein familieneigenes Bahnabteil zu besorgen und schon setzt sich die Bahn in Richtung Bognor in Bewegung.

Es sind Ferien, die in krassem Widerspruch zur heutigen Spaß- und Eventkultur an Badestränden stehen, die R. C. Sherriff hier beschreibt. Bekocht von der Vermieterin wird die Frage der Anmietung eines eigenen Strandhäuschens zum fast überlebensgroßen Thema, das die Familie Stevens beschäftigt. Man badet, besucht ein Konzert der Kurkapelle und erlebt entschleunigte Tage am Meer, über denen eine starke Ahnung der Vergänglichkeit liegt.

Die Vergänglichkeit der Sommeridylle

Bei allem Staunen hatte sie jedoch tief drinnen gewusst, dass etwas passieren würde. Seit ihrer Abreise aus Dulwich wusste sie, dass noch vor Ferienende etwas Gewaltiges geschehen würde. Sie wusste es, als sie alle zusammen auf den Zug in Clapham Junction gewartet hatten, sie wusste es, als sie hinter Horsham ihre Sandwiches gegessen hatten, sie wusste es, als sie durch die Straßen von Bognor zum „Seaview“ gelaufen waren. Jedes Mal hatte sie gespürt, dass es zum letzten Mal war und dass sie das nie wieder zusammen mit ihrem Vater und ihrer Mutter tun würde und auch nicht mit Dick und Ernie. Es hatte sich so traurig angefühlt, dass sie sich all das sofort wieder zurückwünschte. Jetzt aber wusste sie erst, was das alles zu bedeuten hatte. Es war immer schön gewesen in Bognor, und trotzdem hätte es nicht ewig so weitergehen können. Sie hätten nicht weiterhin Jahr für Jahr mühsam versuchen können, den verglimmenden Funken der Kindheit neu zu entfachen. Was inhen aber immer bleiben würde, waren die Erinnerungen – auch daran, wie wundervoll alles zu Ende ging.

R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer, S. 287

Immer wieder tauchen im Buch Themen und Motive des Abschieds auf, die den Urlaub begleiten. Stevens senior laboriert noch immer an seinem unsanften Ausscheiden aus dem von ihm mitbegründeten Fußballverein, der einen Generationenwechsel einleiten sollte. Der Mann der Vermieterin ist gestorben und die Pension verschleißt Stück für Stück. Es mehren sich die Indizien, dass der Urlaub der Familie in dieser Form der letzte sein wird, den die Stevens gemeinsam verleben. Die beiden älteren Kinder treiben verstärkt Fragen wie ihr berufliches Glück oder Freundschaften um.

Und auch wenn es Vater Stevens gelingt, der Urlaubsidylle noch einen zusätzlichen Tag abzugewinnen, so schwingt doch in den Tagen eine Ahnung mit, dass ein solch sparsamer und selbstgenügsamer Urlaub lange noch vor der Phase des Massentourismus schon bald Geschichte sein wird, ebenso wie es darüber hinaus für die im Buch repräsentierte Epoche des Kleinbürgertums gilt.

Eine feinsinnige Wiederentdeckung

Wie feinsinnig, gut beobachtet und meisterhaft introspektiv R. C. Sherriff dies schildert, das ist wirklich große Kunst. Und auch wenn Sherriff normalerweise eher Drehbücher schrieb und in Hollywood sein Glück suchte, so erfuhr er in seinem Leben doch ähnliche Sehnsucht nach Nostalgie und Vertrautheit, wie er sie in Zwei Wochen am Meer schildert.

Davon erzählt der Autor und Übersetzer Karl-Heinz Ott in seinem Nachwort, in dem er auch die Geschichte des Romans erzählt, der eine wirkliche Wiederentdeckung ist. So gab der Nobelpreisträger Kazuo Ishiguro auf eine Umfrage des britischen Guardian, die nach literarischen Entdeckung von Schriftsteller*innen während der Coronazeit fragte, die Entdeckung dieses Romans aus dem Jahr 1931 zu Protokoll. Dies sorgte für eine Renaissance des Buchs, das Ishiguro für die Kunst lobte, „die wunderbare, im täglichen Leben anzutreffende Würde feinfühlig[..] auf einer völlig undramatischen Ebene“ einzufangen.

