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Caroline Wahl – 22 Bahnen

Turnte Friedrich Liechtenstein vor einige Jahre noch durch einen Edeka-Supermarkt und erklärt alles vom Dorsch bis zum Klopapier für „supergeil“, so ist das Leben der Edeka-Kassiererin Tilda in Caroline Wahls Debüt 22 Bahnen nicht ganz so supergeil. Denn auch günstige Preise bei Eigenmarken helfen nur bedingt, wenn man sich daheim mit der Betreuung der alkoholkranken Mutter und der jungen Schwester, einem Mathematikstudium und dann auch noch einer zarten Liebesbande befassen muss.


Eine junge Frau aus prekären Verhältnissen, viele Bahnen im Schwimmbad, ein junger Mann dort, mit dem sich eine widerspenstige Romanze entspinnt – nein, ich bin nicht auf den Copy-und-Paste-Tasten der Tastatur eingeschlafen. Es ist tatsächlich eine erstaunlich hohe Kongruenz , die Caroline Wahls Debüt 22 Bahnen mit dem Roman Nordstadt von Annika Büsing auf den ersten Blick aufweist.

Doch gelingt es der 1995 in Mainz geborenen Autorin in ihrem Roman auch, eine eigene Erzählstimme zu finden, die nicht ganz so stark wie Büsings Sound heraussticht, aber dennoch mit einigen literarischen Stilmitteln versehen eine durchgängige Formsprache findet. Dazu zählt das Kassenspiel, das Tilda immer wieder mit sich spielt und das viele Abschnitten des Roman einläutet. Immer wieder betrachtet die Ich-Erzählerin die vor ihr auf dem Kassenband vorbeilaufenden Waren, um Rückschlüsse auf den oder die Käufer*in zu ziehen, ehe sie ihm ins Gesicht blickt.

Neben solchen erzählerischen Muster sind es vor allem die Dialoge, die ins Auge fallen. Sie sind nicht in den Erzähltext eingebunden, sondern stehen wie in einem Drehbuch oder Theatertext für sich und treiben einerseits den Text voran und zeigen andererseits auch das Fremdeln der Protagonistin mit anderen Menschen, denen sie teilweise abweisend begegnet.

Ein Leben mit vielen Anforderungen

Caroline Wahl - 22 Bahnen (Cover)

Warum das so ist, das zeigt Wahl, indem sie uns als Leser*innen Stück für Stück die Lebenswelt von Tilda aufschließt. Sie wohnt in einer nicht näher benannten Stadt, in der sich auch eine etwas weiter entfernte Universität befindet, an der Tilda neben dem Job an der Edeka-Kasse studiert. Das Geld reicht zumeist nur für die Gut-und-Günstig-Variante der Miracolinudeln und Feiern steht nicht wirklich häufig auf der Tagesordnung von Tilda. Doch was auch andere Student*innen mit finanzieller Mangellage als Belastung während des Studiums kennen, erhält in Tildas Fall noch eine ganz eigene Schwere, die sich durch die familiäre Komponente begründet.

Denn Tilda muss für gleich zwei Generationen da sein und sorgen. Da ist ihre Mutter, die schwer alkoholkrank ist und immer wieder in Phasen der völligen Verwahrlosung und der Indolenz abgleitet. Besonders Tildas kleine Halbschwester Ida leidet unter der Situation, ist sie doch die Hauptleidtragende, die immer wieder vor den Ausfällen ihrer Mutter in ihr Kinderzimmer flüchten muss, wo sie sich in die Welt der Bücher und der Malerei versenkt, um die Lebenswelt zu ertragen.

22 Bahnen im Schwimmbad

Ablenkung vor dieser hochgradig belastenden Situation finden Ida und Tilda im Schwimmbad, das so etwas wie ihr zweites Wohnzimmer ist. Stets 22 Bahnen sind es, die Tilda ziehen will, was mal besser und mal schlechter klappt. Besonders als Viktor auftaucht, gerät der getaktete Bahnenplan gehörig ins Trudeln. Denn Viktors kleinen Bruder Ivan und Tilda verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, die Wahl ebenso einführt, wie sie auch in den Charakter Tildas immer tiefere Einblicke gibt.

Dabei beweist Caroline Wahl Talent in der Anlage ihres Romans, der Stück für Stück die Hintergründe zu ihren Figuren und deren Geschichte preisgibt. Wo andere Autoren wie Heinz Strunk den Alkoholismus ihrer Figuren für Pointen und Ekel ausschlachten, da nutzt Caroline Wahl die treffenden Beobachtungen und Beschreibungen, um einfach die Lebenswelt ihrer Heldin auszumalen, der so etwas wie Abscheu vor ihrer Mutter gar nicht übrigbleibt, weil sie als junge Frau einfach für das Funktionieren des Familienverbundes sorgen muss.

Fazit

22 Bahnen zeigt das Bild einer starken Frau, der gar nichts anderes übrig bleibt, als stark zu sein. Die Masterarbeit in Mathematik, das Funktionieren an der Kasse, die entspinnende Liebesgeschichte zu Viktor, gegen die sie sich zunächst mit allen Mitteln sperrt, der Kampf, für Mutter und kleine Schwester da zu sein und alles irgendwie am Laufen zu halten. Dieses Bild aus dieser prekären Lebenswelt gelingt Caroline Wahl ausnehmend gut, ohne in Voyeurismus oder Mitleid abzurutschen.

Und auch wenn 22 Bahnen auf einer großen Welle der Schwimmbücher gerade ja – mitschwimmt – (siehe die schon erwähnte Annika Büsing, Arno Frank oder Kristin Bilkau), so ist 22 Bahnen doch auch etwas Eigenes und in meinen Augen ein tolles Debüt, das auch Bildung als Weg aus der Unmündigkeit der eigenen Situation zeigt.


  • Caroline Wahl – 22 Bahnen
  • ISBN 978-3-8321-6803-2 (Dumont)
  • 208 Seiten. Preis: 22,00 €
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Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam

Ein Jurist legt eine Beichte ab. Im Todestrakt, wartend auf seine Hinrichtung erzählt er uns sein Leben. Er schildert dabei Wie alles begann und wer dabei umkam. Und zeigt sich als ambitionierter Jurist, dem das Recht schon früh nicht mehr ausgereicht hat. Simon Urban hat einen Roman geschrieben, der Entwicklungsroman, juristische Einführung, psychologische Feldstudie und Schelmenroman miteinander kombiniert. Ein Roman, der unterhaltsam, aber nicht ganz rund und schlüssig ist.


Schon früh zeigt sich im Leben des Justus Hartmann: dieses Kind ist nicht wie andere. Zusammen mit den Eltern wohnt er in der Einliegerwohnung des Hauses der eigenen Großmutter. Diese tyrannisiert die ganze Familie, die Schwiegertochter muss zum Hungerlohn bei ihr putzen. Aber immerhin: den Lohn zieht sie der eigenen Familie dann vom Mietpreis der Wohnung ab. Mit ihren Tiraden und wohlgesetzten Spitzen knechtet sie die ganze Familie, sodass Justus schon im Kinderzimmer einen Prozess gegen die eigene Großmutter anstrengt. Als Beisitzer fungieren Kuscheltiere, das Ergebnis seines kindlichen Richterspruchs ist eindeutig: die Todesstrafe.

Ab nach Freiburg

Simon Urban - Wie alles begann und wer dabei umkam (Cover)

Doch bis dieses Todesurteil bei der eigenen Großmutter rechtsgültig in Kraft tritt, werden noch viele Jahre vergehen. Einstweilen absolviert er erst einmal die allgemeine Hochschulreife und tritt nach der Schulzeit den Weg aus Stuttgart nach Freiburg an. Er will der Enge der Wohnung und der großmütterlichen Tyrannei entfliehen und erwählt das heruntergekommene Freiburger Studentenwohnheim als sein neues Domizil. Immer noch mit den Auswüchsen der Pubertät geschlagen beschließt er, sich dem Studium des Rechts zu widmen.