Die Parallelen zwischen Ishiguros Schreiben und Zwei Wochen am Meer arbeitet Ott sehr schön heraus und analysiert Werk und Wirken Sherriffs in seinem Nachwort sorgfältig.

Kleine Mängel in der Übersetzung

Noch schöner wäre es dabei allerdings gewesen, wenn Ott und das Lektorat die gleiche Sorgfalt auch auf den übersetzten Text angewendet hätten. Denn die Übersetzungsleistung weist ein paar Defizite auf und mengt dem rundum positiven Eindruck des Romans so selbst einen Hauch der Kritik bei.

Denn Ott trifft mitunter eigenwillige übersetzerische Entscheidungen, indem er beispielsweise den im Zuge der Weltausstellung in London erbauten Crystal Palace als Kristallpalast übersetzt, um nach zweimaliger Erwähnungen desselbigen dann umzuschwenken und diesen doch als Crystal Palace zu titulieren. Kann man im Deutschen mit dem Begriff der Landlady wenig anfangen, wäre doch hier der übersetzerische Griff zur Vermieterin idiomatischer gewesen, ebenso wie im Deutschen der Begriff der Sperrstunde wohl deutlich geläufiger sein dürfte als die von Ott gewählte „Polizeistunde“, die etwas seltsam für sich steht.

Es mögen nur Marginalien sein, im Text fallen sie in ihrer Häufigkeit dennoch auf und mindern den ansonsten fabelhaften Eindruck dieses Buchs und der vom Unionsverlag herausgegebenen Ausgabe um einen kleinen Hauch.

Fazit

Ein fabelhafter Roman und eine echte Wiederentdeckung. Wie zart und genau beobachtend R. C. Sherriff in Zwei Wochen am Meer über seine Figuren schreibt, einen Familienurlaub vor Bettenburgen und Eventfixierung beschreibt und wie er es schafft, dass über allem der Hauch der Vergänglichkeit liegt, das ist ganz große literarische Kunst! Und auch wenn die Übersetzung ein wenig sorgfältiger hätte ausfallen dürfen, so mindert das den Gesamteindruck dieses großartigen Sommerurlaubs nur marginal. Für mich ganz klar ein literarischer Sommerhit!


  • R. C. Sherriff – Zwei Wochen am Meer
  • Aus dem Englischen und mit einem Nachwort von Karl-Heinz Ott
  • ISBN 978-3-293-00604-1 (Unionsverlag)
  • 352 Seiten. Preis: 25,00 €
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Emma Cline – Die Einladung

Hochsommer in den Hamptons. Dort, wo die Schönen und Reichen vor den Toren New Yorks Urlaub machen, da möchte auch Alex sein und dazugehören. Nur Die Einladung zu diesem exklusiven Leben, sie fehlt ihr. Und so schnorrt sie sich in Emma Clines zweitem Roman von Tag zu Tag durch. Sommerlektüre irgendwo zwischen Victor Jestin und Peter Richter.


Die Hamptons, sie sind der Sommersitz der begüterten New Yorker. Im August ziehen sie sich zurück in ihre exklusiven Anwesen, um dort die heißen Tage zumeist bis zum Labor Day-Feiertag, dem ersten Montag im September, zu verbringen. Auch Alex will im Kreis der Hautevolee ihren Sommer verbringen. Einen einzigen Haken hat die Sache – die junge Frau hat keinerlei Einladung für die exklusiven Partys und Häuser. Und so schnorrt sie sich durch, prostituiert sich und lässt sich von anderen Männern aushalten, die ihr ein Ticket zur Upperclass verschaffen sollen.