Schnell wird er zu einem Überflieger, der Tutorien leitet, allerdings wenig soziale Kompetenz an den Tag liegt. Seine größte Erfüllung findet er in schonungslosen Gesprächen mit Kommilitoninnen oder jüngeren Studenten, in denen man gnadenlos Geheimnisse oder wahre Ansichten über das Gegenüber teilt. An diesen Gesprächen berauscht sich Justus und schreckt dabei auch vor Manipulation nicht zurück.

Alles ändert sich, als man der etwas biederen Strafrechtslehre in Freiburg mehr Glamour verleihen will. So erhält eine Berliner Starprofessorin einen Lehrauftrag an der Freiburger Uni. Sie krempelt gleich mit ihrer Antrittsrede den Laden auf links und verstört mit ihren Ansichten zur Rechtsprechung Justus nachhaltig. Er beginnt, sich als Gegenspieler der Professorin zu sehen und treibt in seiner Freizeit den Versuch der globalen Renovierung des Strafrechts voran. Doch seine Überlegungen haben für ihn und seine Mitmenschen Konsequenzen. Konsequenzen, die Justus um den halben Erdball führen werden.

Zwei unterschiedlich überzeugende Teile

Wie alles begann und wer dabei umkam teilt sich in zwei Hälften. Endet der erste Teil mit einem wahren Paukenschlag, setzt Urban die Geschichte seines Juristen mit psychopathischen Zügen dann auf der anderen Seite der Erdkugel fort.

Dabei fällt ein qualitativer Unterschied der beiden Hälften ins Auge. Während der erste Teil des Romans recht stringent und vorwärtstreibend erzählt ist, verliert sich diese Dynamik in der zweiten Hälfte fast gänzlich. Hier lässt Urban den Erzählungsfluss deutlich stärker mäandern und unterbricht die Handlung immer wieder durch kurze Erzählepisoden, die sich nicht wirklich homogen einfügen. Zwar sind Teile der Miniaturen großartig (ein humoristischer Höhepunkt sicherlich die Schilderung des Heino-Konzerts, das Justus zusammen mit der tyrannischen Großmutter besuchen muss), andere Geschichten bringen eher erzählerische Längen in den Roman ein (der mit über 500 Seiten eh recht umfänglich geraten ist).

Fehlender Drive im zweiten Teil

Auch schafft es Simon Urban nicht so recht, aus den beiden Hälften mitsamt der ganzen Erzählminiaturen ein literarisches Ganzes zu formen. Der Paukenschlag, der den ersten Teil beendet, läuft im zweiten Teil ins völlige Nichts, ehe der dann am Ende des Romans mithilfe einer Mail halbgar zu Ende gebracht wird. Auch weckt der Auftakt mit der Beichte aus dem Todestrakt heraus Erwartungen, die das Buch nicht erfüllen kann.

Statt einem skrupellosen Mr Ripley, dessen Taten nach und nach eine Lawine auslösen oder zu einem kriminellen Crescendo anschwellen, dümpelt die Handlung oft einfach vor sich hin. Justus scheint in seinen Schilderungen eher an sexuellen Erlebnissen, entblößenden Gesprächen und juristischen Fragestellungen oder Paradoxa Interesse zu haben, als sich als das zu präsentieren, was Klappentext und Geständnis am Anfang des Buchs insinuieren. So bleibt ein etwas unrunder Leseeindruck zurück.

Etwas nervig auch die Angewohnheit, sämtliche besonderen oder hervorgehobenen Wörter ständig kursiv zu setzen. Mit fortschreitender Dauer erweist sich diese Marotte als manieriert und erzählerisch nicht zweckdienlich. Ohne diese Kursivsetzung hätte das Buch kein Gran an Literarizität verloren. So zumindest mein Eindruck

Fazit

Wie alles begann und wer dabei umkam ist ein unterhaltsamer Roman, der besonders im ersten Teil vorandrängt und einen skrupellosen Ich-Erzähler in den Mittelpunkt rückt. Wer viele juristische Fallbeispiele und Betrachtungen über Recht und Unrecht abkann, den dürfte das Buch gut unterhalten. Einige Straffungen und Überarbeitung hin zu einem homogenen erzählerischen Ganzen hätten dem Buch gutgetan. So bleibt für mich der Eindruck, dass hier etwas mehr drin gewesen wäre. Ich empfehle vorrangig Simon Urbans Debüt Plan D, in dem er ein alternatives Deutschland entwirft, in dem die DDR noch fortbesteht. Diesen Thriller würde ich persönlich nach wie vor Wie alles begann und wer dabei umkam vorziehen.

Ein gesonderter Hinweis sei an dieser Stelle noch auf den originellen Trailer des Verlags zum Buch:


  • Simon Urban – Wie alles begann und wer dabei umkam
  • ISBN 978-3-462-05500-9 (Kiepenheuer Witsch)
  • 544 Seiten. Preis: 24,00 €
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Naomi Alderman – Die Lektionen

Manche Bücher finden auf verschlungenen Wegen zu mir. So traf ich auf Naomi Aldermans Roman Die Gabe auf dem Grund einer Grabbelkiste. Für den Betrag von einem Euro konnte ich so der neue Besitzer des Buchs werden. Alderman sorgte im letzten Jahr mit ihrem Roman Die Gabe für Aufsehen. Das Buch fand sich auf Bestsellerlisten, wurde mit vielen Artikeln bedacht und gewann den Baileys Women’s Prize for Fiction. Nur ich habe dieses Werk bis heute nicht gelesen.

Dafür widmete ich mich nun The Lessons, so der Titel des Buchs im Original. Übersetzt wurde das Buch von Christiane Buchner und es spielt in einem Milieu, in dem sich Alderman auskennt: nämlich an der Universität von Oxford. Im Original erschien das Buch 2010, 2012 lag es dann in deutscher Übersetzung vor.

Der Schauplatz Oxford und die Gestaltung sowie der Klappentext des Buchs legen gleich den Verdacht nahe: bei Die Lektionen handelt es sich um einen Campusroman. Das ist nicht wirklich falsch, aber auch nicht ganz zutreffend. Denn Aldermans Roman spielt nur zur Hälfte in Oxford, die zweite Hälfte des Buchs beschäftigt sich mit den Freundschaften, die in Oxford entstanden, sich nun aber teilweise weit von der einstigen Alma Mater entfernt haben.

Nicht immer wie aus dem Bilderbuch: Studieren in Oxford

Im Mittelpunkt steht der Erzähler James Stieff, der von großen Hoffnungen seiner Familie begleitet nach Oxford kommt. Dort muss er allerdings schon recht schnell feststellen, dass es in Oxford nie genügt, gut zu sein. Es geht immer darum, besser als die anderen zu sein. Ein Mensch, der sich diesem Druck nicht beugen will und durch seine Unangepasstheit fasziniert, das ist Mark. Reich, sexy, ein bisschen geheimnisumwittert – da ist es kein Wunder, dass auch James in den Dunstkreis von Mark gerät.

Freundschaften in Oxford

Zusammen mit weiteren Freunden beschließen sie, ein altes Haus im Besitz von Marks Familie zu bewohnen und dort eine WG zu gründen. Chronologisch nach Trimestern geordnet erzählt Alderman in der Folge von den Unternehmungen und Schwierigkeiten der Clique. Der besondere Schwerpunkt liegt dabei klar auf der Freundschaft von Mark und James, die komplex und kompliziert ist. Begehren, Abstoßung und Anziehung über das Ende von Oxford hinaus: als Leser ist man eng in die Freundschaft der beiden Männer eingebunden, die in ihrem Fortschreiten dann sogar etwas an Hanya Yanagiharas Ein wenig Leben erinnert.

DER Campusroman oder DER große literarische Wurf ist Die Lektionen nicht. Dazu ist die Sprache etwas zu gewöhnlich und auch die Figurenzeichnung generell etwas zu oberflächlich. Lediglich James und Mark bekommen so etwas wie Widersprüche und Tiefe verpasst, die restlichen Figuren bleiben Abziehbilder, die Handlung versumpft stellenweise, manchmal wirkt alles etwas bemüht oder unglaubwürdig.

Dennoch unterhält Aldermans zweiter Roman wirklich und ist zumindest partiell ein schöner (queerer) Campusroman, der sich dem Mythos Oxford auf lesenswerte Art und Weise nähert.