Doch bei einem älteren Liebhaber leistet sich Alex auf einer Party im Alkohol- und Drogenrausch einen Fehltritt, sodass er sie aus seinem Haus komplimentiert. Nun gilt es für die junge Frau, sich in der Welt der Hamptons durchzuschlagen und neuen Anschluss zu finden. Denn zurück nach New York kann sie nicht, hat kein wirkliches Dach über dem Kopf und über so etwas wie Geld verfügt sie gleich zweimal nicht. Und so versucht sie unter größter Anstrengung die Fassade eines Lebens zu wahren, das eigentlich nur Schein statt Sein ist, immer mit dem verzweifelten Ziel vor Augen, ohne Geld und Dach über dem Kopf zu überstehen, um in ein paar Tagen zu einer Party ihres Sugardaddys zurückzukehren.

Alex ging eine Weile in der Sonne. Streckenweise, dort, wo sich die Baumkronen verflochten, lag die Straße im Schatten. Die Luftfeuchtigkeit brachte sie dennoch zum Schwitzen. Ihre Stirn war nass, auch der Hals. Sie hob den Saum ihres Shirts und versuchte eine Brise heraufzubeschwören. Ihre Sandalen scheuerten. Immer wieder musste sie stehen bleiben, sich vorbeugen, um einen Finger zwischen Haut und Sandalenriemchen zu schieben. Ihr Weekender war klein genug, um nach Strandtasche auszusehen, nicht nach einer Tasche, die ihr ganzes Hab und Gut enthielt, und das war wichtig. Es war wichtig, nicht zu verzweifelt zu wirken, nicht aus dem Rahmen zu fallen. Sie war ein Mädchen, das am Straßenrand entlangging, und solange sie sich an diese ruhigen Straßen hielt, war das nicht so ungewöhnlich.

Emma Cline – Die Einladung, S. 96 f.

Durchschnorren in den Hamptons

Emma Cline - Die Einladung (Cover)

Man verfolgt auf einem dramaturgisch recht gleich bleibenden Level die verzweifelten Versuche Alex, den Anschluss an ihr bisheriges Leben zu halten, das mit 22 Jahren noch recht kurz ausgefallen ist. Sie bezirzt Hausangestellte, simuliert auf Hauspartys Zugehörigkeit oder nutzt fremde Kinder, um auf Kosten derer Eltern die Kreditkarten mit ihrem Konsum zu belasten.

Dabei zeigt Emma Cline eine junge Frau, die zwischen Ignoranz, Selbsttäuschung und Skrupellosigkeit changiert – immer mit dem verzweifelten Wunsch nach Zugehörigkeit zu einer Welt, die nicht die ihre ist. Mit Verve rennt Alex gegen diese unsichtbaren Klassenschranken an, wobei man nicht weiß, ob man die Dreistigkeit der jungen Frau bewundern oder bemitleiden soll.

Insgesamt gesehen passt der englische Originaltitel The Guest dabei eine ganze Nummer besser zu Emma Clines Buch als die deutsche Variante der Einladung, auch wenn Alex beständig einer solchen Einladung hinterherjagt. Aber die eigentliche Hauptdarstellerin ist und bleibt Alex, die sich in fremde Leben einzuschleichen versucht. Sie mag sich so verbiegen und verstellen, wie sie will, mag charmieren und das unbeschwerte Summergirl geben – und doch bleibt sie in der Welt der Hamptons immer nur ein Gast.

Damit führt Emma Cline gewissermaßen das Thema des Dazugehörigkeitsgefühl und der weiblichen Anpassung fort, das sie schon in ihrem Debütroman The Girls (2016) und dem Kurzgeschichtenband Daddy (2021) verhandelte.

Fazit

Emma Cline inszeniert ihre Geschichte in einer flirrenden, sommerhellen Stimmung, die aber auch genug Raum für untergründige Spannung und dunkle Momente lässt. Ihr Buch Die Einladung ist ein perfekter Summerread. Ihre Heldin Alex schwankt zwischen Leichtigkeit, Bangen, Exzess und Scharade. Angesichts dieser stimmigen Mischung verzeiht man sogar die gerade anfangs etwas rumpelnde Übersetzung gerne.


  • Emma Cline – Die Einladung
  • Aus dem Englischen von Monika Baark
  • ISBN 978-3-446-27757-1 (Hanser)
  • 320 Seiten. Preis: 26,00 €
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