Wer Campusromane á la Evelyn Waughs Wiedersehen mit Brideshead oder Donna Tartts Eine geheime Geschichte mochte, der könnte auch hier zugreifen. Allerdings muss man dann eher bei Antiquariaten oder Wühltischen die Augen offen halten, denn das Buch ist im normalen Buchhandel nicht mehr lieferbar und nur noch aus zweiter Hand zu beziehen.

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Emanuel Maeß – Gelenke des Lichts

Wann hält man schon ein Buch in Händen, das ebenso leichtfüßig Friedrich Rückert wie den Flippers-Hit Lotosblume zitiert? Doch auch in anderer Hinsicht ist Emanuel Maeß‚ Debüt Gelenke des Lichts mehr als bemerkenswert.


In der deutschen Gegenwartsliteratur gibt es im Moment ein omnipräsentes Thema: die Aufarbeitung der (eigenen) Jugend. Wolfgang Herrndorf machte mit Erfolg vor, wie sich die Phase der Jugend in erfolgreiche Literatur verwandeln lässt. Zahlreiche Autor*innen folgten und bescherten dieser Textgattung eine große Blüte. Namen wie André Kubiczek, Christoph Hein, Bodo Kirchhoff, Julia Schoch oder Alexa Hennig von Lange wären hier zu nennen. Sie alle befassten sich in ihren letzten Werken mit der Jugend und teils autobiographischen Erinnerungen.

Ein überaus beliebtes Thema also, das sich jetzt auch Emanuel Maeß für sein Debüt ausgesucht hat. Dabei stellt sich natürlich die Fage – hat der Debütant etwas Neues oder noch nicht Dagewesenes zum Thema beizutragen? Und hier muss ich auf alle Fälle ein deutliches Ja äußern. Denn Emanuel Maeß gewinnt dem Thema der Jugend sowohl in inhaltlicher als auch in sprachlicher Hinsicht bemerkenswerte Facetten ab.

Eine Kindheit hinter dem Eisernen Vorhang, ein Studium im Westen

Dies beginnt damit, das Maeß seinen Bogen weiterspannt, als nur ein kurzes, wegweisendes Kapitel einer Adoleszenz zu schildern. Von Erinnerungen an frühe Badeurlaube an der Ostsee bis hin zum Studium an der englischen Universität Cambridge reicht der Erzählbogen, den Maeß aufbaut. Dabei lässt er seinen Protagonisten entlang der prägenden deutschen Wegscheide 89/90 aufwachsen. Die Kindheit hinter dem Eisernen Vorhang wird mit der Studienzeit in Heidelberg und Cambridge kontrastiert.

Emanue Maeß - Gelenke des Lichts (Wallstein)

Dabei kommt es im Laufe der knapp gehaltenen Erzählung (254 Seiten) zu bemerkenswerten Registerwechsel. So beschreibt Maeß die Kindheit im ostdeutschen Pfarrersheim kurz hinter der Mauer manchmal geradezu bukolisch und in der Romantik-Tradition eines Eichendorff. Maeß schildert eine autarke dörfliche Welt, die vom Weltgeschehen nahezu nicht tangiert wird. Die Uhren gehen hier sprichwörtlich anders, bestes Symbol hierfür ist die Kirchturmuhr, die noch per Hand aufgezogen wird. Sogar die Bildwelten eines Uwe Tellkamp liegen hier manchmal in greifbarer Nähe.

Als die Jugend dann in das Studium mündet, wandelt sich auch die Erzählung hin zu einem Campusroman. Die präzise Milieuschilderung der studentischen Welten und des Lebens auf dem Campus erinnern stark an Jonas Lüschers Kraft. Auch bei Maeß wird ein Mann zwischen studentischer Lehre und der Welt da draußen entzweigerissen. Doch eine allesverbindene Klammer gibt es, die alle Registerwechsel einhegt und moderiert. Das ist die Liebe zu Ihr – Angelika Schmidbauer. Verliebt sich der Protagonist im Badeurlaub und entbrennt in kindlicher Begeisterung, so trifft er die junge Frau immer wieder an entscheidenen Wegscheiden seines Lebens (man könnte diese Aufeinandertreffen im Sinne des Romans auch als Gelenkpunkte bezeichnen).

Die Liebe und die Sehnsucht zu ihr, die der Protagonist immer als „Du“ im Buch adressiert. Sie ist Leitstern, ob als Studentin oder als Tanzpartnerin beim Abschlussball, bei dem man sich zu den Flippers in den Armen liegt.

Dass ich Maeß diese Kindheitsepisoden, den Campusroman, das Wissenschaftliche und das Romantische, die Zerrissenheit zwischen den Gattungen und Zeiten so unkritisch abnahm, das hat auch einen weiteren Grund. Dieser ist in meinen Augen das wirklich Herausragende.

Die Sprachmacht des Emanuel Maeß

Denn bis hierhin könnte man ja einwenden – Campusroman, Kindheit in der DDR, alles schon dagewesen, die oben erwähnten Autor*innen haben diese Felder mit teils beachtlichen Resultaten ja bereits beackert. Was ist nun das Einzigartige, das diesen Roman von den anderen unterscheidet? Das ist auf alle Fälle die Sprache beziehungsweise die Sprachmacht, mit der Emanuel Maeß seine Geschichte erzählt und zusammenbindet.

Viel zu oft klingen Geschichten austauschbar. Autor*innen mit eigenem, unverkennbaren Sound gibt es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur kaum. Es herrscht eine Art Konsenssprache, mit der viel zu viele Geschichten erzählt werden. Einen eigenen Sound für die jeweilige Erzählung zu finden, diese Mühe machen sich viel zu wenig Schreibende. Auf Anhieb fiele mit da höchstens noch Feridun Zaimoglu und vielleicht Ursula Krechel ein (wem andere Beispiele in den Sinn kommen – in der Kommentarspalte freue ich mich über Ergänzungen).

Wie Sprache einen Roman bereichern kann, aus einer Erzählung etwas besonders machen kann – das lässt sich bei Gelenke des Lichts gut beobachten. Zunächst ist der Umfang von Maeß Vokabular äußerst beeindruckend. Vom hochwissenschaftlichen Studiumsinhalt bis zur DDR-Jugend – seine Sprache besticht durch eine hohe Originalität und Benennungsstärke. Er findet eingängige Formulierungen, wagt den ein oder anderen Schachtelsatz und entwickelt einen Sprachsog, der eine große Faszination ausübt. Nicht umsonst verliert sich der Protagonist in Wagners brausenden Musikwelten – was Maeß auf sprachlicher Ebene in ein ebensolches Brausen überführt. Da darf es dann auch schon einmal blauen oder glocken.

Zum anderen ist seine Prosa auch unglaublich dicht. Gelenke des Lichts ist voller Anspielungen und überführt die Herkunft des Protagonisten aus dem ostdeutschen Pfarrhaushalt in eine geistige und vergeistigte Prosa im besten Sinne. Besonders die Mahler’sche Vertonung von Rückerts Ich bin der Welt abhanden gekommen wird zu einer Art Leitmotiv mit vielgestaltigen Interpretationsmöglichkeit. Dass Maeß bei allen sprachlichen Überschlägen auch die ein oder andere Sprachgirlande zu viel webt, das sei dem Debütanten verziehen. Wann legen Newcomer schon einmal mit einem derart sprachlichen Verve los? Davon wünsche ich mir in der deutschen Gegenwartsliteratur wieder mehr. Und nicht zuletzt ist das Ganze auch oftmals wirklich witzig. Ebenfalls eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Literatur.

Ein Roman mit Wiederlese-Faktor

Zudem spreche ich für dieses Buch ein weiteres, höchst subjektives Lob aus: denn Gelenke des Lichts ist so dicht geschrieben, dass eine zweite Lektüre unbedingt anempfohlen ist. Oftmals bin ich froh, wenn ich ein Buch gelesen habe und die Geschichte hinter mir liegt. Hier würde ich keine Sekunde zögern, und mich wieder in die Maeß’schen Bildwelten zu versenken. Ein Buch mit höchster Wiederlesefreude. Nicht nur, aber auch deswegen mehr als gerne empfohlen.

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